Warum kein Syrien-Tribunal in Sicht ist
In Syrien tobt Bürgerkrieg: Die frühere UNO-Chefanklägerin Carla del Ponte ist frustriert, weil es trotz der Gräueltaten und trotz der Dokumentation der Verbrechen kein internationales Strafgericht gibt. Es fehle am politischen Willen, sagt sie.
Liane von Billerbeck: Syrien, das Bürgerkriegsland, schafft es derzeit nicht so oft in die Nachrichten. Die Welt hat offenbar anderes zu tun. Es hat den Anschein, als herrsche relative Ruhe dort, Friedhofsruhe muss man wohl sagen, und das hat seinen Grund. Diktator Baschar al-Assad hat Oberwasser: Stück für Stück erobert seine Armee Rebellenland zurück.
Hans-Joachim Wiese: Trotzdem oder gerade deshalb wollen wir heute über Syrien reden, und zwar mit Carla del Ponte, die bei uns im Studio ist. Schönen guten Tag!
Carla del Ponte: Guten Tag!
Wiese: Über die Schweiz hinaus bekannt geworden sind Sie, Frau del Ponte, als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, wo Sie von 1999 bis 2007 etliche Prozesse zur Aufklärung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und zum Völkermord in Ruanda führten. Von 2011 bis 2017 waren Sie dann Mitglied einer UNO-Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien, und darüber haben Sie ein Buch geschrieben. Es heißt "Im Namen der Opfer: Das Versagen der UNO und der internationalen Politik in Syrien". Warum dieses Buch, dessen Titel ja schon aufschlussreich ist? Was hat Sie angetrieben?
Frustration und Hoffnung
del Ponte: Wissen Sie, ich war eben fünf Jahre lang in dieser UNO-Kommission. Als ehemalige Chefanklägerin wollte ich natürlich, dass der Sicherheitsrat doch den Entscheid trifft, dass ein Internationaler Gerichtshof zustande kommt, um diese Verbrechen vor Gericht zu bringen, also die Verantwortlichen, diese Verbrecher. Aber nach fünf Jahren konnte ich absolut nichts bewegen, und darum – die Frustration war zu groß. Ich habe demissioniert, und jetzt habe ich dieses Buch mehr für mich gemacht, damit ich eben diese Frustration loswerde. So kann ich vielleicht doch einmal besser dastehen. Die Hoffnung habe ich immer noch, dass für Syrien etwas geschieht, dass die Verbrecher vor Gericht kommen, aber das müssen wir sehen.
Billerbeck: Welche Erfahrung haben Sie denn genau gemacht in der Syrien-Untersuchungskommission, wie war die Arbeit da, und vor allem auch die Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedern?
del Ponte: Wissen Sie, diese Kommission ist sehr wichtig am Anfang: mit den ersten zwei, drei Berichten. Dann muss der Sicherheitsrat etwas entscheiden. Das hat der Sicherheitsrat nicht gemacht. Russland hat immer dieses Vetorecht ausgeübt, und somit war diese Kommission von keinem Nutzen, und schlussendlich für mich, in meinem Dafürhalten war es ein Alibi für die internationale Gemeinschaft, überhaupt nichts zu tun. Denn was macht jetzt die Kommission im achten Jahr dieses Krieges: Es ist eine Auflistung der Verbrechen, aber es geschieht nichts. Also diese Kommission sollte auch nicht mehr existieren. Man muss einfach einen Gerichtshof haben oder einen permanenten Gerichtshof.
Wiese: Wenn ich Sie richtig verstehe, wurden in dieser Kommission Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen tatsächlich dokumentiert. Also, es war klar, dass es diese Verbrechen gab und gibt, und dann, was sollte denn damit geschehen, oder war das einfach nur eine Auflistung?
Sicherheitsrat müsste Tribunal einrichten
del Ponte: Es war leider nur eine Auflistung. Diese Kommissionen gibt es immer in solchen Situationen, aber normalerweise entscheidet der Sicherheitsrat. Das war für Ex-Jugoslawien genau gleich. Das war eine Kommission, ein Bericht, und dann hat der Sicherheitsrat dieses internationale Tribunal geschaffen. Dasselbe für Ruanda, für Sierra Leone und so weiter, aber mit Syrien ist nichts geschehen. Die Kommission existiert, aber eben von keinem Nutzen.
