"Was ich spiele, muss glaubhaft sein"
Ehrenleopard für Mario Adorf: Beim Filmfestival Locarno wird der 85-Jährige für sein Lebenswerk ausgezeichnet. In "Vollbild" erklärt der Schauspieler, wie er in 40 Jahren in Italien nie den Kontakt nach Deutschland verloren hat – und welche Überzeugungen seine Kunst bestimmen.
Patrick Wellinski: Was bedeutet Ihnen der Ehrenpreis gerade dieses Festivals?
Mario Adorf: Ja, ich war öfter schon eingeladen, wenn Filme von mir hier liefen in den vergangenen Jahrzehnten, sagen wir, und konnte nie hier sein. Und deswegen habe ich immer ein bisschen bedauert, nicht wahr. Man hat immer viel gesprochen und gut gesprochen von diesem Festival. Nun ist auch dieser Preis ein besonderer Preis, ich würde sagen, dass er nach dem Goldenen Bären, der Palme und dem Löwen der nächste schöne europäische Preis ist.
Wellinski: Man kann Sie ja hier auch als Schauspieler des italienischen Kinos neuentdecken oder wiederentdecken. Sie haben Luigi Comencinis "Vergewaltigt in Ketten" vorgestellt und ich hatte an dem Abend so das Gefühl, dass das italienische Kino so eine Art zweite Schauspielerheimat für Sie war.
"Die wichtigsten 40 Jahre meines Lebens in Italien gelebt"
Adorf: Das war es durchaus. Man darf nicht vergessen, dass ich 40 Jahre, und zwar die wichtigsten 40 Jahre meines Lebens, in Italien gelebt habe. Ich habe zwar immer den Weg zurück nicht nur gefunden, sondern auch gesucht, denn es gab Schauspieler, die eine internationale Karriere machten, dann verschwanden sie für einige Jahre und wenn sie wiederkamen, waren sie sozusagen unbekannt und waren vergessen. Und da habe ich immer gedacht, das soll dir nicht passieren! Ich habe immer den Weg, also diese Straße mir immer offengehalten und habe zwischendurch auch immer wieder deutsche Filme gemacht. Und das war glaube ich für mich auch ganz wichtig. Aber Italien hat natürlich mit 40 Filmen von den vielen doch eine gewisse Rolle gespielt, ja.
Wellinski: In Deutschland gelang Ihnen der Durchbruch vor allem 1957 mit "Nachts, wenn der Teufel kam" von Robert Siodmak. Da spielten Sie einen Frauenmörder während der NS-Zeit. Das war damals ein Film, der in der Nachkriegsdebatte dann doch schon ordentlich diskutiert worden ist, weil er auch gezeigt hat, wie die Nazi-Maschinerie zum Teil funktioniert hat. Wie erinnern Sie denn die Arbeiten an den Film, war Ihnen klar, dass dieser Film so eine Debatte loslösen konnte?
Adorf: Ja, wir haben ja selbst auch gerade mit Siodmak auch darüber gesprochen. Wir hatten auch kleine Diskussionen. Siodmak war zum Beispiel der Meinung, dass er sagte: Für mich ist das Wichtigste, dass ich diese Geschichte, diese historische Geschichte erzähle, was die Nazis waren, was sie machten und so weiter. Der Mörder, den wollen wir gar nicht so oft sehen. Und ich habe damals also widersprochen, ich habe gesagt: Herr Siodmak, ich glaube, die Leute wollen gerade den Mörder sehr gerne sehen, und die Geschichte, die Sie erzählen wollen, das ist der große Hintergrund der Geschichte, aber nicht die Hauptsache. Sie können keinen historischen Film daraus machen. Das war unsere Diskussion damals, erinnere ich sehr gut.
Wellinski: Nach dem Film wurden Sie – interessant, dass Sie das erwähnen – auch gerne als Bösewicht gecastet. War das denn etwas, was Sie mit der Zeit etwas gestört hat, oder haben Sie das als Herausforderung begriffen, weil man ja auch in der Figur eines Schurken, sagen wir mal, größere gesellschaftliche Sachen zeigen kann?
