Spirituelle Arbeitsteilung in Surinam
Samstagnacht mit den Göttern tanzen und am Sonntagmorgen den einen Gott loben: Im südamerikanischen Surinam leben Christen, Moslems und Hindus friedlich nebeneinander. Geht es ihnen schlecht, verlassen sie sich auf afrikanische Schamanen und Heiler. Für die großen Fragen des Lebens sind aber andere Götter zuständig.
Erster Advent in der "grote Stadkerk" in Parmaribo. Das schlichte Holzgebäude aus dem 18. Jahrhundert ist das größte Gotteshaus der Hauptstadt Surinams. Es gehört zur evangelischen Brüdergemeine, eine evangelische Reformbewegung, die im 18. Jahrhundert vom Grafen Zinzendorf in Herrnhut in der Oberlausitz gegründet wurde. In Surinam gehören ihr die Mehrzahl aller Protestanten an. "Eine Kirche von hier" sagt Pfarrer Michael Pressaud, bis vor kurzem Leiter des Predigerseminars.
"Die Brüdergemeine hat ihre Anfänge in der Sklaven-Mission. Das zeichnet sie vor den anderen evangelischen Kirchen und der katholischen Kirche hier aus: Es ist eine Graswurzel-Kirche."
Den Missionaren aus Herrnhut ging es nie darum, Christen anderer Konfessionen zu überzeugen, sondern die zu bekehren, die in ihren Augen "echte Heiden" waren. In Niederländisch-Guyana waren das die Sklaven. Das führte rasch zu Konflikten: Die weißen Plantagenbesitzer beäugten die Arbeit der Missionare argwöhnisch, denn die beschränkten sich nicht nur auf Predigen.
"Die Missionare lehrten nicht nur die Bibel, sondern sie brachten den Sklaven Lesen, Schreiben und Handwerksberufe bei. Das passte natürlich überhaupt nicht zur sozialen Wirklichkeit der Sklaven."
Aber auch die neu gewonnenen Gemeindemitglieder hinterfragten die Missionare:
"Auf der einen Seite wurden sie von den Missionaren in der Kirche mit Bruder und Schwester angesprochen, aber in der Gesellschaft standen die Sklaven auf einer Stufe mit wilden Tieren oder beweglichen Gütern. Da haben sich die neuen Gemeindemitglieder natürlich gefragt: Wie ernst ist es euch mit eurer christlichen Geschwisterschaft?"
Sozialer Motor bis heute
Das Seelenheil ihrer neuen Glaubensgeschwister war den Missionaren letztendlich wichtiger als deren rechtloser Zustand. Aber auch wenn die Herrnhuter sich mit wenigen Ausnahmen offiziell nicht für die Befreiung der Sklaverei einsetzten, ihre Schulen und ihre Sozialarbeit erwiesen sich als sozialer Motor bis heute.
Die politische Elite des Landes wurde an den Schulen der Brüdergemeine ausgebildet. Als sich in den 80er-Jahren Desi Bouterse an die Macht putschte und das Land in einen blutigen Guerillakrieg gegen seinen ehemaligen Leibwächter stürzte, übten nur einige wenige Kirchenfunktionäre öffentlich Kritik. Aber die Friedensgespräche, die schließlich zur Rückkehr zur Demokratie führten, wurden durch die Brüdergemeine vermittelt.
Im kleinen Surinam spielt die evangelische Brüdergemeine eine wichtige Rolle, aber sie ist nicht die einzige Religionsgemeinschaft. Ein knappes Viertel der 500.000 Einwohner gehören ihr an, die anderen drei Viertel verteilen sich ungefähr gleich auf Katholiken, Hindus und Muslime. Daneben gab es immer eine starke jüdische Minderheit. Egal, wen man trifft, Nachfahren westafrikanischer Sklaven oder der Plantagenarbeiter, die die Kolonialherren nach dem Ende der Sklaverei aus Bengalen und Java ins Land brachten: Jeder ist heute stolz auf das multi-religiöse und multi-ethnische Erbe Surinams.
Dass es anders als im benachbarten Guyana nach der Unabhängigkeit kaum zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen kam, hat viele Gründe: Die führenden Politiker der wichtigsten Bevölkerungsgruppen einigten sich auf ein Mitsprachemodell. Auch im Guerillakrieg und während der Militärdiktatur spielte Religion keine Rolle. Heute mit dem ehemaligen Machthaber Bouterse als demokratisch gewähltem Präsidenten scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass keine Ethnie oder Religion die anderen majorisieren kann. Das Land ist dank Bodenschätzen relativ wohlhabend. Und tolerante, sozial engagierte Reformbewegungen sind nicht nur für die Christen in Surinam prägend: Viele Hindus gehören zur Reformbewegung des Arya Samaj. Das hinduistische Kastensystem wird von seinen Mitgliedern abgelehnt. Und viele der Muslime sind Ahmadiyas, die einen bewusst toleranten Islam vertreten. Ihre Moschee im maurischen Schnörkel-Stil steht direkt neben der alten Synagoge in Paramaribo.
