Ehe, Familie, Kontroverse

Von Philipp Gessler |
Nichts hat in der evangelischen Kirche zuletzt so viel Ärger provoziert wie die Orientierungshilfe zur Familie. Kritiker sagen: Das Leitbild der bürgerlichen Ehe wird darin relativiert. Auch bei der EKD-Synode in Düsseldorf sorgte das umstrittene Papier nun für Diskussionen.
Nichts hat in der evangelischen Kirche zuletzt so viel Ärger provoziert wie die Orientierungshilfe zur Familie. Kritiker sagen: Das Leitbild der bürgerlichen Ehe wird darin relativiert. Auch bei der EKD-Synode in Düsseldorf war das umstrittene Papier Thema.

"Herr, höre unser Gebet. Erbarme Dich!"

Eigentlich konnte nichts schief gehen – denn die göttliche Hilfe wurden ja gleich am Anfang beim Eröffnungsgottesdienst der EKD-Synode in Düsseldorf so schön erbeten.

"Wir bitten Dich für die Teilnehmenden der Synode, die Verantwortung übernommen haben und sich Aufgaben aufbürden und nach Wegen suchen, Deinem Auftrag gerecht zu werden. Wir bitten Dich um evangelische Kontroversen, nicht, dass alles schonend und harmonisch verlaufe, sondern dass Schalom werde, rundum Gutes, Ganzes und Tragendes. Darum bitten wir, Herr, höre unser Gebet."

Evangelische Kontroversen? Tja, der liebe Gott hat das alles offenbar sehr wörtlich genommen. Denn bei der am Mittwoch zu Ende gegangenen Tagung des Kirchenparlaments in Düsseldorf war dann relativ wenig Schalom, also Frieden, dafür viel Kontroverse, evangelische natürlich. Die heftigste Kontroverse – oder sagen wir genauer: den größten Knatsch gab es bei der Wahl der Vorsitzenden des Kirchenparlaments, der Präses. Kein Wunder, denn das ist, neben dem Ratsvorsitz der EKD, das höchste Amt, das in der Evangelischen Kirche hierzulande zu vergeben ist.

Hier blockierten sich am Eröffnungsabend der CSU-Politiker und langjährige Vizepräses Günther Beckstein, der das höchste Präsesamt anstrebte – und die frühere Bremer Kirchenpräsidentin Brigitte Boehme, seine überraschende Gegenkandidatin. Beide erhielten stundenlang unter den Synodalen nicht die nötige Mehrheit von 64 Stimmen. Die Not, die Peinlichkeit und das sich langsam ausbreitende Chaos waren so groß, dass ein Synodaler des Kirchenparlaments dazu anriet, etwas aus dem Evangelischen Gesangbuch zu singen – und zwar, mit einem Schuss Sarkasmus, das Lied vom Nothelfer.

Irmgard Schwätzer ist jetzt Vorsitzende des Kirchenparlaments
Das half dann so ein bisschen. Denn am Ende traten sowohl Günther Beckstein wie auch Brigitte Boehme von ihrer Kandidatur zurück – aber der Vorsitzende des Nominierungsausschusses musste verkünden:

"Die Ergebnisse der beiden Wahlgänge haben den Nominierungsausschuss in eine Rat- und Hilflosigkeit versetzt."

Einstimmig schlug der Nominierungsausschuss schließlich die frühere Bundesbauministerin und FDP-Generalsekretärin Irmgard Schwätzer, Schwester Schwätzer genannt, zur Wahl vor. Und es gab noch einmal ein kleines Problem, wie der Vizepräses Klaus Eberl entsetzt feststellen musste:

"Was heißt, der Stimmzettel ist falsch? Es tut mir außerordentlich leid, dass wir noch nicht den 11.11. haben, sonst hätte ich dazu einige passenden Kommentare gemacht."

