Frank Meyer: Litauen wird das Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse sein in diesem Jahr. Ein Land mit einer sehr dramatischen Geschichte im 20. Jahrhundert, erst war Litauen ein Teil des russischen Reiches, dann unabhängig, bis es okkupiert wurde, zuerst von der Sowjetunion, dann von den Deutschen, im Zweiten Weltkrieg dann wieder von der Sowjetunion für fast 50 Jahre. Heute gehört Litauen ja zur Europäischen Union.
Der "Lesart"-Redakteur Jörg Plath war vor Kurzem auf einer Literaturreise in Litauen, in Vorbereitung auf die Leipziger Buchmesse, jetzt ist er hier im Studio. Herr Plath, was war denn die interessanteste Begegnung bei dieser Reise?
Jörg Plath: Vielleicht die Begegnung mit Eugenijus Ališanka, einem Essayisten und Lyriker, im Sommerhaus von ihm, vor den Toren von Vilnius, der Hauptstadt, im Nationalpark, der Neres. Das ist ein rot gestrichenes Holzhaus, nicht allzu klein, aber groß genug für den Tross aus immerhin zehn Journalisten und Kritikern, mit Pressesprechern, mit Organisatorinnen vom litauischen Kulturinstitut. Darum herum viel, viel Land, auf Hügeln, verschneit, so glatt, dass der Busfahrer, der uns fuhr, Angst hatte, die nächste Anhöhe nicht wieder hochzukommen. Die Häuser höchstens auf Sichtweite in so einem weißen Dunst, auf dem höchsten Hügel eine weiße Kirche, also sehr schön. Ein Haus mit Nebengebäude, noch einem Nebengebäude, was dann das Plumpsklo war, wie man merkte.
Und den Hausherren kannte ich schon, den wollte ich auch unbedingt wiedersehen, weil der Eugenijus Ališanka Gedichtbände bei Dumont und bei Suhrkamp hat, ironisch, sehr gut lesbar, hoch reflektiert, nun einen neuen Band, sehr konkret auch, Essays über sein eigenes Leben, "Streifzüge, Risse, Fluchtpunkte" im kleinen KLAK-Verlag. Das sind so 50 Lebensjahre, die er dort schildert, und 50 Jahre Litauen, da lässt sich viel erfahren über Litauen. Und er hat uns in diesem Haus ganz freundlich begrüßt: "Willkommen in Sabaria." Das ist der Ort, in dem er dort lebt. Er sei sehr froh, dass wir da seien, wir könnten ein richtiges Dorf kennenlernen in Litauen, obwohl er keine Kühe und keine Hühner habe, seine Familie, seine Eltern und sein Bruder kamen hierher schon vor 25 Jahren übers Wochenende und dann haben sie irgendwann nach einem Haus gesucht, um auch dort zu übernachten, und haben es vor 13 Jahren gefunden, haben es umgebaut, und nun sind sie in der warmen Jahreszeit hier und er fühle sich sehr wohl, sagt er. Denn wenn er hier nichts tue, dann fühle er sich besser, als wenn er woanders nichts tue.
Meyer: Also, Sie haben Lyriker mit Plumpsklo angetroffen bei dieser Reise. Wie läuft so was überhaupt ab, wer nimmt einen da an die Hand bei so einer Literaturexpedition, und mit wem wird man über den Lyriker hinaus zusammengebracht?
Plath: Das Litauische Kulturinstitut hat dieses Ganze organisiert, im politischen Auftrag natürlich vom Kulturministerium, wir haben auch die Kulturministerin kennengelernt, eine Übersetzerin aus dem Schwedischen, vorher, wir waren beim Außenminister, man kriegt so eine, sagen wir, kulturell-politische Landeskunde mit. Man weiß ja relativ wenig über dieses kleine Land, das will sich präsentieren, man bekommt so als Hintergrund für die Literatur mit.
Aida Dobkeviciute, Geschäftsführerin des litauischen Verlegerverbands: 1300 Stück ist eine typische Auflage, Litauen ist ein kleines Land mit wenigen Lesern. Daher sind Bücher relativ teuer. Wir drucken nicht so viele Bücher seit 2008, 2009, seit der Finanzkrise. Die Verlagsproduktion hat sich nicht wieder erholt, es gab einen großen Rückgang. Vor 2009 erschienen 4500 neue Titel per Jahr, dieses Jahr sind es kaum 3400 neue Titel. Der Rückgang ist ziemlich groß.
Aber natürlich geht es vor allen Dingen um die Bücher, die die deutschen Verlage ausgewählt haben, immerhin 26 kommen jetzt zur Leipziger Buchmesse, Prosa, Lyrik, Essays, Kinderbücher, ein Kochbuch. Ich hätte gerne mehr Kochbücher gehabt. Denn das Kochbuch wurde uns vorgestellt in einem Restaurant, von einem litauischen Spitzenkoch bekamen wir ein Vier-Gänge-Menü, also, das war sehr verheißungsvoll.
