Die Zeitschenker vom Verein "Nestwärme"
In Deutschland leben 950.000 Familien und Alleinerziehende mit behinderten oder chronisch kranken Kindern. Wie gut, dass es Menschen gibt, die bereit sind, ihre helfende Hand auszustrecken. In dem Verein "Nestwärme" engagieren sich Leute, die Zeit verschenken.
"Das ist für Mama. Mama kriegt auch was Süßes. Das ist für Mama und das ist für dich. Kuck mal, und da wir uns so lange nicht gesehen haben, hat Oma eine ganze Tüte mitgebracht."
Heide Reiss ist nicht die leibliche Oma, aber das macht nichts. Sie ist da. Und das ist das Wichtigste. Die 68-jährige Fotografin ist Zeitschenkerin. Sie verschenkt ihre Zeit an die alleinerziehende Anja und ihren Sohn Fritz. Fritz ist sechs Jahre alt, er hat das Down-Syndrom. Zueinander gefunden haben die drei über den Verein Nestwärme. Nestwärme vermittelt in ganz Deutschland ehrenamtliche Zeitschenker an Familien mit kranken oder behinderten Kindern, um die Eltern im Alltag zu entlasten. Heide Reiss ist schon im Rentenalter, es fällt ihr leichter als anderen, Zeit zu verschenken. Doch ihre Beweggründe sind andere:
"Ich hab so viel Glück auch gehabt in meinem Leben und so viele menschlich sehr positive Erfahrung gemacht mit anderen, so dass ich immer denke man hat auch eine Verpflichtung, so empfinde ich das für mich, auch eine Verpflichtung von dem was man selber so erfahren hat auch mal was weiter oder zurück zu geben. Und das ist auch meine Motivation gewesen zu sagen ich mache das bei Nestwärme und ich will mich da mit einbringen und will da irgendwo einen Part mit übernehmen."
Persönliche Stütze für die Familie
Regelmäßig trifft sie sich mit Mutter Anja und ihrem Sohn, macht mit den beiden Ausflüge oder spielt im Zimmer Fußball. Beim Zeitschenken geht es nicht nur darum behilflich zu sein, wenn der Kinderwagen zu schwer, ein Augenpaar zu wenig ist, um das Kind im Blick zu behalten. Die Zeitschenkerin ist eine persönliche Stütze für die kleine Familie. Für Fritz, besonders aber auch für Mutter Anja:
"Ich fühle mich weniger alleine. Also das ist das Hauptsächliche. Ich hab im Gefühl ich habe ein Netz und doppelten Boden und jemanden der so eine Art quasi Familiensituation schafft, wo wir nicht zu zweit am Esstisch sitzen, wo nicht wir zu zweit mit Freunden sitzen, wo ich mich als Gastgeberin auch verpflichtet fühle, sondern bei Oma Heidi weiß ich einfach, die kommt auch für mich."
"Und ein lieber, ein ganz lieber..."
Dass sie sich gefunden haben, sagen beide, sei ein Glücksfall. In kürzester Zeit war Heide Reiss nicht mehr nur eine ehrenamtliche Helferin, sie wurde Oma und Mama Ersatz in einem. Die Oma für Fritz, dessen leibliche Großmutter weit weg wohnt, und Ersatzmutter für Anja, da sie mit der herzlichen Frau über Dinge sprechen kann, mit denen ihre eigenen Eltern Probleme haben. Neben der engen persönlichen Bindung ist es Anja gleichzeitig sehr wichtig, dass Oma Heide eben kein leibliches Familienmitglied oder eine Freundin aus der Nachbarschaft ist. Den Verein Nestwärme hinter der Zeitschenkerin zu wissen, erleichtert Anja sehr:
"Das ist für mich einfach auch nochmal so ein Netz und doppelter Boden, weil ich weiß, ich lehne mich in jemanden rein, der wieder irgendwo institutionell aufgefangen wird. Der über meinen Fall mit anderen reden kann. Ich weiß, ich kann sie letztendlich nie überfordern, weil wenn sie überfordert ist, dann hat sie jemanden, der ihr wieder hilft."
Heute da und morgen weg − das geht nicht
Mit Krankheit und Behinderung in der Familie umzugehen, ist auch für die Zeitschenkerin nicht immer leicht. Doch ihr ist es wichtig, dass man Berührungsängste abbaut, von Dingen wie Inklusion nicht nur spricht, sondern sie lebt. Auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. Heide Reiss hofft, dass sich mehr Menschen entscheiden, ehrenamtlich tätig zu werden, ihre Zeit zu verschenken. Dabei sollte man ein paar Dinge mitbringen:
"Man muss sich schon darüber im Klaren sein, wenn man diesen Schritt geht, man muss dann also auch bereit sein, zu wissen, o.k. ich mache das jetzt und ich bin nicht heute da und morgen weg, weil es mir nicht gefällt, sondern man muss sich dann schon auch über die Verantwortung, die man übernimmt, im Klaren sein. Und sich vorher überlegen, ob man bereit ist dazu und ob man das machen kann."
Heide Reiss ist überzeugt, dass sie das kann. Sie sagt, sie bekomme so viel Positives von Anja und ihrem kleinen Schatz zurück, dass es für sie eine Bereicherung ist mit den beiden und für die beiden da zu sein. Sie möchte es nicht mehr missen:
"Ich bin sehr froh und sehr glücklich, diese Erfahrung auch selber machen zu können. Man lernt auch, mehr Demut zu empfinden, weil nicht alles selbstverständlich ist. Und ich bin dankbar dafür, dass ich gesund bin, was auch nicht selbstverständlich ist und ich bin dankbar dafür, dass ich lerne, nicht alles als selbstverständlich hinzunehmen, sondern eben auch für andere da zu sein."