Schließlich wurden neue, richtige Wahlzettel gedruckt und ausgegeben – und gegen 23 Uhr konnten die ermüdeten Synodalen am Sonntagabend endlich dann doch eine Präses wählen. Es war mit deutlicher Mehrheit von 91 Stimmen von 126 Synodalen: Irmgard Schwätzer.

"Liebe Schwestern und Brüder, der Weg war weit jetzt hier hoch. Aber so viel Zeit musste sein. Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen für das Vertrauen. Ich hoffe, dass ich es erfüllen kann – und ich nehme die Wahl sehr gerne an. Vielen Dank. Gute Zusammenarbeit."

Die Pannen und die Mühen der Präses-Wahl waren sicherlich nicht geplant – aber sie verdeckten dann doch eine innerkirchliche "evangelische Kontroverse", nämlich die über das so genannte Familienpapier der EKD. Dies belastete nicht zuletzt schon länger die Beziehungen zur katholischen Kirche in Deutschland, wie der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück, offen sagte. Er sprach dies in einem Grußwort gleich zu Beginn der Synode offen aus:

"Es gab bei uns Irritationen im Zusammenhang mit der Orientierungshilfe zur familienpolitischen Debatte – aber wie ich feststelle ja nicht nur bei uns."

Tatsächlich hat das im Juni vom Rat der EKD veröffentlichte Dokument für so viel und so anhaltenden Streit in der EKD, aber auch großen Teil der Gesellschaft gesorgt wie kaum ein anderes Dokument der Evangelischen Kirche in den vergangenen Jahren. Die Kernfrage dabei war: Wird darin die bürgerliche Ehe als Leitbild relativiert – gar abgewertet im Vergleich zu anderen, etwa homosexuellen Partnerschaften? Die nämlich werden in dem Papier zweifellos aufgewertet, wenn in ihnen Verlässlichkeit und Sorge um den Partner herrschen.

Nikolaus Schneider räumt Schwächen des Papiers ein
Um die große Empörung über das Papier in Teilen des Kirchenvolks etwas zu besänftigen und die Diskussion "zu versachlichen", wie es hieß, hatte die EKD schon Ende September in Berlin eine wissenschaftliche Tagung zum "Familienpapier" veranstaltet. Dabei stritten drei Professoren und eine Professorin der Theologie um das Papier.

Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider nahm Gedanken dieser professoralen Tagung auf. Zunächst setzte er sich mit der Kritik an der Haltung des Papiers zur Homosexualität auseinander. Wohl auch um der Empörung der kritischen Synodalen über das "Familienpapier" den Wind aus dem Segel zu nehmen, räumte er Schwächen des Papiers ein:

"Während des Symposiums wurde mir deutlich, dass die Orientierungshilfe in einigen Teilen unsere eigene Verkündigung, zum Beispiel Gottes Segen für gleichgeschlechtlich liebende Menschen, im Verhältnis zur Bibel zu pauschal reflektiert hat."

Zugleich verteidigte Schneider jedoch die Aufwertung homosexueller Partnerschaften in dem Familienpapier – auch gegen den biblischen Befund:

"In der Bibel lesen wir, dass homosexuelle Praktiken verurteilt werden. Wir lesen aber zugleich: 'Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.' Eine pauschale Verurteilung homosexueller Beziehungen widerspricht dem Geist dieser Liebe, die in Jesus Christus zur Welt gekommen ist und an der wir unsere Beziehungen orientieren. Deshalb würdigen wir in der Orientierungshilfe gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen, obwohl es dafür keine direkten Schriftbezüge gibt."

Ähnlich argumentierte Schneider gegenüber der Kritik, die Orientierungshilfe werte das Leitbild der heterosexuellen Ehe ab – der EKD-Ratsvorsitzende räumte ein, dass das Papier hier ein paar Schwächen habe:

"Und auch die christliche Begründung der Institution Ehe muss sich gegenüber dem Kriterium des geoffenbarten Wortes Gottes, Jesus Christus, als tauglich erweisen. Es trifft zu, dass die Orientierungshilfe dies nicht ausreichend reflektiert hat."

