"Lost Place" Vogelsang in Brandenburg
Ein Wandrelief in der einstigen Sowjet-Kaserne Vogelsang zeigt einen Schützenpanzer. Das Relief soll auch in Zukunft bleiben, andere Teile der Kaserne werden abgetragen. Das Areal soll entsiegelt werden. © Wolf-Sören Treusch
Von der Sowjetkaserne zur Geisterstadt
10:48 Minuten
Die Sowjetarmee hat einst acht Prozent der Fläche Brandenburgs für militärische Zwecke genutzt. Mitten im uckermärkischen Wald lag die Kaserne Vogelsang. Heute ist sie ein verlassener Ort, den die Natur übernimmt. Ein Fan bedauert das.
Golden, gelb und braun leuchtet das Laub in der Herbstsonne von Vogelsang, einem kleinen Dorf nördlich von Berlin. Bis 1994 war hier im Wald eine der größten Sowjet-Garnisonen außerhalb der Sowjetunion: der Stützpunkt der 25. Panzerdivision der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Heute unvorstellbar.
„Es haben, glaube ich, 15.000 Leute zu Hochzeiten hier gewohnt", erzählt Selim Baykara. "Das fand ich krass, dass du hier wirklich eine Stadt hast, mitten im Wald, die einfach rumsteht, wo einfach nix ist.“
Im Inneren eines Bunkers
Ihn fasziniere der Ort, weil hier Geschichte lebendig werde, sagt Baykara. Er lebt in Berlin, betreibt einen Reiseblog und ist schon das zweite Mal hier. Minutenlang stapfen wir durch hüfthohe Brennnesseln, dann entdeckt er, was er sucht: den Eingang in eine Art Bunker.
Im Entengang bewegen wir uns durch einen winzigen Tunnel ins Innere der Anlage. Nach wenigen Metern gibt das Licht unserer Kopflampen den Blick frei auf eine schmucklose Halle. An der gewölbten Decke verlaufen dicke Rippen aus Stein.
Selim ist überzeugt: Hier waren einmal Atomraketen gelagert. „Ich weiß natürlich nicht, wie groß so so eine Rakete gewesen ist. Aber das sah für mich zumindest so ein bisschen danach aus.“
Die Baulichkeiten jedenfalls lassen der Phantasie freien Lauf. „Früher sind wir ja mit dem Zug von Oranienburg nach Vogelsang", erinnert er sich, "und dann durch den Wald zu Oma, und da war viel Militär.“
Hobbyforschung zum "Lost Place"
Auch Mario Hoffmann lebt in Berlin. Die sowjetischen Streitkräfte in Vogelsang gehörten für ihn zum Alltag in den Schulferien. „Wenn du Pilze oder Beeren sammeln warst, dann sind die über die Wälder geballert, mit Hubschraubern, mit den MiGs oder Jets", erzählt er seine Kindheitserinnerung; "das war aber eigentlich nicht besonders.“
Seit nunmehr zwei Jahrzehnten bemüht sich der Hobbyhistoriker, die Geschichte des Militärstandortes Vogelsang aufzuarbeiten. Die Regale zuhause sind voll mit Aktenordnern.
Zusammen mit ein paar Mitstreitern hat er die wichtigsten der ehemals gut 500 Gebäude vermessen und kartographiert. Auch die beiden Bogendeckungen, die gemeinhin als Bunker bezeichnet werden.
Atomraketenlager oder nicht?
Mario Hoffmann bezweifelt allerdings, dass die Sowjets dort Atomraketen lagerten: „Jeder Gefechtskopf braucht ein Lagerregime", sagt er. Das fange an mit ganz einfachen Dingen: "Kranbahnen, Rampen – du kannst so einen Kopf nicht durch die Gegend tragen; Gleisanschlüsse, Luft, Klima in den Objekten. Diese beiden Bodendeckungen geben so viel nicht her."