Billerbeck: Das heißt, der Krieg, den wir dort in Syrien ja erlebt haben, gesehen haben, was da passiert, mit Verbrechen, die man sich vorher gar nicht vorstellen konnte, und dann ist da eine Kommission, die eigentlich völlig sinnlos ist?
del Ponte: Ja. Leider. Im achten Jahr des Krieges haben bezüglich Gerechtigkeit, bezüglich internationale Justiz haben nur eine Kommission, die die Verbrecher auflistet.
Wiese: Sie haben das ja jetzt mehrfach erwähnt, welche Instanz eigentlich zuständig wäre, um Konsequenzen zu ziehen, nämlich der UNO-Sicherheitsrat. Der hat nichts getan, obwohl die Täter mit Namen und auch mit Ort und der Ort ihrer Verbrechen bekannt waren. Wer steckt denn dahinter?
del Ponte: Ja, stimmt. Sie haben überhaupt nichts getan. Wir haben sogar kommissionsspezifische Berichte, die eigentlich Anklageschriften waren. Die Yazidis (die Jesiden, Anm. d. Redaktion), das war ein Völkermord, ist ein Völkermord. Wir haben den sogenannten Cesar-Report, das war die Folter in den Gefängnissen. Das alles haben wir gemacht, aber nichts ist geschehen. Warum? Der politische Wille ist nicht da.
Wiese: Von wem nicht da?
del Ponte: Also Russland sicher, Vetorecht. Russland, China hat immer mit Russland zusammen abgestimmt und etliche andere noch. Also das war leider nicht möglich.
Verbrechen von Regierung, Terrorgruppen und Opposition
Billerbeck: Wer müsste denn Ihrer Ansicht nach vor diesem Kriegsverbrechertribunal erscheinen? Wir sprechen ja oft über Assad, dessen Verbrechen werden oft laut besprochen, aber ist das der einzige, der dort erscheinen müsste, Ihrer Meinung nach, nach den ganzen Berichten, die Sie kennen?
del Ponte: Nein, sicher nicht, sicher nicht der einzige, aber sagen wir: der Höchste, weil er Präsident einer Nation ist. Aber dazu kommen etliche Noch-Minister, Chefs der Sicherheitspolizei, der Informationsdienst und so weiter von der Seite der Regierung; und dann vergessen wir nicht die andere Seite, denn dort haben auch Verschiedene strafrechtliche Verantwortlichkeit für Verbrechen: nicht nur die sogenannten Terroristengruppen – ISIS, Daesh, Al-Nusra –, auch die Opposition, die Rebellen haben Verbrechen begangen. Also die sollten auch vor Gericht kommen. Also sicher Hunderte, Hunderte von hohen politischen und militärischen Verantwortlichen, die vor Gericht kommen sollten.
Billerbeck: Wenn ich das richtig verstehe, dann haben Sie mit dem Bericht und mit Ihren Forderungen, was da geschehen muss, sich eigentlich zwischen alle Stühle gesetzt, weil auf beiden Seiten offenbar kein Interesse bestand, die Verantwortlichen vor Gericht zu ziehen. Wie geht man damit um?
Politischer Wille der Staatengemeinschaft entscheidend
del Ponte: Ja! Was ich festgestellt habe, aber schon früher, als ich Chefanklägerin war, die internationale Justiz ist nur möglich, wenn der politische Wille der Staatengemeinschaft da ist. Sonst können wir überhaupt nichts machen, und Syrien ist der letzte Beweis von dem, was ich sage.
Wiese: Mit anderen Worten: Gerechtigkeit ist trotz aller Kriegsverbrechen, trotz aller Menschenrechtsverletzungen in Syrien unter den gegebenen politischen Verhältnissen nicht möglich.
del Ponte: Im Moment nicht, denn die Staatengemeinschaft will es nicht. Also die Menschenrechtssituation, ich würde sagen: auf der ganzen Welt heutzutage ist tragisch.
Wiese: Deutschland ist demnächst nicht-ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat. Setzen Sie irgendwelche Hoffnungen auf dieses neue Mitglied?
del Ponte: Sicher. Deutschland ist ein wichtiger Staat für Menschenrechtsschutz und für internationale Justiz, aber natürlich allein ist es nicht genug. Also was Syrien angeht, es hängt nur von Russland und Vereinigten Staaten ab, leider.
Billerbeck: Über ihr Buch "Im Namen der Opfer: Das Versagen der UNO und der internationalen Politik in Syrien" sprachen wir mit der früheren Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Carla del Ponte. Vielen Dank!
del Ponte: Danke schön!
Billerbeck: Carla del Ponte stellt ihr Buch übrigens heute Abend um 20 Uhr in der Berliner Volksbühne zusammen mit Ex-Außenminister Joschka Fischer vor.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.