"Das sind die dankbaren Rollen im Theater"
Adorf: Ja, also erst mal ist es ja so, dass man im Theater als Schauspieler den Bösewicht, die negative Figur besonders liebt eigentlich. Das sind die dankbaren Rollen im Theater, der Jago, der Richard III., solche Rollen. Das sind die dankbaren Rollen für einen Schauspieler. Deswegen hat mir also die Tatsache, dass man mich also als Bösewicht oder als Schurke oder was auch immer eingesetzt hat, hat mich nicht gestört, wenn es auch gar nicht immer so war. Ich habe ja sehr schnell … Ich erinnere mich sogar, dass ich meinen Vertrag hatte … Also, ich wollte nicht ein Peter Lorre werden und habe in meinen Vertrag reingeschrieben, dass ich im nächsten Film der gleichen Firma eine positive, eine komische Rolle spiele. Und das habe ich dann auch bekommen und habe auch danach andere Rollen gespielt. Danach kam "Der Arzt von Stalingrad", war dieser nächste Film, dann kam "Das Totenschiff" … "Das Mädchen Rosemarie" und "Das Totenschiff". Und "Am Tag, als der Regen kam", da war ich dann wieder der Negative.
Wellinski: Sie waren und sind es ja immer noch ein sehr körperlicher Schauspieler. Dominik Graf hat mal über Sie gesagt, Sie allein hätten dem bundesdeutschen Kino Gravität verliehen. Haben Sie sich selbst so betrachtet, dass eine Ihrer großen Stärken Ihre Körperlichkeit ist?
Adorf: Ja, das schon. Ich meine, man kann ja aus seiner Figur nicht raus, nicht wahr. Nun war ich sicher auch damals, als junger Mann kräftig und muskulös und so weiter, sportlich, und habe auch deswegen auch nie den jugendlichen Helden oder irgendwas, habe ich nie angestrebt, weil das … Ich habe mich im Spiegel angeschaut, ich war schon doch dunkelhaarig und auch sehr verschieden von den meisten und habe das akzeptiert, so sehe ich aus, so bin ich, das … Und wenn es eine Stärke gibt, dann war es eben vielleicht eben die Stärke.
Wellinski: Regisseure, die mit Ihnen gearbeitet haben, sagen, Mario Adorf ist ein Perfektionist. Sehen Sie sich auch als Perfektionisten? Und wenn ja, wie zeigt sich das, wenn Sie arbeiten?
"Ich habe den Beruf weitgehend als ein Handwerk gesehen"
Adorf: Ja, ich bin … Also, erst einmal habe ich den Beruf weitgehend als ein Handwerk gesehen, immer schon. Als ein Handwerk, das man lernen muss, und ein Handwerk, das man auch lernen kann. Und deswegen war für mich von Anfang an die Glaubwürdigkeit, die Glaubhaftigkeit war so wichtig. Also, wenn ich irgendetwas, was ich mache und was ich spiele, muss glaubhaft sein. Ich habe selber, als ich noch kein Schauspieler war, als Zuschauer im Kino bemängelt, wenn einer irgendwas machte, was nicht stimmte. Zum Beispiel erinnere ich einen damals bekannten Schauspieler, der spielte einen Automechaniker und dann sah man eine Großaufnahme seiner Hände und er hatte saubere Fingernägel. Und dann habe ich gesagt, der kann das nicht! Und deswegen sage ich immer: Wenn ich einen Hammer – ich habe nun am Bau auch gearbeitet als junger Mann, als Student –, also, wenn man irgendetwas macht, muss man es auch gelernt haben, man muss es können. Und als Schauspieler, wenn man etwas tut, dann muss … Das Publikum muss glauben, der kann das. Und das war für mich immer also eine der Hauptsachen. Vor allem anderen, vor der … Denkt man an die Wirkung einer Rolle oder an, ich weiß nicht, an die Äußerlichkeiten oder wie auch immer. Für mich war das das Entscheidende, erst einmal glaubhaft sein.