Das Kochbuch ist leider ein einziges geblieben, es gibt eine Wissenschaftlerin, die wir kennengelernt haben, die über die Reformation im Großfürstentum Litauen und Preußisch-Litauen, also im 16., 17., 18. Jahrhundert gearbeitet hat, die haben wir in der Uni kennengelernt. Also, es gibt so ein Prinzip, glaube ich, den richtigen Rahmen für diese Bücher zu schaffen, und dann gab es für die Lyrik- und Prosaautoren ein Speed-Dating.
Meyer: Was ist das, ein Speed-Dating mit Autoren?
Plath: Ja, da wird man mit ihnen zusammengeführt, die Übersetzer – zwei von denen jedenfalls, Cornelius Hell und Markus Roduner waren da, haben kurz gesagt, was ihnen an den Büchern, die sie übersetzt haben, gefallen hat, und dann wurden wir auf die Autoren losgelassen, deren Bücher wir im glücklichen Fall auch schon gelesen hatten, und durften sie befragen. Und da habe ich dann drei Autoren zugeteilt bekommen, habe mich dann noch bei den Kollegen hinterher erkundigt, wie war es bei euch, und es ist schon spannend gewesen, mit diesen Autoren auch zu sprechen.
Meyer: Und bei den ganzen Gesprächen, die Sie jetzt geführt haben in Litauen mit Autoren, hat sich dabei etwas herauskristallisiert, was die Autoren in dem Land gerade beschäftigt, wovon die besonders erzählen, was die Autoren in Litauen besonders interessiert vielleicht zurzeit?
Plath: Das ist ganz schwierig. Also, natürlich sind es 26 Bücher, aber sehr verschiedene, es ist ein Ausschnitt, so wie es ja auch hier ein Ausschnitt wäre aus der jüngeren Produktion. Das kann man nicht sagen. Ich habe sehr gerne gelesen Alvydas Šlepikas zum Beispiel, "Der Regengott und andere Erzählungen" beim Mitteldeutschen Verlag, vom Dorf.
Das ist offenbar ungewöhnlich, dass man vom Dorf in Litauen nicht abfällig erzählt, sondern sehr humorvoll, mit einem liebevollen Blick auf sonst eher übersehene Protagonisten. Da gibt es Alkohol, da gibt es Aggressivität, auch Brutalität und ärmliche Lebensabschnitte und libidinöse, sagen wir, Obsessionen auch. Also, das Dorf durchaus als ein Mikrokosmos. Šlepikas kennt man vielleicht schon durch ein Buch über Wolfskinder, "Mein Name ist Maryte", das im letzten Jahr erschienen ist.
Wolfskinder, deutsche Kinder, die nach dem Zweiten Weltkrieg, am Ende des Zweiten Weltkrieges dann plötzlich ohne Eltern dastanden, herumgezogen sind, fast verhungert sind, aufgewachsen sind dann bei litauischen oder bei estnischen und lettischen Eltern.
Undinė Radzevičiūte habe ich auch kennengelernt, "Fische und Drachen", im Residenz Verlag ein Roman, der bisher schon in acht Sprachen übersetzt worden ist, mit zwei Ebenen: einmal Frauen in der Gegenwart, vier Frauen, Oma, Mutter, zwei Töchter, die sich unterhalten, sehr lustig teilweise, sehr komisch, sehr bissig auch, und dann eine Ebene, die mit der ersten auch zusammenhängt, die in China spielt im 18. Jahrhundert: Ein Jesuit missioniert dort erfolglos den chinesischen Kaiser.
Und dann gibt es vor allen Dingen Vilnius, das ist vielleicht ein wiederkehrendes Thema, da kann man sagen: Ja, das kehrt wieder. Es gibt eine Spaziergängerin bei Giedra Radvilavičiūte, die eine Frau durch Vilnius schickt, "Der lange Spaziergang auf einer kurzen Mole", und es gibt einen Kulturwissenschaftler, der uns auch – auch das ist so typisch gewesen für diese Reise – durch Vilnius führte als Stadtführer, der hat aber eine kulturwissenschaftliche Studie geschrieben mit sehr vielen Belegen über Vilnius, "Reisen in die ferne Nähe" beim Wieser Verlag. Und wenn dieses Buch nur halb so gut ist, wie dieser Mann sprechen und erzählen und erläutern kann, dann ist das brillant.
Eine Literatur, die wenig mit Macht verbandelt war
Meyer: Und kann man überhaupt sagen – Sie befassen sich ja schon länger mit Literatur aus Litauen –, gibt es so was wie eine Eigenart der litauischen Literatur?
