Eidgenössische Eigenheiten
Im Zeitalter der Globalisierung gleichen sich die Befindlichkeiten rund um den Globus an – so zumindest eine verbreitete Einschätzung. Dass trotz der Tendenz zum "global village" nationale Eigenheiten fortleben, zeigt die Ausstellung "Swiss Made I". Die Suche nach der Schweizer Identität wird hier in Form eines künstlerischen Dialogs unternommnen.
"La Suisse n’existe pas” – "Die Schweiz gibt es nicht”, dieses Schriftbild von Ben Vautier, gezeigt 1992 im eidgenössischen Pavillon auf der Weltausstellung in Sevilla, rief einen Sturm der Entrüstung hervor. Seither haben Politiker des Landes in ihre Reden immer mal trotzig den Satz "La Suisse existe! – die Schweiz lebt!" eingeflochten, ein Video mit einer Neujahrsansprache des früheren Bundespräsidenten Adolf Ogi belegt es in der Schau. In der Nachbarschaft hängt eine Version eben des "Skandalbildes" von Vautier. Markus Brüderlin, der aus der Schweiz gekommene Direktor des Wolfsburger Kunstmuseums:
"Es ist interessant, dass in diesem kleinen Land die Kunst auch immer wieder die Politik berührt. Es gab einige handfeste Skandale, die hier im Museum auch thematisiert werden. Es hat vielleicht auch mit der Größe dieses Landes und der spezifischen Entwicklung von Identität zu tun. Das ist in einem größeren Land anders, wo die Kunst nicht diese Rolle spielt."
Diese Ausstellung fragt vor allem nach den kollektiven Eigenschaften der Landsleute, vielleicht sogar nach dem Schweizer "Nationalcharakter", wie er sich in der Kunst auf einer Zeitstrecke von rund 150 Jahren wieder findet.
Brüderlin bezeichnet seine Präsentation denn auch als "eine Art Reise durch helvetische Seelenlandschaften", spricht von einer "Psychotopographie", die er erkunden will, und nennt als "mentale Leitplanken" seiner Fahrt die Begriffe "Präzision" und "Wahnsinn". Ein beachtliches Vorhaben, gehen viele Zeitgenossen doch längst von einer internationalen Angleichung der Befindlichkeiten aus und schwadronieren über das "global village", das uns alle zunehmend in Beschlag nehme:
"Wir haben festgestellt, dass die Rede vom 'globalen Dorf', wo alles mit allem verschmilzt durch die Globalisierung, so nicht stimmt. Gerade wenn man sich näher kommt, und die Informationen frei fließen, ist das Bedürfnis nach nationalen Eigenheiten sehr groß. Die Schweiz ist da nur ein Beispiel. Es gibt ein großes Interesse zu erfahren: Was ist denn das Spezifische am Deutschen, am Italienischen oder eben an der Schweiz?"
Aber keine auf Vollständigkeit bedachte Präsentation erwartet den Besucher, keine chronologische Übersichtsschau mit einer Reihung von Namen und Stilen. In Wolfsburg möchte man vielmehr Dialoge stiften zwischen "alt" und "jung" und hat unter zwölf Überschriften Klassiker wie Klee und Giacometti mit Vertretern der Künstlergenerationen nach 68 zusammengebracht. So kommt es zu reizvollen Korrespondenzen.
Huldigt Max Bill mit penibel gemalten Rechtecken seiner Liebe zur Geometrie, so antwortet John M. Armleder mit einer Möbelskulptur – ein gutes Dutzend betagter Küchentische hat er so an die Wand gebracht, dass die nach vorn gekehrten farbigen Oberseiten das Prinzip des konstruktiven Bildes aufnehmen und zugleich ironisieren.
Dem Wahnsinn verfallen war hingegen der Patient Adolf Wölfli, der seine ornamentreichen Welten unermüdlich zu Papier brachte. Gegenüber diesem dämonischen Reich von einst hängt die expressive Malerei Martin Dislers, roh in den Inhalten und im Stil – Obsessionen in moderner Form. Immer neue fiktive Gespräche ermöglicht das Kunstmuseum:
"Es ist ein freies essayistisches Prinzip. Wir bringen zum Beispiel Albert Anker, einen Schweizer Heimatmaler, ins Gespräch mit Arnold Odermatt, den Polizisten, der während seiner Dienstzeit akribisch Autounfälle aufgenommen hat. Sie kommen ins Gespräch über das Spezifische im Schweizer Alltag."
