Irland widerlegt die Klischees über sich selbst
Die alten Autoritäten in Irland sind blutleer und fadenscheinig geworden. Beim Referendum über die Ehe für Homosexuelle haben die Iren und Irinnen der bunten Lebenswirklichkeit großzügigen Respekt gezollt, meint Martin Alioth.
"Oscar Wilde lächelt im Grab" frohlockte der englische Schauspieler Stephen Fry. Der Ire Wilde war ob seiner Homosexualität einst geächtet und ruiniert worden. Und nun hat ausgerechnet Irland gewagt, die Gleichstellung der homosexuellen Ehe einer Volksabstimmung zu unterwerfen? Das ist beispiellos. Irland als Leuchtturm für die Emanzipation der Schwulen und der Lesben: Das geht noch nicht leicht von der Zunge.
Es ist noch keine 25 Jahre her – ein Augenblick also in den langen Wellen gesellschaftlicher Normen und Vorurteile –, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Irland bloßstellte: Die Kriminalisierung der Homosexualität verstoße gegen elementare Menschenrechte. Bis dahin verleugneten Schwule und Lesben ihre Sexualität oder sie wanderten aus: Ihre Heimat hatte keinen Platz für Andersartige. Die Katholische Kirche setzte mithilfe ihrer staatlichen Komplizen durch, dass jeder und jede, die von der kanonisch vorgeschriebenen Form abwichen, unterdrückt, eingesperrt oder ins Exil gedrängt wurden.
Allein, diese Schablonen sind blutlos und fadenscheinig geworden. Es half natürlich, dass die moralische Autorität der Kirche im Verlaufe der letzten 20 Jahre unaufhaltsam zu Staub zerfiel: Nicht genug damit, dass sie Kinderschänder in ihren Reihen duldete, nein, sie beschützte sie sogar. Und so zerbrach das Idealbild von Ehe und Familie, das in der irischen Verfassung von 1937 ausdrücklich gepriesen wird, an der bunten Vielfalt der Lebenswirklichkeit.
Sobald das Kartell von Kirche und Staat gescheiterte Ehen und die gleichgeschlechtliche Liebe nicht mehr tabuisieren konnte, begannen die Iren zu reden. In den letzten Wochen erzählten sie sich hingebungs- und respektvoll ihre Lebensgeschichten. Das Land hörte zu. Brüder, Töchter, Neffen und Tanten konnten den Sachverhalt bestätigen.
Keine zwei Stunden, nachdem die Wahlurnen geöffnet worden waren, strich der größte Buchmacher Irlands die Segel: Obwohl noch kein einziges Teilergebnis vorlag, zahlte das Wettbüro Paddy Power alle jene aus, die auf die Gleichstellung der homosexuellen Ehe gesetzt hatten. Das Ausmaß der Zustimmung ließ keine Zweifel am Endresultat mehr zu.
Fürsorglichkeit und Einfühlungsvermögen
Iren und Irinnen neigen dazu, ihr Gesellschaftsbild aus den praktischen Erfahrungen ihrer Freunde und ihrer Familie zusammenzusetzen; für abstrakte Konzepte bringen sie dagegen weniger Geduld oder Verständnis auf. Das ist nichts Neues − neu ist, dass sie es gewagt haben, diese Fürsorglichkeit und dieses Einfühlungsvermögen an der Urne auszudrücken.
Mit Gläubigkeit oder gar Frömmigkeit hat das alles wenig zu tun, wohl aber mit dem Mut zu eigenen Werten. Die Katholische Kirche hat, für den Moment zum mindesten, ihre Übersetzerrolle eingebüßt; nun muss jeder selber denken.
Irland hatte in den letzten Jahren nicht viel zu lachen. Nicht nur, weil der Niedergang der Kirche für viele durchaus auch ein traumatisches Erlebnis war, sondern auch auf einer praktischen Ebene: harte Sparmaßnahmen des Staates, Steuererhöhungen, Arbeitslosigkeit, Emigration. Inzwischen scheint das Schlimmste überstanden, der Wirtschaft geht es wieder besser.
Die Jahre der Entbehrung haben wohl auch das Zusammengehörigkeitsgefühl wieder gestärkt, das in den wilden Jahren des Wirtschaftswunders dem Konsumrausch und der Anonymität gewichen war. Das heutige Ergebnis ist daher wohl mehr als eine großzügige Geste an eine Minderheit. Es ist auch der Wunsch, die irische Gesellschaft neu zu definieren.