Aber vielleicht liegt der Grund für das friedliche Miteinander auch an einer Religion, die in den offiziellen Statistiken gar nicht auftaucht: "Wintiprei". Es ist die Surinamer Form einer synkretistischen Tradition aus christlichen Symbolen und afrikanischem Animismus. Überall, wo Sklaven aus Afrika nach Amerika verschleppt wurden, finden sich Varianten: Santeria, Voodoo, Candomblé. Und überall, so auch in Niederländisch-Guyana, wurden ihre Anhänger verfolgt. "Wintiprei" überlebte im Untergrund, in den Tänzen und Gesängen der Schwarzen - bis heute. Pfarrer Pressaud:
"Heute oder an Heilig Abend sind die Kirchen voll. An Weihnachten ist jeder Christ. Aber an Silvester werden viele meiner Gemeindemitglieder ein rituelles Kräuterbad nehmen, in der Tradition des Wintiprei, und die Geister des Alten abzuwaschen und sich für das Neue zu reinigen."
Zu "Wintiprei" gehören aber vor allem die Zusammenkünfte am Samstagabend. Ein "Wintiprei" kann überall stattfinden. An diesem Sonnabend vor dem ersten Advent zum Beispiel hat Familie Kuypmann auf einem abgesteckten Viereck hinter ihrem Haus dazu eingeladen.
"Mein kleiner Bruder ist krank, und keiner kann ihm helfen, auch die Ärzte nicht. Wenn wir in die Kirche gehen, wird es besser, aber dann kommen die Schmerzen wieder. Jemand hat ihm einen bösen Geist geschickt, das hat uns der Bonaman gesagt", ...
... erklärt Jerry, der älteste Sohn. "Bonaman", so wird der Schamane genannt, der alles genau überwacht.
"Am Anfang wird immer ein Lied aus dem Kirchengesangbuch gesungen. Dann wird der Ort von allen schlechten Einflüssen gereinigt."
So Julien Zaalman, selbst ein Bonaman und in Surinam die Autorität zu allen Fragen rund um Wintiprei. Nach dem rituellen Fegen wird Anana, der große Schöpfergott angerufen.
"Anana schuf alles, und alles, was nach der Schöpfung passierte , haben die Menschen gemacht, sie haben gut und böse in die Welt gebracht Anana hat das ganze Leben geschaffen, nicht gut und böse."
Apoekoe ist ein mächtiger Winti
Anana hat auch die Wintis erschaffen, die Geister, die von Menschen Besitz ergreifen können. In dieser Nacht wird Jerrys Familie vom Winti Apoekoe besucht. Ein Familienmitglied nach dem anderen beginnt zu tanzen. Mit einem Mal geht ein Ruck durch Jerrys Tante. Sie stampft heftig auf und schüttelt die Fäuste. Die alte Frau oder der Winti in ihr blickt finster in die Runde. Die Trommeln schlagen schneller. Apoekoe ist ein mächtiger Winti.
"Er kümmert sich um Alltagsdinge. Er hat mit Energien zu tun und kann alles zum rechten Gelingen führen. Und er zeigt sich immer als ein sehr starker schwarzer Mann."
Die Sklaven riefen Apoekoe zum Schutz gegen ihre weißen Herren an. Jetzt soll er Jerrys kleinem Bruder helfen. Der Bonaman lässt sich von der alten Frau in Trance umarmen und redet auf sie ein. Wozu wird der Winti raten? Zu einem Bad, einem Amulett? Es wird eine lange Nacht. Alle sind gekommen, die Cousins vom Land und die Nachbarn. Ihr Beistand scheint fast genauso wichtig wie der Ratschlag des Wintis. Dass viele von ihnen in ein paar Stunden in einem christlichen Gottesdienst sitzen werden, ist zumindest für Nachbarin Cynthia kein Problem.
"Ich bin katholisch getauft und halte ich es mit beiden Religionen. Immerhin ist das mit der Kirche Teil meiner Familiengeschichte."
"Spirituelles Leben hat hier viele Formen, um es freundlich zu formulieren", sagt Pfarrer Michael Pressaud am nächsten Morgen nach dem Gottesdienst. Und auch wenn er und seine Kirchenleitung die synkretistische Glaubenspraxis seiner Landsleute ablehnen - zur Kenntnis nehmen muss er sie doch:
"Viele Menschen verlassen sich in Notzeiten auf die afrikanische Religion. Gerade wenn jemand krank ist, lassen sich viele von einem Medium oder einem Schamanen helfen."
Spirituelle Arbeitsteilung könnte man es auch nennen: Für alles Private, quasi für die Seelsorge, sind die Wintis zuständig – für die großen Fragen, die alle angehen, für den sozialen Frieden über die Familie hinaus, die große Politik wendet man sich an Allah, Wishnu oder Jesus.
Samstagnacht mit den Göttern tanzen und am Sonntagmorgen den einen Gott loben: Das mag für strenge Christen unvereinbar sein – aber ein paar Hunderttausend Surinamern hilft es dabei, ihr Leben zu meistern, fast ganz ohne Intoleranz und ganz ohne Anspruch auf die eine einzige Wahrheit.