Edward Brooke-Hitching: Atlas der erfundenen Orte
dtv Verlag, München
256 Seiten, 30 Euro
Verwunschene Karten mit abenteuerlichen Geschichten
Seefahrer und Entdecker haben Fantasie: Sie dachten sich schon immer Inseln und ganze Gegenden aus, die dann auch auf Karten verzeichnet wurden. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot entdeckt in dem "Atlas der erfundenen Orte" des Briten Edward Brooke-Hitching auch Metaphern für die Gegenwart.
Atlantis, die Dämoneninsel, die Kong-Berge, das Maria-Theresia-Riff: Schon immer haben findige Seefahrer und erfolglose Entdecker kurzerhand Inseln erfunden und sich ganze Landstriche ausgedacht. Der Brite Edward Brooke-Hitching sammelt leidenschaftlich solche falschen See- und Landkarten und hat sie als "Atlas der erfundenen Orte" veröffentlicht. Ein großartiges Buch, um vom Sofa aus auf Abenteuerreise zu gehen, meint Ulrike Guérot. Und um zu verstehen, warum Europa ein Ganzes bildet.
Es sind verwunschene Karten, teilweise sehr verschroben, auf denen Orte der Fantasie eingezeichnet sind. Sie sind bevölkert von Seeungeheuern und Kannibalen. Um sie ranken sich Geschichten von Menschenopfern, Polygamie, Kindesmord, Grausamkeiten aller Art. Manch ein Irrtum und manche Erfindung hielt sich über Jahrhunderte.
Erfindungen von großer Haltbarkeit
Denn waren die erdachten Orte erst einmal auf Landkarten vermerkt, dann waren sie auch in der Welt. Und wenn sogar die britische Royal Geographical Society eine Insel offiziell übernommen und in den königlichen Karten vermerkt hatte, wagte kaum ein Kapitän noch zu sagen: Ich war mit meine Schiff dort – und es gibt diese Insel nicht.
Das Buch ist in kurze Abschnitte unterteilt, jeder oft nur drei bis fünf Seiten lang, mit kurzen, knackig zu lesenden Geschichten. Der "Atlas der erfundenen Orte" habe alles, was man braucht, um vom Sofa aus eine innere Abenteuerreise zu machen, lobt Ulrike Guérot in der "Lesart".
Unser Kontinent als Frau namens "Europa"
Zudem helfe das Buch, sich klar zu machen, in welcher Welt wir heute lebten. Denn die mittelalterlichen Karten von Europa zeigten den Kontinent als Körper: als eine Frau namens "Europa". Die Iberische Halbinsel bildet den Kopf, das heutige Frankreich die Brust, Deutschland das Herz, und der Balkan, auch Bulgarien, Griechenland, Ukraine sind das wallende Kleid der Europa. Und die Donau fließt als Aorta, als Lebensader Europas.
"So", betont Ulrike Guérot, "würde ich auch heute Europa wieder zeichnen. Diese Karten von Europa zeigen uns: Europa ist ganz, es ist schön, und es ist eine Körperlichkeit."
Die Politikwissenschaftlerin sieht darin eine Metapher auch für die Gegenwart. Der Brexit etwa bedeute auf diesen alten Karten, Europas linken Arm zu amputieren. "Wenn wir den Brexit heute so diskutieren würden, dann wäre jedem klar, welchen Unfug wir da tun: Wir machen die schöne Europa kaputt – und der Arm stirbt sowieso. Deshalb würde ich heute Europa wieder als Frau zeichnen: Damit wir wieder einen Aspekt bekommen von der Körperlichkeit und der Ganzheit Europas."