Verkehrsunfälle als alltäglicher Wahnsinn: die Idylle ist hier in die Katastrophe umgeschlagen. Typisch für die Schweiz?
Einem eindringlichen Selbstbildnis Ferdinand Hodlers sind serielle Fotos des Performance-Künstlers Urs Lüthi zur Seite gehängt, auf denen er als androgynes Wesen posiert. Während Beat Streuli in seiner Wahlheimat Brüssel Passanten ganz unterschiedlicher Hautfarbe und Nationalität ablichtet. Diese Fotos zieren nun überdimensional die Museumsfassade:
"Seit ich in Brüssel wohne, bin ich fasziniert vom multikulturellen Leben in der Innenstadt dieser europäische Metropole – was ja im Grunde eine Absurdität ist, denn man kriegt den europäischen Charakter im Stadtzentrum nicht mit. Das Zentrum ist traditionell das Viertel der Immigranten – vor allem der nordafrikanischen, und auch speziell der aus den ehemaligen Kolonien Belgiens."
Es ist eine sehr assoziative Ausstellung. Gelegentlich sind die Überschriften der Räume und Kapitel eindrucksvoller als die jeweiligen Kunstwerke - und immer raschelt sehr viel Konzeptpapier. Ohne Erläuterungen sollte man nicht durch diese Schau gehen – und hat als Besucher auch nur dann Genuss, wenn man sich in dieses Spiel der Kunstdialoge wirklich vertieft.
Der Höhepunkt der Schweizer Rundreise ist gekommen, wenn sich die Folge schmaler Räume gegen Ende weitet und hier die Natur und speziell das Panorama der Berge zum Thema werden: mit Hodlers Landschaftskunst und modernen Gletscherfotos. Aber es gehören auch ungegenständliche Gemälde von Helmut Federle dazu, auf denen farbige Balken horizontal verteilt sind.
Nicht zu vergessen das bizarre Video von Pipilotti Rist.
Zu gediegenen Tönen erleben wir Aufnahmen von einer Geburt, eingebettet in monumentale Bergansichten – ein einziger visueller Ausdruck von Natur und Körperlichkeit.
Eine komplexe Ausstellung als Versuchsanordnung. Tatsächlich, die Schweiz lebt. Zu Minderwertigkeitsgefühlen besteht jedenfalls kein Anlass. " Würde man die Alpen mit all ihren Tälern ausglätten, wäre die Schweiz so groß wie Russland", wird im Katalog an einer Stelle bekräftigt. Mit der Flachlegung der Bergmassive hätte man dann übrigens einen alten Spontispruch verwirklicht: "Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!"
Service: Die Ausstellung "Swiss Made 1: Präzision und Wahnsinn. Positionen der Schweizer Kunst von Hodler bis Hirschhorn" ist vom 03.03. bis zum 24.06.07 in der Kunsthalle Wolfsburg zu sehen.
"Es ist interessant, dass in diesem kleinen Land die Kunst auch immer wieder die Politik berührt. Es gab einige handfeste Skandale, die hier im Museum auch thematisiert werden. Es hat vielleicht auch mit der Größe dieses Landes und der spezifischen Entwicklung von Identität zu tun. Das ist in einem größeren Land anders, wo die Kunst nicht diese Rolle spielt."
Diese Ausstellung fragt vor allem nach den kollektiven Eigenschaften der Landsleute, vielleicht sogar nach dem Schweizer "Nationalcharakter", wie er sich in der Kunst auf einer Zeitstrecke von rund 150 Jahren wieder findet.
Brüderlin bezeichnet seine Präsentation denn auch als "eine Art Reise durch helvetische Seelenlandschaften", spricht von einer "Psychotopographie", die er erkunden will, und nennt als "mentale Leitplanken" seiner Fahrt die Begriffe "Präzision" und "Wahnsinn". Ein beachtliches Vorhaben, gehen viele Zeitgenossen doch längst von einer internationalen Angleichung der Befindlichkeiten aus und schwadronieren über das "global village", das uns alle zunehmend in Beschlag nehme:
"Wir haben festgestellt, dass die Rede vom 'globalen Dorf', wo alles mit allem verschmilzt durch die Globalisierung, so nicht stimmt. Gerade wenn man sich näher kommt, und die Informationen frei fließen, ist das Bedürfnis nach nationalen Eigenheiten sehr groß. Die Schweiz ist da nur ein Beispiel. Es gibt ein großes Interesse zu erfahren: Was ist denn das Spezifische am Deutschen, am Italienischen oder eben an der Schweiz?"