Dann lobte Schneider die heterosexuelle Ehe über den grünen Klee – um die Kritik zu entkräften, diese traditionelle Form der Partnerschaft werde in dem Papier abgewertet.

"Für diese auf Liebe, Verantwortung, Sorge und lebenslange Treue ausgerichtete Haltung ist die Ehe und ist die auf ihr aufbauende Familie eine besonders taugliche und bewährte Lebensform. Wir betonen als evangelische Kirche die Wertschätzung der Ehe zwischen Mann und Frau, wir machen Mut und Lust zur lebenslangen Ehe, und wir verstehen sie als Leitbild."

Ein zusätzlichlicher Text soll die Ehe würdigen
Wohlgemerkt: Nikolaus Schneider nahm am Ende kein Komma aus der Orientierungshilfe zurück. Aber versprach, dass sie ergänzt würde – um ein Papier, das besonders die Ehe noch einmal würdigt:

"Viele Menschen unserer Kirche haben durch die Orientierungshilfe eine Wertschätzung erfahren, die sie bisher vermissten. Die theologische Debatte muss aber weitergehen. Deshalb hat der Rat der EKD die Kammer für Theologie gebeten, die oben genannten theologisch-hermeneutischen Grundfragen aufzunehmen und einen Text zum evangelischen Verständnis der Ehe zu erarbeiten."

Aber würde das reichen? Würden sich die Kritikerinnen und Kritiker des "Familienpapiers" unter den Synodalen mit diesen Erklärungen des Ratsvorsitzenden zufrieden geben? Das war offenbar nicht der Fall. Zwar hielten sich die Wortmeldungen für – und gegen das Familienpapier in etwa die Waage. Doch die Kritik an dem Papier blieb auch nach dessen Verteidigung durch Nikolaus Schneider bestehen. So sagte beispielsweise dieser Synodale:

"Bei vielen Menschen in meiner Kirche, die nicht nur aus dem Pietismus kamen, sondern eher der bürgerlichen Mitte zugehören, hat die Orientierungshilfe der EKD zur Desorientierung geführt. Gerade in Fragen der Ehe, des Zusammenlebens hätten sie Orientierung erwartet. Sie fühlen sich enttäuscht von der EKD. Sie hätten theologisch mehr erwartet. Diese Diskussionen führen zu einem Vertrauensverlust, der bedauerlich ist."

Ähnlich argumentierte eine andere Kirchenparlamentarierin:

"Ich finde, dass die Orientierungshilfe nicht nur viele Menschen orientiert hat oder Menschen wert geschätzt hat, sie hat auch viele evangelische Christen desorientiert. Ich finde, dass sie viele meiner Gemeindeglieder vielleicht meiner Landeskirche, aber auch weit darüber hinaus verunsichert oder gar enttäuscht hat, ganz zu schweigen von einer, wie ich finde, verheerenden öffentlichen Wirkung."

Deutlich wurde bei der Diskussion, dass es vielen Kritikerinnen und Kritikern des "Familienpapiers" vor allem darum ging, weiterhin die Ehe als Leitbild oder Fixstern der christlichen Ethik gewürdigt zu sehen. Ein Delegierter sagte, er würde seiner Tochter die Ehe empfehlen, denn:

"Wir sind Christen. Wir wollen, dass geheiratet wird. Die Ehe ist etwas Besonderes."

Am Ende, so schien es auf der Synode, blieb der große Showdown zwischen den Unterstützern und Gegners des "Familienpapiers" aus. Lag es am ruhigen Symposium der Professoren zum Papier im Vorfeld der Synode? An der Ermattung durch die mühsame Präses-Wahl? An der klugen Eingangsrede des Ratsvorsitzenden? Oder gar an dem Nothelfer, der angerufen wurde – und zumindest diese Not der EKD nahm?
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