Wellinski: Wonach gehen Sie eigentlich, wenn Sie sich Rollen aussuchen? Gucken Sie, mal ein kommerzielles Projekt, mal ein Kunstprojekt? Oder was muss ein Drehbuch haben, ein Projekt, das Sie mitspielen?
Adorf: Na ja, das war immer so, dass man die Wahl hatte, aber doch eine sehr begrenzte. Ich habe immer gesagt, es gibt zehn Angebote, von denen neun nicht infrage kommen, und das zehnte ist vielleicht immer noch nicht das Gelbe vom Ei, aber irgendwas muss man ja machen. Und ich habe nicht so das Gefühl gehabt, dass ich mir Rollen aussuchen konnte, sondern … Ich habe auch nie das Gefühl gehabt, dass für mich Rollen geschrieben wurden. Es gab dann Rollen, von denen ich … Ich habe immer es so gesehen: Man hat mich vielleicht gebraucht. Oder dass man gesagt hat, die Rolle muss der Adorf spielen, oder noch schöner: Die kann nur der Adorf spielen. Das ist schmeichelhaft, aber das habe ich schon öfter gehört. Also nicht dass man sagt, wir schreiben für den Adorf eine Rolle, sondern da ist schon eine Rolle, aber die muss, wenn schon, dann der Adorf spielen.
Wellinski: Sie haben jetzt in über 200 Filmen mitgespielt, das ist eine mehr als beachtliche Zahl. Hat es Sie eigentlich nie hinter die Kamera gedrängt, dass Sie Regie führen? Viele junge Kollegen spielen zwei Filme mit und drehen mittlerweile ihr Debüt!
"Ich habe im Theater zweimal Regie geführt"
Adorf: Ja, das war damals wirklich nicht in unserer vorstellbaren Reichweite. Die Regisseure waren meistens ja ältere Herren für mich, am Anfang, bevor der junge deutsche Film kam. Und dass man selber sagen würde, ich will Regie führen, das war so unrealistisch, dass man es also … Und ich habe das gerade so beim Fassbinder damals bewundert, dass so ein junger Bursche schon Filme, Regie machte. Er war ja einer der Ersten. Mich selber, was selber Regie betrifft, wollte ich es eigentlich … Ich habe sehr schnell begriffen, auch diese Stellung zwischen Produktion und Regisseur, diese Kämpfe, die da sind, die haben für mich mit Schauspielerei wenig zu tun. Das sind so, wo der Produzent andere Dinge im Kopf hat und auch andere Ziele hat, der Regisseur will dann 50 Komparsen, der Produzent gibt ihm zehn. Und all diese … Ich dachte an diese Schwierigkeiten, an diese … Dem wollte ich mich gar nicht aussetzen.
Also, ich habe im Theater zweimal Regie geführt, das war sehr schön und sehr befriedigend und auch erfolgreich, aber auch da habe ich meine Grenzen schnell aufgezeigt bekommen, weil, ich habe ein Stück gespielt und habe das dann selber noch mal inszeniert und dann kam nach 14 Tagen der Regieassistent zu mir und sagt: Die Schauspieler wollen hinschmeißen! Sage ich: Ja, warum denn, ist alles wunderbar, es läuft doch alles prima! Sagt er: Nein, die wollen hinschmeißen! Ich sage: Ja, warum denn? Und dann sagte der: Sie spielen zu gut vor! – Das war ein Fehler, das habe ich natürlich dann begriffen. Man muss schlecht vorspielen, so vorspielen, dass der andere sagt, das kann ich jetzt noch besser oder das will ich jetzt so ähnlich machen, aber ich kann, Sie müssen mir nicht zeigen das fertige Produkt, sondern den Weg dahin!
Wellinski: Herr Adorf, vielen Dank für Ihre Zeit und vielen Dank für das Gespräch!
Adorf: Ich danke Ihnen!
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