Etwas Entscheidendes fehle, fährt er fort: "Ganz einfach: ein Klo. Ein Lager hat ein Klo. Warum? Weil ständig Leute da sind. Die Dinger haben kein Klo. Heißt im Umkehrschluss: Da ist nicht ständig jemand, also lagere ich da auch nicht etwas. Weil: alles, was ich lagere, muss ich auch betreuen, muss ich versorgen, muss ich bewegen.“
Seine Theorie: Die beiden Bogendeckungen dienten dazu, für den Ernstfall vorbereitet zu sein, Raketen mit nuklearen Gefechtsköpfen auszustatten. In einer kurzen Phase Ende der 1950er-Jahre sei das gewesen, aber durchgeführt worden sei das glücklicherweise nie.
Von der Garnisons- zur Geisterstadt
Die Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland nutzte allein in Brandenburg acht Prozent der Landesfläche für militärische Zwecke – 100.000 Hektar.
Nach dem endgültigen Abzug der Soldaten und Offiziere 1994 mutierte die Garnison Vogelsang immer mehr zu einer Geisterstadt im Wald. Und damit zu einem Hotspot für diejenigen, die sich auf die Suche nach so genannten Lost Places begeben, verlassene Orte also. Der Besuch ist auch deshalb attraktiv, weil ihrem Besuch der Kitzel des Verbotenen anhaftet.
Der Lkw, der beharrlich Schutt aus dem Wald fährt, unterstreicht, dass die Zeit der Garnisonstadt Vogelsang bald endgültig vorbei ist. Von ehemals mehr als 500 Gebäuden stehen heute gerade noch 27.
Das Verschwinden schreitet voran
„Hier stand letztes Jahr definitiv noch ein Gebäude", sagt Selim Baykara. "Hier sind wir noch reinspaziert, kleines Treppchen; da konnte man hochlaufen, konnte ums Gebäude rumlaufen, ja, jetzt weg.“
Selim Baykara guckt sich um: wo sich ehemals das Zentrum der sowjetischen Militärstadt befand – eine autarke Einheit mit Tausenden von Unterkünften, Krankenhaus, Schule, Offizierskasino, Rathaus, Kino- und Theatersaal: Jetzt gähnende Leere.
„Wow, wow, wow: Das sieht komplett anders aus, weil hier einfach Gebäude standen", stellt er konsterniert fest. "Also hier, wo jetzt alles leer ist, uiuiui.“
Sowjetische Zeitungen im Jahr 2021
Was dem konsternierten Reiseblogger bleibt, ist der Blick auf die Überreste eines Wandreliefs: Arbeiter mit Maschinengewehren, der Sowjetstern, ein Raketenpanzer beim Angriff – in Stein gehauene Sichtpropaganda. Das Wandrelief, so heißt es, soll nicht abgerissen werden. Ein schwacher Trost für Selim.
Mit Wehmut denkt er zurück an seinen ersten Besuch im Februar 2021. „Da lagen noch alte sowjetische Zeitungen rum; die Wände waren auch bemalt, also das war bei weitem nicht nur diese eine Wand da draußen", erinnert sich der Berliner. "Da hast du wirklich Wandmalereien gehabt, da hast du Schriftzüge gehabt, wo du gesehen hast: da ist der Speisesaal, oder so, oder die Klos für Männer, Frauen und so weiter."
"Sauinteressant" sei es gewesen, auf dem Gelände herumzulaufen: "Es war im Prinzip richtig wie ein Freilichtmuseum." Spaß gemacht, habe es: "Und man hat sich gefragt: Was war das mal früher?", sagt er – und fährt dann fort: "Guck es dir an, was jetzt übrig geblieben ist.“
Die Natur übernimmt den Geisterort
Andrea Magdeburg findet es gut, dass sich die Natur erholt. „Die Flora und Fauna wächst so, wie die Natur es möchte. Sie wächst.“
Magdeburg ist Geschäftsführerin der Brandenburgischen Boden Gesellschaft für Grundstücksverwaltung und -verwertung (BBG). Ihr Job ist es, Militärflächen für zivile Zwecke umzuwandeln und im Auftrag des Landes Brandenburg zu entwickeln oder zu veräußern.
An diversen ehemaligen Militärstandorten der Sowjets sind so Gewerbegebiete und Wohnanlagen entstanden. In Vogelsang gibt es nur einen Verkaufsschlager: den Wald. „Die 'Brandenburgische Boden' hat für das Land einen Öko-Pool", erklärt sie. "Wir renaturieren die Flächen und entsiegeln sie."
