Edna O’Brien: "Die kleinen roten Stühle"

Letztes Festmahl der irischen Grand Dame

Das Cover des Buches "Die kleinen roten Stühle" vor einer irischen Küstenlandschaft
"Die kleinen roten Stühle": Der neue Roman von Edna O'Brien ist nur dem Titel nach harmlos. © Steidl Verlag/unsplash.com
Von Carsten Hueck |
Der Titel ist vermeintlich harmlos. Doch was wie ein Märchen beginnt, entwickelt sich schnell zu einer Geschichte über Moral, Liebe, Migration und Kriegsverbrechen. Edna O'Briens international hochgelobter Roman ist nun auf Deutsch erschienen.
Die Irin Edna O’Brien ist sechsundachtzig Jahre alt. Sie debütierte als Schriftstellerin 1960 und legte vor fünf Jahren ihre Memoiren vor. Doch vor zwei Jahren dann erschien noch ein Roman, der nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt: "Die kleinen roten Stühle".
Der Titel klingt harmlos und angesichts des Alters der Autorin mag sich reflexhaft ein mitleidiges Lächeln auf den Lippen nichtsahnender Leser bilden. Wer Edna O’Brien aber kennt, wird nicht überrascht sein, dass der Grand Dame der irischen Literatur ein gewaltiger Wurf gelungen ist, von Kollegen wie Philip Roth und Joyce Carol Oates als Meisterwerk gefeiert, von der Autorin selbst bescheiden als "letztes Festmahl" bezeichnet.

Komponiert mit großer Könnerschaft

Die Geschichte spielt in Irland, in London und in Den Haag. Was wie ein Märchen beginnt, entwickelt sich schnell zu einem hoch aktuellen Roman über Moral, Liebe, Migration und Kriegsverbrechen, komponiert mit großer Könnerschaft und leidenschaftlich erzählt.
Eines Tages taucht in Cloonoila, einem kleinen irischen Provinzstädtchen, ein einsamer Mann auf. "Bärtig, in langem dunklen Mantel und weißen Handschuhen." Er ist gebildet, charmant, beeindruckt durch seine Umgangsformen und richtet eine Praxis ein, in der er als Heiler auf wundersame Weise diverse Leiden der Einwohnerschaft, vor allem der weiblichen, lindert. Schnell wird "Dr. Vladimir Dragan", der sich Vuk nennen lässt, zu einem akzeptierten Mitglied der Gemeinde. Er trinkt seinen Brandy im Pub, rezitiert eigene Gedichte, mit den Kindern spielt er Fußball und macht Ausflüge in den Wald.
Als sich die verheiratete, aber kinderlose Fidelma in ihn verliebt, kommen auch verstörende Seiten seines Wesens zum Vorschein. Es dauert nicht lange, da ist sie schwanger – und der Doktor wird als gesuchter Kriegsverbrecher verhaftet. Fidelma verliert das ungeborene Kind, ihr Mann verstößt sie.

Kein Zeichen von Reue

Im zweiten der drei Kapitel flieht sie in die Großstadt London. Schlägt sich mit Putzjobs durch, begegnet Menschen am Rande der Gesellschaft, die täglich ums Überleben kämpfen: Einwanderer, Flüchtlinge und Illegale aus aller Herren Länder. Fidelma erfährt von einer Welt der Unterdrückung, des Leids und der Gewalt, aber lernt auch Solidarität und den Überlebenswillen der Armen kennen.
Im dritten Kapitel reist sie zum Kriegsverbrecherprozess in Den Haag. Es kommt zu einer Wiederbegegnung mit ihrem ehemaligen Geliebten. Fidelma sucht ein Zeichen der Reue über seine im Bosnienkrieg verübten Taten – vergeblich.
Die kleinen roten Stühle, die dem Roman seinen Titel geben, wurden am zwanzigsten Jahrestag der Belagerung Sarajewos zur Erinnerung an die Einwohner der Stadt aufgestellt, die während der Belagerung umgekommen waren. Edna O’Brien erinnert in ihrem Roman auf eindringliche Weise daran, dass jeder Mensch eine Geschichte mit sich trägt. Dass er zwei Gesichter hat, Liebe und Schmerz geben kann, dass er anziehend und verletzend ist. Und dass manche Wunden niemals heilen.

Edna O’Brien: "Die kleinen roten Stühle"
Aus dem Englischen von Kathrin Razum und Nikolaus Stingl Steidl Verlag
336 Seiten, 24 Euro

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