Egoismus

Appelle an den Gemeinschaftssinn helfen nicht!

Zwei Personen stehen im Regen, eine Frau unter einem Regenschirm, ein Mann davor ohne Regenschirm
Wir kümmern uns umeinander: Das sagen in Deutschland nun viel weniger Menschen als von zwei Jahren. Was steckt dahinter? © Getty Images / fStop / Malte Müller
Überlegungen von Laura-Kristine Krause |
In der Krise rücken wir zusammen - oder das Gegenteil tritt ein: Jeder kämpft für sich selbst. Angesichts der drohenden Wirtschaftskrise sieht die Sozialforscherin Laura-Kristine Krause eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt.
Das erste Pandemiejahr 2020 war in Deutschland von einem Gefühl von „wir schaffen das“ und Zusammenhaltsbekundungen geprägt.
In Hausfluren hingen Zettel, auf denen jüngere Hausbewohner anboten, für ihre älteren Nachbarn einzukaufen, damit diese sich nicht im Supermarkt dem Risiko einer Corona-Infektion aussetzen mussten. Während des ersten Lockdowns trafen sich Hausgemeinschaften zum gemeinsamen Musizieren – jeder auf seinem Balkon.
Fast die Hälfte der Menschen sagte bei Befragungen im Sommer 2020, in Deutschland „kümmern wir uns umeinander“. Und heute? Nach über zwei Jahren Pandemie sagt das nur noch ein Viertel. Drei Viertel dagegen sind davon überzeugt, dass in der Gesellschaft der Egoismus vorherrscht.

Zwei Gruppen sehen Egoismus am stärksten

Dieses Gefühl ist nicht in allen Teilen der Bevölkerung gleichermaßen verbreitet. Sechs gesellschaftliche Wertemilieus haben wir 2019 in unserer Forschung identifiziert und nach ihrem vorherrschenden Gefühl der Gesellschaft gegenüber benannt: die Offenen, die Involvierten, die Etablierten, die Pragmatischen, die Enttäuschten und die Wütenden. Auch in der Pandemie zeigen sich ihre Unterschiede.
Am meisten vom Egoismus der Menschen überzeugt sind die Enttäuschten und Wütenden, zwei Gruppen, die eigentlich sehr unterschiedlich sind.
Die Wütenden haben großes Misstrauen in gesellschaftliche Eliten und wünschen sich ein patriotischeres Deutschland. Den Enttäuschten ist eine gerechte Gesellschaft wichtig, die sie aber in ihrem Alltag, häufig auch in sozialen Berufen, so nicht erleben.
In diesen beiden Gruppen glauben mehr als 90 Prozent daran, dass die Gesellschaft egoistisch ist. Es sind aber umgekehrt auch die Enttäuschten und Wütenden, die selbst den größten Egoismus an den Tag legen – zumindest, wenn man sie nach ihrer Einstellung befragt: So sagen etwa drei Viertel, sie fühlten sich bei ihren Entscheidungen vor allem sich selbst und ihrem näheren Umfeld verpflichtet und nicht der Gesellschaft.

„Solidaritätsentzug“ ist eine Reaktion

Sind diese Menschen nun einfach besonders egoistisch und gehen deshalb automatisch davon aus, dass auch die Gesellschaft insgesamt egoistisch ist? Unsere Forschung legt einen anderen Zusammenhang nahe:
Denn gerade die Menschen, die vom Egoismus als herrschendem Prinzip überzeugt sind, fühlen sich selbst überdurchschnittlich häufig einsam, hoffnungslos, als Verlierer von Veränderungen und von der Gesellschaft im Stich gelassen – und reagieren darauf ihrerseits mit einem „Solidaritätsentzug“.

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Das sollte uns nachdenklich machen, denn mit steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen werden viele Menschen wirtschaftlich noch mehr unter Druck kommen und noch mehr Distanz zur Gesellschaft entwickeln.

Soziale Spaltung als Grundproblem

Denn schon seit Längerem stellen wir fest, dass viele Menschen unsere Gesellschaft als ungerecht erleben. 71 Prozent sagen in einer von uns Anfang des Jahres durchgeführten Erhebung, dass das System zugunsten der Wohlhabenden und Einflussreichen verzerrt sei. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland ist das eine schlechte Nachricht.
Hehre Appelle an Solidarität und „Gemeinschaftssinn“ drohen in dieser Gemengelage ungehört zu verhallen oder mit Zynismus quittiert zu werden. Möchte man die Menschen ansprechen, die sich von der Gesellschaft abgewandt haben, ist es erfolgversprechender, an ihre persönliche Lebensrealität und ihr tatsächliches Empfinden in der Gesellschaft anzuknüpfen.
Thematisiert man beispielsweise direkt und offen den wahrgenommenen Egoismus im Land, kann dies die Tür zu konstruktiven Gesprächen darüber öffnen, wie die Gesellschaft eigentlich funktionieren sollte. In der jetzigen Situation wird noch mehr als sonst gelten: Den Zusammenhalt kann man nicht predigen, die Menschen müssen ihn erleben.

Laura-Kristine Krause ist Gründungsgeschäftsführerin von More in Common Deutschland, einer Initiative für gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA. Sie studierte Staats- und Politikwissenschaften in Passau, Berlin und Seattle und ist Mitautorin zahlreicher Studien zum Zustand der deutschen Gesellschaft.

Eine junge Frau mit halblangen Haaren lächelt in die Kamera.
© Paula Faraco
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