Die zertifizierte Entsiegelungsfläche werde dann dem Bund, dem Land oder anderen Institutionen zur Verfügung gestellt, die bauen wollten: Denn wenn die Bauherren Flächen versiegelten, müssten sie entsprechende Ausgleichsmaßnahmen vorweisen.
Aktuell dienen viele der renaturierten Flächen der ehemaligen Garnison als Ausgleich für den Ausbau der Autobahn 10 nordöstlich von Berlin.
Wachschutz für den "Lost Place"
Klar ist: Irgendwann in den nächsten Jahren wird das Gelände komplett entsiegelt sein. Vielleicht, so die Geschäftsführerin der BBG, werden dann auch weniger von denen kommen, die in Vogelsang das Geheimnisvolle suchen.
„Ja", sagt sie, "Mit dem Lost Place-Thema haben wir auf unseren Liegenschaften generell viel zu tun." 90 Prozent der Liegenschaften, die die BBG noch im Bestand habe, haben eben noch Bebauung drauf. "Und das ist ja genau das, was es für die Menschen interessant und spannend macht", sagt Magdeburg. "An sich haben wir nichts dagegen, solange sie die Gebäude weder zerstören noch betreten oder sonst irgendwas machen – das finden wir dann natürlich nicht mehr richtig.“
Regelmäßig kontrolliert deshalb der Wachschutz das Gelände. Das ist jedoch so riesig, dass es kaum möglich ist, alle Besucherinnen und Besucher vom Betreten der Gebäude abzuhalten.
Minipanzer fürs Training
Am Ende wagen auch wir es, in eines der Häuser hineinzugehen. In dicken Flocken blättert der Putz von den Wänden, die Bodenplanken sind zersplittert, die Decken an vielen Stellen eingestürzt. Ein Kanonenofen rostet still vor sich hin.
Doch dann entdecken wir etwas Kurioses: einen Minipanzer, direkt neben einem vier Meter tiefen, weiß gekachelten Becken, aus dem eine rostige Leiter hinaufführt.
Hobbyhistoriker Mario Hoffmann weiß, wozu das skurrile Objekt, der Panzersimulator, gut war. Damit hätten die Soldaten Flussquerungen trainiert. "Die sind rein, dann wurde das ganze Ding – hier ist ein großes Becken – praktisch geflutet, und dann trainiert man den kontrollierten Ausstieg, wenn man Wassereinbruch hat bei der Flussquerung.“
Bald wird vermutlich auch der sowjetische Übungspanzer der Vergangenheit angehören. Außer, es findet sich noch ein Geschichtsverein oder Museum, der das schwere Ding übernehmen und ausstellen will.
Spuren nach dem Abrissbagger
Knappe drei Stunden sind Selim Baykara und ich in der alten Garnisonstadt unterwegs, prüfen, was die Abrissbagger noch nicht zerstört haben, und denken darüber nach, welche Geschichten der Ort möglicherweise noch erzählen könnte.
"Wenn man so ein Gelände mit so einer Geschichte hat, habe ich mich gefragt: Wieso macht man da nicht irgendwas daraus? Wieso macht man da nicht einen historischen Park daraus? Man stellt hier einen Wächter hin, restauriert das hier ein bisschen, stellt ein paar Tafeln hin. Das wäre super interessant, und die Leute interessiert sowas ja auch."
"Stattdessen verfällt es, und wir haben jetzt das hundertfünfszigste Naturschutzgebiet", sagt der Blogger. "Das ist ja nicht schlecht, aber ich finde es schade, dass solche Dinger dann einfach komplett verfallen – und in hundert Jahren ist gar nichts mehr, dann hast du hier einfach nur noch Wald.“
Bäume ragen aus verfallenen Häusern
Schon jetzt ragen Bäume aus den verfallenen Häusern. Bald wird die Militärstadt im Wald verschwunden sein. Wie die Menschen, die sie vor vielen Jahren verließen.
Nur der kleine Ort Vogelsang wird bleiben. Und die vielen bunten Blätter jedes Jahr im Herbst.