Plath: Habe ich mich auch dauernd gefragt. Ist natürlich ganz schwer zu sagen, weil wir ja über lange Jahre jetzt in den letzten Jahren seit dem letzten Auftritt von Litauen 2002 in Frankfurt – da waren es immerhin fünf Bücher – immer nur so ein, zwei, drei Bücher jedes Jahr bekommen haben aus Litauen. Das kann man schwer sagen.
Meyer: Das war auch auf der Buchmesse in Frankfurt, dieser Auftritt.
Plath: Genau. 2002. Und da waren sie auch schon Gastland, und es ist natürlich ihr Wunsch, dass es stetiger wird und mehr Bücher kommen. Wir haben dann einen Vortrag zu Anfang auch zu hören bekommen von einem jungen Schriftsteller und Essayisten, Laurynas Katkus, der auch einen Essay geschrieben hat über die Beziehung zu Russland, ganz wichtig, "Moskau Pelmeni" im Leipziger Literaturverlag. Und der hat uns sehr schön erzählt, was es alles gibt, und hinterher hat er geendet in einer Auflistung von Themen und Erzählweisen, die so lang war, dass sie enzyklopädisch war und eigentlich fast für jedes europäische Land gelten könnte. Ich habe ihn noch mal gefragt unter vier Augen, wie es denn war mit der Eigenart, wie es denn ist mit der Eigenart der litauischen Literatur.
Laurynas Katkus: Das ist eine Literatur, die im Laufe der Geschichte wenig mit der Macht und mit dem Offiziellen verbandelt war. Das war eine littérature mineure, wie der französische Philosoph Deleuze es formuliert. Sie wird viel positiver aufgenommen als in der Sowjetzeit oder noch früher. Ich denke, das ist so eine Eigenart. Insbesondere in der Literatur der letzten Jahrzehnte ist so eine spielerische Leichtigkeit, eine Spielerei und viel mehr Humor.
Plath: Ja, und das ist glaube ich ganz typisch. Laurynas Katkus hat ganz gut Punkt drei, Punkt vier, Punkt fünf umschifft.
Meyer: Sagen Sie uns zum Schluss jetzt noch: Es gibt ja bei Ihrer Reise jetzt auch darum, einmal die Literatur Litauens kennenzulernen, aber auch jetzt den Blick auf die Leipziger Buchmesse zu richten. Wie wichtig ist der deutsche Sprachraum überhaupt für die Literatur aus Litauen? Es gibt ja Länder, für die Deutschland so eine Art Brückenkopf ist hinaus in die Welt. Ist das für Litauen auch so?
Plath: Ja, gilt glaube ich auch. Das ist einfach so, dass der zweitgrößte Buchmarkt der Welt wichtig ist. Das zeigt glaube ich auch die Tatsache, dass ja Litauen immer schon '97 in Leipzig mit den baltischen Ländern sich präsentiert hat, dann 2002 noch mal in Frankfurt, wo sie auch wieder mit den Esten und den Letten auftreten wollten, die dann kurzfristig absagten, dann haben sie es alleine gemacht, allein gestemmt. Das fällt bei einem kleinen Land natürlich viel, viel schwerer, personell, finanziell, trotzdem haben sie es gemacht. Das zeigt, dass der deutsche Buchmarkt wichtig ist für sie.
Meyer: Und dort wird Litauen auftreten, bei der Leipziger Buchmesse dann im März. Jörg Plath ist für uns schon mal nach Litauen gefahren und hat sich die Literatur dort angeschaut. Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Neuerscheinungen aus Litauen
Undinė Radzevičiūte: Fische und Drachen. Übersetzt von Cornelius Hell. Residenz Verlag
Anatanas Škėma: Das weiße Leintuch. Übersetzt von Claudia Sinnig. Guggolz Verlag
Tomas Venclova, Ellen Hinsey: Der magnetische Norden. Gespräche. Übersetzt von Claudia Sinnig. Suhrkamp
Alvydas Šlepikas: Der Regengott und andere Erzählungen. Übersetzt von Markus Roduner. Mitteldeutscher Verlag
Eugenijus Ališanka: Streifzüge. Risse. Fluchtpunkte. Übersetzt von Claudia Sinnig. Klak Verlag
Laimonas Briedis: Vilnius. Reisen in die ferne Nähe. Übersetzt von Cornelius Hell. Wieser Verlag
Renata Šerelytė: Der Windreiter. Übersetzt von Cornelius Hell. Wieser Verlag
Jurgis Kunčinas: Tula. Übersetzt von Markus Roduner. Corso Verlag
Giedra Radvilavičiūte: Der lange Spaziergang auf der kurzen Mole. Übersetzt von Cornelius Hell. Corso Verlag
Laurynas Katkus: Moskauer Pelmeni. Übersetzt von Claudia Sinnig. Leipziger Literaturverlag
Ingė Lukšaitė: Die Reformation im Großfürstentum Litauen und in Preußisch-Litauen. Übersetzt von Lilija Künstling. Leipziger Universitätsverlag