Édouard Louis: "Wer hat meinen Vater umgebracht"
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019
77 Seiten, 16 Euro
Wider die soziale Kälte der Bourgeoisie
Der Schriftsteller Édouard Louis nimmt seinen Vater als Beispiel für eine Politik der Erniedrigung: Denn der wurde durch einen Unfall arbeitsunfähig und dann in diverse Maßnahmen gezwungen. Die Politik versuche, Menschen wie seinen Vater systematisch zu brechen, so Louis.
Édouard Louis hat ein klar definiertes Ziel: Er will, dass die französische Bourgeoisie die Bedürfnisse und Empfindungen der ins soziale Abseits gedrängten, verstummten Arbeiterklasse endlich wahrnimmt.
Das letzte Wort der 77 Seiten langen Anklageschrift gehört seinem noch lebenden, indes durch einen Arbeitsunfall versehrten Vater. Er fragt den Sohn, ob er noch immer Politik mache und als dieser bejaht, formuliert er die Hoffnung, es möge bald eine "ordentliche Revolution" geben.
Ein halbes Jahr nach der französischen Veröffentlichung des semi-literarischen Pamphlets begannen die "Gelbwesten" ihre landesweiten Proteste. Édouard Louis sieht sich bestätigt: "Die Bewegung", kommentierte er in der Presse, "zwingt die Bürgerlichen, ihre soziale Verachtung direkt auszudrücken. Ihre Klassengewalt, die sich sonst eher indirekt äußert und damit so viele Leben in meinem Umkreis zerstört hat, ja immer weiter zerstört."
Die Politik erniedrigte Louis' Vater
Mehrere Jahre lang hatten Louis’ Eltern keinen Kontakt zum Sohn. Seine Homosexualität empfanden sie als Beleidigung, und das Studium markierte für sie einen schändlichen Wechsel ins bürgerliche Lager.
Eine falsche Annahme, denn Louis denkt klassenkämpferisch. Hartnäckig verfolgt er die Idee, "sie", die die Misere der Landbevölkerung und die Härte der Sozialreformen leugnen, "zum Zuhören zu zwingen".
Nach einem feinfühligen poetischen Prolog schildert Louis das Wiedersehen mit dem an Atemnot leidenden, kaum mehr gehfähigen Vater. Er tut dies in Form eines inneren Monologs mit Worten, die sich direkt an den invaliden, früher die Mutter prügelnden Vater wenden: "Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat".
Als arbeitsunfähiger Sozialhilfeempfänger wurde der Vater 2009 durch eine Maßnahme gezwungen, in einer anderen Stadt für 700 Euro im Monat die Straßen zu fegen. Louis spricht das Urteil: "Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen."
Das Leben der Herrschenden bleibt unangetastet
Dass der Autor den Vater inzwischen primär als ein Opfer sieht, ermöglicht die Annäherung. Das Bemühen des Verlierers, so zu tun, "als hätte er sein eigenes Unglück unter Kontrolle", als habe er "dieses allzu harte Leben selbst gewollt", rührt Louis. Wenn er bruchstückhaft Erinnerungen evoziert, verzichtet er auf den pathetischen Grundton. Es gelingt ihm, mit wenigen Worten familiäre Konfrontationen und emotionale Abgründe glasklar zu beschreiben.
Literatur aber hat für Louis nun einmal einen Zweck zu erfüllen. Er nutzt sie als Mittel, "um Scham in der Welt zu verbreiten". Deshalb zögert er nicht, Personen, die soziale Leistungen kürzten, zu beschämen.
"Jacques Chirac und Xavier Bertrand machten deinen Darm kaputt. Hollande und El Khomir haben dir die Luft genommen. Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller. Die Geschichte deines Körpers ist die Geschichte dieser Namen."
Dass Politik das Leben der Herrschenden nicht oder kaum verändert, empört Édouard Louis zutiefst. Recht hat er. Aber sollte er soweit gehen, die Genannten mit Mördern zu vergleichen, "die nie für ihre Morde bekanntgeworden sind"?
Rache war erklärtermaßen der Impuls für das Verfassen der Anklageschrift. Der Élyséepalast versuchte der Attacke jeden Wind aus den Segeln zu nehmen und twitterte, der Autor sei, ohne es zu wissen, eigentlich ein "macroniste". Édouard Louis reagierte postwendend auf die Provokation.
Man wird sehen, ob Soziologie und Politik nicht die Felder sind, in denen er langfristig mehr bewegen kann als mit einer literarisierten Kampfansage wie dieser.