Aber keine auf Vollständigkeit bedachte Präsentation erwartet den Besucher, keine chronologische Übersichtsschau mit einer Reihung von Namen und Stilen. In Wolfsburg möchte man vielmehr Dialoge stiften zwischen "alt" und "jung" und hat unter zwölf Überschriften Klassiker wie Klee und Giacometti mit Vertretern der Künstlergenerationen nach 68 zusammengebracht. So kommt es zu reizvollen Korrespondenzen.
Huldigt Max Bill mit penibel gemalten Rechtecken seiner Liebe zur Geometrie, so antwortet John M. Armleder mit einer Möbelskulptur – ein gutes Dutzend betagter Küchentische hat er so an die Wand gebracht, dass die nach vorn gekehrten farbigen Oberseiten das Prinzip des konstruktiven Bildes aufnehmen und zugleich ironisieren.
Dem Wahnsinn verfallen war hingegen der Patient Adolf Wölfli, der seine ornamentreichen Welten unermüdlich zu Papier brachte. Gegenüber diesem dämonischen Reich von einst hängt die expressive Malerei Martin Dislers, roh in den Inhalten und im Stil – Obsessionen in moderner Form. Immer neue fiktive Gespräche ermöglicht das Kunstmuseum:
"Es ist ein freies essayistisches Prinzip. Wir bringen zum Beispiel Albert Anker, einen Schweizer Heimatmaler, ins Gespräch mit Arnold Odermatt, den Polizisten, der während seiner Dienstzeit akribisch Autounfälle aufgenommen hat. Sie kommen ins Gespräch über das Spezifische im Schweizer Alltag."
Verkehrsunfälle als alltäglicher Wahnsinn: die Idylle ist hier in die Katastrophe umgeschlagen. Typisch für die Schweiz?
Einem eindringlichen Selbstbildnis Ferdinand Hodlers sind serielle Fotos des Performance-Künstlers Urs Lüthi zur Seite gehängt, auf denen er als androgynes Wesen posiert. Während Beat Streuli in seiner Wahlheimat Brüssel Passanten ganz unterschiedlicher Hautfarbe und Nationalität ablichtet. Diese Fotos zieren nun überdimensional die Museumsfassade:
"Seit ich in Brüssel wohne, bin ich fasziniert vom multikulturellen Leben in der Innenstadt dieser europäische Metropole – was ja im Grunde eine Absurdität ist, denn man kriegt den europäischen Charakter im Stadtzentrum nicht mit. Das Zentrum ist traditionell das Viertel der Immigranten – vor allem der nordafrikanischen, und auch speziell der aus den ehemaligen Kolonien Belgiens."
Es ist eine sehr assoziative Ausstellung. Gelegentlich sind die Überschriften der Räume und Kapitel eindrucksvoller als die jeweiligen Kunstwerke - und immer raschelt sehr viel Konzeptpapier. Ohne Erläuterungen sollte man nicht durch diese Schau gehen – und hat als Besucher auch nur dann Genuss, wenn man sich in dieses Spiel der Kunstdialoge wirklich vertieft.
Der Höhepunkt der Schweizer Rundreise ist gekommen, wenn sich die Folge schmaler Räume gegen Ende weitet und hier die Natur und speziell das Panorama der Berge zum Thema werden: mit Hodlers Landschaftskunst und modernen Gletscherfotos. Aber es gehören auch ungegenständliche Gemälde von Helmut Federle dazu, auf denen farbige Balken horizontal verteilt sind.
Nicht zu vergessen das bizarre Video von Pipilotti Rist.
Zu gediegenen Tönen erleben wir Aufnahmen von einer Geburt, eingebettet in monumentale Bergansichten – ein einziger visueller Ausdruck von Natur und Körperlichkeit.
Eine komplexe Ausstellung als Versuchsanordnung. Tatsächlich, die Schweiz lebt. Zu Minderwertigkeitsgefühlen besteht jedenfalls kein Anlass. " Würde man die Alpen mit all ihren Tälern ausglätten, wäre die Schweiz so groß wie Russland", wird im Katalog an einer Stelle bekräftigt. Mit der Flachlegung der Bergmassive hätte man dann übrigens einen alten Spontispruch verwirklicht: "Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!"
Service: Die Ausstellung "Swiss Made 1: Präzision und Wahnsinn. Positionen der Schweizer Kunst von Hodler bis Hirschhorn" ist vom 03.03. bis zum 24.06.07 in der Kunsthalle Wolfsburg zu sehen.