Édouard Louis: „Die Freiheit einer Frau“

Der eiskalte Analytiker entdeckt die Empathie

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In seinem neuen Buch schlägt Édouard Louis leisere Töne an. © Deutschlandradio
Von Dirk Fuhrig |
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Édouard Louis provoziert. Ein Roman über seine Jugend im schwulenfeindlichen Arbeitermilieu machte ihn berühmt. Jetzt hat der 29-jährige französische Schriftsteller ein Buch über seine Mutter geschrieben, und das ist anders als seine bisherigen Texte.
Édouard Louis kann auch einfühlsam, nahezu liebevoll schreiben. In diesem kurzen Text über seine Mutter schlägt der Schriftsteller vergleichsweise sanfte Töne an. Das ist neu und überraschend, denn seine bisherigen Bücher und Artikel sind nicht zuletzt wegen seiner radikalen, anklagenden Sprache erfolgreich geworden. Ein in herausfordernder Weise kultivierter Revoluzzer-Gestus, der sich zunächst gegen fremden- und schwulenfeindlichen Provinzler-Geist, dann zunehmend gegen die bürgerliche Gesellschaft und gegen die so genannte herrschende Klasse im Allgemeinen richtete.

Eine traurige Frau aus dem Prekariat

Louis' neues Buch ist das Porträt einer Frau aus prekären Verhältnissen, die schon sehr früh sehr ungünstige Entscheidungen getroffen hat: den falschen Kerl, die falsche Ausbildung, die falsche Verhütungsmethode. Und so sitzt sie da mit mehreren Kindern, die sie finanziell kaum durchbringt, denn ihr Mann, ein menschlicher und beruflicher Versager, verdient kaum etwas, erst recht nicht nach einem Arbeitsunfall, der ihn nachhaltig beeinträchtigt.
Louis schildert die Traurigkeit seiner Mutter, die er immer nur schuftend, rauchend und gestresst erlebt hat. Sie hat ihren schwulen Sohn, der schon als kleiner Junge "anders" wirkte, nicht gegen die brutale Unterdrückung durch den Vater, den Rest der Familie und die Nachbarschaft in dem Unterschichten-Milieu des armen, ländlichen Nordfrankreichs in Schutz genommen.

Nach Paris, in die Freiheit

Irgendwann schafft sie es aber doch, sich aus ihrem elenden Leben zu befreien. Sie sperrt ihren Tyrannen aus, geht wieder mit Freunden aus, blüht auf, lernt sogar einen netten neuen Mann kennen, zieht aus dem trostlosen Kaff nach Paris und beginnt ein anderes, ein "freies" Leben, wie es der Buchtitel verheißt. Dank der Kontakte ihres mittlerweile arrivierten Sohnes lernt sie sogar ihre Ikone, die Schauspielerin Catherine Deneuve, kennen. Eine wundersame, fast schon romanhafte Metamorphose.
Cover des Buchs "Die Freiheit einer Frau" von Édouard Louis.
Literarisch eine Weiterentwicklung: "Die Freiheit einer Frau" ist ein kleines, stilles Buch mit viel Empathie.© Deutschlandradio / S. Fischer
Édouard Louis, Bourdieu- und Eribon-Schüler und Gelbwesten-Unterstützer, hat seine Texte stets in eine neomarxistische Theorie von der Gewalt der herrschenden gegen die unterdrückte Arbeiterklasse eingepasst. So auch hier: "Man hat mir gesagt, die Literatur dürfe niemals einem politischen Manifest ähneln, aber schon schärfe ich jeden Satz, als wäre er eine Messerklinge. Denn jetzt weiß ich es, sie haben das, was sie Literatur nennen, gegen solche Leben und solche Körper wie den ihren, wie den meiner Mutter konstruiert."

Champagner statt Klassenkampf

Die Pose des radikalen Antibürgers, der literarisches Schreiben vor allem als Mittel in der Auseinandersetzung um soziale Fragen sieht, bekommt jedoch Risse, als er seine Mutter in einen kulinarischen Tempel in Paris ausführt. Denn als sie sich zu Gänseleberpastete und Hummer ein Gläschen Champagner gönnt, dämmert ihm, dass auch die prekäre Schicht - die seine Mutter Monique symbolisiert - weniger vom Klassenkampf träumt, als von den verführerischen Annehmlichkeiten der gehobenen Bürgerlichkeit.
"Die Freiheit einer Frau" ist stilistisch zahmer als seine anderen thesenhaften und oft eindimensionalen Bücher. Selbst "Das Ende von Eddy", in dem er auf so drastische Weise sein schwieriges Coming-out beschrieben hatte, wirkte vergleichsweise streng und emotionslos.
"Die Freiheit einer Frau" ist Édouard Louis' erster mitfühlender, tatsächlich persönlicher Text. Es ist ein kleines, stilles Buch, in dem der Autor nicht nur eiskalt analysiert, sondern auch Empathie zeigt. Mit 96 Seiten ist es nur viel zu kurz, denn man möchte viel mehr über diese Frau und ihren steinigen Lebensweg erfahren.
Für Anhänger des kämpferischen Édouard Louis mag dieser Band eine Enttäuschung sein, unter literarischen Aspekten ist er womöglich eine Weiterentwicklung. Fortgeschrieben hat er sie schon in seinem gerade in Frankreich erschienenen Band "Changer: méthode", worin er seinen Aufstieg als "Klassenflüchtling" ausgiebig skizziert.

Édouard Louis: "Die Freiheit einer Frau"
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
96 Seiten, 17 Euro

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