Haben wir es mit dem Tanz um das Goldene Kalb Individualität nicht etwas übertrieben? Das fragt sich der Autor Uwe Bork und plädiert dafür, von Afrika Gemeinsinn zu lernen: "Ich bin, weil wir sind" scheine dort gesellschaftliches Leitmotiv zu sein.
Der Philosoph René Descartes scheint ein erfülltes Leben geführt zu haben. In seiner Jugend war er Ausschweifungen durchaus nicht abgeneigt, später überstand er glücklich ein Duell und obwohl er seine Vormittage gern im Bett verbrachte, erwarb er sich einen Ruf als intellektueller Influencer der besseren Pariser Gesellschaft des frühen 17. Jahrhunderts.
Ein großzügiges Erbe ermöglichte es ihm, ohne materielle Sorgen über Gott und die Welt nachzudenken, offensichtlich mit Erfolg. Bis heute jedenfalls beeinflusst seine Philosophie unsere Gesellschaft.
Descartes – Vordenker der Individualisierung
So findet sich sein bekanntes Credo „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ – nach wie vor als Powerpack im politischen Proviant namentlich vieler Liberaler.
Stärkt Descartes mit diesem Satz doch das Individuum, indem er es auffordert, auf sich selbst zu vertrauen und nicht unbesehen zu glauben, was andere als Wahrheit verbreiten. Jeder Einzelne, so sagt er, kann dieser vorgeblichen Wahrheit auf der Basis seines eigenen Denkens widersprechen, eine Idee, die bei Päpsten und Potentaten jeglicher Couleur verständlicherweise noch nie gut ankam.
Mit heutigen Augen gesehen ist Descartes' Lehrsatz eine klare Absage an jeden Totalitarismus, leider nicht aber auch gleichzeitig eine Ansage an eine Gesellschaft als gemeinsames Projekt. Dafür hatte Descartes zu sehr das Ich und zu wenig das Wir im Blick.
Jeder ist sich selbst der Nächste
Wenn jeder an sich selbst denkt, ist in der Tat zwar an alle gedacht, andererseits besitzt diese Rechtfertigung aller Egoisten eine schmerzhafte Kehrseite: Wenn keiner an den anderen denkt, ist für niemanden gesorgt. Ins Leben zieht damit eine soziale Kälte ein, die nicht nur notorische Warmduscher frösteln macht.
Jeder ist sich selbst der Nächste. Als Grundidee einer Gesellschaft ist dieser Satz absolut ungeeignet. Der unbedingte Blick auf den eigenen Vorteil bringt ihre Grundpfeiler zum Einsturz, ihr Tragwerk aus Rücksicht und Solidarität.
Keines der Probleme, vor die wir uns gerade gestellt sehen, kann der Einzelne allein lösen, nichts davon wird allein der Markt regeln. Trotzdem fehlt es an einer gemeinsamen Anstrengung, die Zukunft zu gestalten.
Die Frage, wie viel Eigennutz der Gemeinnutz verträgt, beschäftigt vor diesem Hintergrund längst nicht mehr nur wenige Denker. Angesichts der Gefahr, dass den westlichen Gesellschaften ihre Demokratie demnächst um die Ohren fliegt, sollten wir uns die Frage stellen, ob wir es mit unserem Tanz um das Goldene Kalb der Individualität nicht etwas übertrieben haben: stets unsere Rechte im Blick, aber viel seltener unsere Pflichten.
Das Modell eines nur seinen eigenen Wünschen folgenden Individuums ist eindeutig ein Auslaufmodell. Wir sind mit ihm in einer Sackgasse gelandet.
Auf die Kraft der Kollektive setzen
Vielleicht sollten wir angesichts der Wand, vor der wir nun stehen, einmal von Afrika lernen. Scheinen Afrikaner doch sehr viel stärker in Begriffen von Gruppen und Gemeinschaften zu denken als wir aufgeklärten Europäer.
Der Name dafür ist „Ubuntu“, auf Zulu etwa „Menschlichkeit“. Statt „Ich denke, also bin ich“ heißt die afrikanische Alternative „Ich bin, weil wir sind“. Betont wird die Kooperation, nicht die Konfrontation.
Auf die Kraft der Kollektive zu setzen, das klingt zunächst wie ein Rückfall in die Zeit vor der Aufklärung, wie ein Abgesang auf ihre Früchte, Früchte der Freiheit und der Selbstbestimmung. Beide verkehren sich allerdings in ihr Gegenteil, wenn sie nur einzelnen oder wenigen zugutekommen. Selbstbestimmung wird dann zur Abhängigkeit, Freiheit zur Unfreiheit.
Und die wollte Descartes nun gerade nicht. Ganz gewiss nicht.
Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Soziologie, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Verfassungsgeschichte, Pädagogik und Publizistik. Bis Ende 2016 leitete er die Fernsehredaktion „Religion, Kirche und Gesellschaft“ des SWR. Für seine Arbeiten wurde er mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Uwe Bork arbeitet als Autor, Referent und freier Journalist.