Ein abendfüllendes Programm

Von Evelyn Bartolmai |
Am kommenden Montag beginnt für Juden in aller Welt das Pessachfest, mit dem an den legendären Auszug der Kinder Israel aus Ägypten erinnert wird. Und zum Sederabend gehört die Pessach-Haggada.
Eine Haggada ist eine Geschichte oder Erzählung, in der jüdischen Tradition bezeichnet sie all das, was nicht zum Gesetz, auf Hebräisch Halacha, innerhalb der Lehre gehört. Das können Sagen und Legenden, aber auch Wundergeschichten, Rätsel und sogar Witze sein. Die bekannteste ist die Pessach-Haggada, die uns nach einer wohldurchdachten Dramaturgie erzählt, was in jener Nacht vor mehr als 3300 Jahren geschah.

Das Heer der vom Pharao geschundenen Sklaven wurde zu einem Volk, das unter der Führung von Moses in die Freiheit zog und sich dabei der göttlichen Gnade sicher sein konnte. Ursprünglich war dies nur die Geschichte vom Exodus, die man recht flott in 20 Minuten erzählt hatte, aber im Laufe der Zeit kamen immer weitere Legenden und Gleichnisse hinzu, die die Lesung der Haggada längst zum abendfüllenden Programm gemacht hat. Denn vor allem den Kindern soll nicht nur beigebracht werden, was genau und warum geschah, sondern jeder Generation wird aufs Neue eingeschärft, dass es die Pflicht eines jeden Einzelnen ist, sich der göttlichen Gnade würdig zu erweisen, indem man die von Gott den Menschen auferlegten Regeln erlernt.

Aber auch das bravste Kind wird irgendwann müde und unaufmerksam, und so verpackten die Altvorderen das nötige Wissen um die Elemente, die die praktisch-religiöse Basis des beim Exodus neu entstandenen jüdischen Volkes bilden, in lustige und leicht zu lernende Kinderlieder.

"Echad – mi jodea" ist ein solches Lied, das in Kurzform die Grundpfeiler der Welt beschreibt, in die die Kinder Israel in der Pessach-Nacht aufbrechen. Der Aufbau des Liedes ist dialogisch, es wird eine Frage gestellt und eine Antwort gegeben. Die erste Frage lautet "Wer kennt Eins?" oder "Wer mag Eins zu benennen?" – und die Antwort darauf lautet: "Eins weiß ich zu benennen: Eins ist unser Gott, im Himmel und auf Erden."

Die insgesamt 13 Fragen steigen numerisch zwar auf, gehen inhaltlich jedoch immer weiter in Details hinab, während die Antworten die jeweils vorangegangenen mit einbeziehen und wiederholen, und damit inhaltlich am Ende jedes Verses wieder bei Gott, dem Einzigen, ankommen. Wer je einmal ein Gedicht oder einen Liedtext auswendig gelernt hat, weiß, dass diese Worte ein Leben lang im Gedächtnis bleiben und erinnert werden – genau dies ist ja auch die Absicht, warum man etwas auswendig lernen soll.

Und welche Antworten gibt uns nun das Lied auf die Fragen, wer Dinge von Eins bis Dreizehn zu benennen weiß? Eins kennen wir bereits, es ist der Ewige, unser Gott im Himmel und auf Erden. Zwei – das sind die beiden Gesetzestafeln, die Moses am Berg Sinai in Empfang nahm, und dies geht so weiter bis zur Frage nach der Dreizehn, auf die Samson Rafael Hirsch in seiner 1884 in Frankfurt am Main erschienenen Pessach-Haggada die folgende, schön im Stil seiner Zeit formulierte Antwort gibt:

"Der 13 Tugenden Kranz zeigt des Vollkommensten Glanz.
Zwölf Stämme, - ein Haus, - macht Israel aus.
Elf Sternlein sich bückten, auf Joseph sie blickten.
Zehn Worte berichten uns Israels Pflichten.
Neun Monde dem Leben Vollendung erst geben.
In den Bund treten rein wir am achten Tag ein.
Sechs Tag’ sind zum Tun, der siebte zum Ruh’n.
In sechs Teile zerfällt, was die Mischna enthält.
Fünf Bücher enthüllen uns klar Gottes Willen.
Vier Mütter wir schauen als Vorbild der Frauen.
Drei Väter wir ehren, getreu ihren Lehren.
Zwei Tafeln zum Bund, Gott tat sie uns kund.
Doch einzig ist er, der Schöpfer und Herr, im Himmel gleich so, wie auf Erden."