Eigenwillige Perspektive einer ungewöhnlichen Dichterin

Rezensiert von Carola Wiemers |
Die "kritischen Schriften" von Ingeborg Bachmann versammeln die Essays und Vorlesungen der Dichterin zur Literatur und Musik sowie diverse Texte aus ihrem Nachlass. Ein Großteil davon war schon in der Werkausgabe von 1978 zu lesen, es gibt aber noch einiges bislang Unbekanntes zu entdecken, das den kosmopolitischen Weltblick der eigenwilligen Autorin offenbart.
Zweifellos sind es die "Frankfurter Vorlesungen" (gehalten im Wintersemester 1959/60) und die musikästhetischen Essays, mit denen die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926-1973) innerhalb der Literaturkritik für Aufsehen gesorgt hat. Wenngleich sie der Ansicht war, "alles, was über Werke gesagt wird, ist schwächer als die Werke", sind gerade diese Schriften Ausdruck einer kritischen Reflexion über die Probleme zeitgenössischer Dichtung.

In dem 1959 entstandenen Essay "Musik und Dichtung" übt Bachmann aber auch Kritik an einem musikalischen Ästhetizismus, der als "dekorative Umgebung aus Klang" längst verabschiedet ist, da die Musik nicht mehr den "begleitenden Text als Anlass" sucht, sondern eine "Sprache in harter Währung, einen Wert, an dem sie den ihren erproben kann". Mit dem Denkbild, dass Musik und Dichtung eine "Gangart des Geistes" haben, unterzieht sie auch den eigenen Schreibprozess einer kritischen Reflexion.

Dass die Mehrzahl dieser oft sperrigen Denkbilder einem intensiven Dialog mit dem Komponisten Hans Werner Henze entsprungen ist, belegte bereits der 2004 erschienene Briefwechsel zwischen der Dichterin und dem Musiker. Aus der Zusammenarbeit und theoretischen Verständigung zweier Gleichgesinnter entwickelten sich gemeinsame Projekte: Bachmann schreibt 1953 den "Monolog des Fürsten Myschkin" zu Henzes Ballettpantomime "Der Idiot", Henze komponiert die Musik für das Hörspiel "Die Zikaden" (1954/55).

Bachmanns Essayistik schloss auch eine Auseinandersetzung mit philosophischen und sprachkritischen Aspekten ein, die sie in Radio-Essays, Rezensionen und Reden in der Öffentlichkeit diskutierte. Dieser selbstreflektierende Vorgang konnte in der 1978 erschienenen vierbändigen Werkausgabe bereits nachvollzogen werden.

Nach fast drei Jahrzehnten folgt dieser Ausgabe nun ein von Monika Albrecht und Dirk Göttsche historisch-kritisch edierter Band von Schriften, der sämtliche derzeit zugänglichen Arbeiten umfasst. Gemeint sind damit die bis zum Tode Bachmanns im Jahr 1973 veröffentlichten sowie die "nachgelassenen Rezensionen, Essays, Radio-Essays, Reden, Vorlesungen, Aufzeichnungen und Entwürfe zu Fragen der Literatur, der Philosophie, der Musik und Kultur".

Ein Vergleich beider Publikationen lässt schnell erkennen, dass die Sichtung des Nachlasses keine spektakulären Ergebnisse brachte und der mit einem Kommentar und einem editorischen Nachwort versehene Band kaum Überraschungen enthält.

Neben zwei Rezensionen aus der österreichischen Monatsschrift "Wort und Wahrheit" wird das Interesse auf das bislang verschollen geglaubte Fragment "Logik als Mystik" sowie den Radio-Essay "Der Wiener Kreis" und den Aufsatz "Philosophie der Gegenwart" gelenkt, die zwischen 1952 und 1953 entstanden sind.

Aber auch Bachmanns literaturkritische Fragmente zur französischen Literatur und zum Verhältnis zwischen deutscher und italienischer Literatur werden denjenigen interessieren, dem der kosmopolitische Denkansatz und die eigenwillige Perspektive dieser Autorin als singuläre Zeiterscheinung schon immer von Bedeutung waren.

Ingeborg Bachmann: Kritische Schriften
Hrsg. v. Monika Albrecht und Dirk Göttsche.
Piper Verlag 2005. 828 Seiten, 49,90 Euro.