Eigentum ist Diebstahl

Von Ulrich Woelk |
Tagtäglich werden im Internet Millionen von Fotos, Musik und ganze Doktorarbeiten kopiert. Wenn das nicht ausschließlich zu privaten Zwecken geschieht, handelt es sich um eine Verletzung des Urheberrechts. Das sollte möglichst schnell ein Ende haben, meint Ulrich Woelk.
Eigentum ist Diebstahl – so lautet die vielleicht bekannteste und wirkungsvollste politische Parole der vergangenen hundert oder hundertfünfzig Jahre. Wer etwas besitzt – so die These hinter dem Schlachtruf –, der hat es anderen weggenommen. Eigentum teilt die Menschen in zwei Klassen ein: die Besitzenden und die Nicht-Besitzenden, die Inhaber und die Habenichtse.

Der Eigentumsbegriff, der dieser Annahme zugrunde liegt, geht auf Karl Marx zurück und umfasst hauptsächlich dingliche Güter: Häuser, Landbesitz und Produktionsmittel, Schmuck, Wertsachen oder Luxuswaren. Dass neben Waren und Gütern auch geistige und kulturelle Werke Reichtum begründen können, war vor hundertfünfzig Jahren ein Randphänomen, das mit dem Leben der Massen nicht das geringste zu tun hatte. Doch das hat sich inzwischen geändert.

Heutzutage werden in der Musik-, Film- und Softwareindustrie Milliardenbeträge umgesetzt, und dadurch stellt sich die Marxsche Frage noch einmal neu: Wessen Eigentum ist die MP3-Datei eines Musikhits oder eines Block-Busters, die sich in kürzester Zeit millionenfach kopieren lässt? Das des Künstlers, des Produzenten, des Plattenlabels oder Filmstudios oder des Internetproviders, auf dessen Server die Datei gespeichert ist? Gehört die Datei überhaupt jemandem? Oder sollte man mit Marx nicht hingehen, und auch geistig-kulturelles Eigentum kurzerhand zum Diebstahl erklären?

Die Fragen, um die es hier geht, sind abstrakt und bis heute ungeklärt. Das vor kurzem verabschiedete internationale ACTA-Abkommen zum Schutz von Urheberrechten und geistigem Eigentum sollte sie beantworten, doch stattdessen hat es einen Sturm der Entrüstung unter Internetaktivisten ausgelöst. Die vereinbarten Maßnahmen zur Verhinderung von Raubkopien, so Netzaktivisten, wie die Masken tragenden Mitglieder des Hacker-Netzwerkes Anonymus oder die Piratenpartei, seien eine Gefahr für den Datenschutz und die Informationsfreiheit.

Tatsache ist, dass sich das Problem des illegalen Kopierens von Netzinhalten gar nicht lösen lässt, solange nicht allen der Wert von geistigem Eigentum bewusst ist. Wie der Umgang der Konsumenten mit dem Internet zeigt, macht sich niemand klar, dass im Grunde jeder zum Opfer von Internetpiraterie werden kann.

Nehmen wir einmal an, ein begeisterter Hobbykoch postet auf der Chefkoch-de-Seite eine seiner kulinarischen Kreationen. Dort wird sie von einem professionellen Küchenchef entdeckt, nachgekocht und zum Renner eines Drei-Sterne-Restaurants am anderen Ende der Republik. Das Rezept generiert also Gewinne, ohne dass der Urheber daran beteiligt ist.

Es geht gar nicht nur um Songs oder Filme. Mittlerweile gibt es Anwaltsbüros, die gezielt illegal verwendete Inhalte im Internet – zum Beispiel kopierte Produktfotos für private e-Bay-Auktionen - aufspüren, um an den fälligen Abmahnungen zu verdienen. Die krassen Fälle von im Netz zusammengeklaubten Doktorarbeiten oder Romanen sind nur die Spitze eines enormen Copy-and-paste-Eisbergs.

Vielleicht wäre es daher tatsächlich sinnvoll – wie von vielen Netzaktivisten gefordert – Netzinhalte prinzipiell freizugeben, sprich: zu vergesellschaften und im Gegenzug das Bewusstsein für den Wert solcher Inhalte zu schärfen, um auf diese Weise einen Wandel von der allgegenwärtigen Kopier- und Umsonst- hin zu einer Bezahl-Mentalität im Internet zu erreichen.

Ob dieser Wandel auf freiwilliger Basis und ohne den Druck von Gesetzen aber wirklich zu erreichen ist, kann im Grunde niemand sagen. Es ist ein gewagtes Spiel. Denn über eines müssen sich die Befürworter einer Vergesellschaftung von Netzinhalte klar sein: Wenn man mit geistigem Eigentum kein Geld mehr verdienen kann, wenn also der Markt nicht mehr darüber entscheidet, welcher Film oder Song produziert, welcher Roman verlegt oder welche Online-Zeitung veröffentlicht wird, dann werden es andere tun. Kunst und Kultur würden dann gezwungenermaßen dorthin zurückkehren müssen, wo sie vor langer Zeit schon einmal waren: Zum Mäzenatentum. Und da würde sich der alte Marx wohl erst recht im Grabe umdrehen.


Ulrich Woelk, geboren 1960 in Köln, studierte Physik in Tübingen und Berlin. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 im S. Fischer Verlag und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1995 lebt Ulrich Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays sind unter anderem ins Chinesische, Französische, Englische und Polnische übersetzt. Zuletzt erschien "Joana Mandelbrot und ich".


Links auf dradio.de:

Zehntausende gegen ACTA auf der Straße - In ganz Deutschland demonstrieren Menschen für Internetfreiheit

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