Ein absolut notwendiges Buch
Atemlos beim Lesen war unser Rezensent Carsten Hueck angesichts dieser Schilderungen. Der Autor Rudolf Vrba konnte als 18-Jähriger aus Auschwitz fliehen und alarmierte die ungarische Regierung, Briten, Amerikaner und den Papst.
Mehr als 2.000 SS-Angehörige, Hunde, elektrische Zäune, Minen und ein breiter Streifen weißen Sandes sollten verhindern, dass jemand lebend dem Arbeits- und Vernichtungslager Auschwitz entkam. Dabei ging es den NS-Mördern in erster Linie gar nicht um einen Häftling mehr oder weniger. Sie fürchteten vor allem, dass ihr Projekt des industriellen Mordens, für das Auschwitz zur Chiffre geworden ist, einer Öffentlichkeit bekannt würde.
Als Auschwitz am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde, kämpfte Rudolf Vrba bei den tschechoslowakischen Partisanen. Neun Monate zuvor, im April 1944, war es ihm und seinem Kameraden Alfred Wetzler gelungen, aus dem Todeslager zu fliehen.
Sie wollten leben, aber vor allem auch bezeugen, was in Auschwitz passierte. Die Zeit drängte, Vrba wusste, dass die Deportation der ungarischen Juden geplant war. Sie sollten die Wahrheit über das, was ihnen in Auschwitz bevorstand, erfahren. Er wollte so den Tod von Hunderttausenden verhindern. Tatsächlich stoppte das ungarische Staatsoberhaupt Horthy schließlich die Deportationen. Vrbas Bericht war bis zum Papst, dem schwedischen König, Präsident Roosevelt und der britischen Regierung gedrungen – sie hatten daraufhin interveniert.
"Ich kann nicht vergeben – Meine Flucht aus Auschwitz" heißt Rudolf Vrbas Erinnerungsbuch, das nun knapp fünfzig Jahre nach dem ersten Erscheinen, in deutscher Übersetzung neu aufgelegt wird. Darin ein Vorwort von Beate Klarsfeld und eines von Vrba aus dem Jahr 2002. Herausgegeben und mit einem instruktiven Nachwort sowie Fotos und bibliografischen Anmerkungen versehen von Dagi Knellesen und Werner Renz, wissenschaftlichen Mitarbeitern am Fritz Bauer-Institut in Frankfurt/M.
Trotz des heutigen Kenntnisstands über die Verbrechen des Nationalsozialismus, trotz zahlreicher und vielfältiger Zeitzeugenberichte, trotz der Vielzahl literarischer Schilderungen und der umfangreichen Aufklärung über Auschwitz – hier handelt es sich um ein absolut notwendiges Buch. Eines, das überrascht, ergreift, ermutigt. Das atemlos macht beim Lesen – und dennoch, nur hier und da von einem sarkastischen Unterton durchzogen, ungemein nüchtern ist.
Man begreift, wie das Lager funktioniert hat. Abläufe und Strukturen, die Psychologie der Häftlinge und der Wachen, ihr Zusammenspiel. Vrba schildert zwei Jahre im Mikrokosmos Auschwitz – und man hat eine ganze Welt gesehen. Ihm gelingt es, alles detailreich und anschaulich, ohne Pathos, zu beschreiben. Die Toten und auch die Täter erhalten bei ihm Namen und Gesichter.
Vrbas Vorteil: er ist knapp 18, als er ins Lager kommt. Jung, intelligent, innerlich widerständig und lernfähig. Er macht die richtigen Kontakte, ist nach kurzer Zeit innerhalb der Lagerhierarchie gut vernetzt - eingeteilt zu Arbeiten, die das Überleben fördern. Instinktiv spürt er, wem zu trauen ist, wem nicht, wann man blufft oder besser den Mund hält, wie man nicht auffällt. Doch das allein hätte nie gereicht. Ob halb tot geprügelt, mit Flecktyphus infiziert oder auf der Flucht – er hatte einfach auch Glück.
Am Ende seines Buches beschreibt der Autor die Wirkungsgeschichte des Vrba-Wetzler-Berichts. Erklärt seinen Entschluss, sich den Partisanen anzuschließen und nimmt Bezug auf den Frankfurter Auschwitz-Prozess – bei dem er 1964 als Zeuge aussagte. Vielleicht ist das eine ebenso wichtige Mitteilung wie die Dokumentation der Verbrechen an sich: Es gibt ein Nachher. Für die Täter und die, die ihnen entkamen.
Besprochen von Carsten Hueck
Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben - Meine Flucht aus Auschwitz
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt / Main 2010
496 Seiten, 28,00 Euro
Als Auschwitz am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde, kämpfte Rudolf Vrba bei den tschechoslowakischen Partisanen. Neun Monate zuvor, im April 1944, war es ihm und seinem Kameraden Alfred Wetzler gelungen, aus dem Todeslager zu fliehen.
Sie wollten leben, aber vor allem auch bezeugen, was in Auschwitz passierte. Die Zeit drängte, Vrba wusste, dass die Deportation der ungarischen Juden geplant war. Sie sollten die Wahrheit über das, was ihnen in Auschwitz bevorstand, erfahren. Er wollte so den Tod von Hunderttausenden verhindern. Tatsächlich stoppte das ungarische Staatsoberhaupt Horthy schließlich die Deportationen. Vrbas Bericht war bis zum Papst, dem schwedischen König, Präsident Roosevelt und der britischen Regierung gedrungen – sie hatten daraufhin interveniert.
"Ich kann nicht vergeben – Meine Flucht aus Auschwitz" heißt Rudolf Vrbas Erinnerungsbuch, das nun knapp fünfzig Jahre nach dem ersten Erscheinen, in deutscher Übersetzung neu aufgelegt wird. Darin ein Vorwort von Beate Klarsfeld und eines von Vrba aus dem Jahr 2002. Herausgegeben und mit einem instruktiven Nachwort sowie Fotos und bibliografischen Anmerkungen versehen von Dagi Knellesen und Werner Renz, wissenschaftlichen Mitarbeitern am Fritz Bauer-Institut in Frankfurt/M.
Trotz des heutigen Kenntnisstands über die Verbrechen des Nationalsozialismus, trotz zahlreicher und vielfältiger Zeitzeugenberichte, trotz der Vielzahl literarischer Schilderungen und der umfangreichen Aufklärung über Auschwitz – hier handelt es sich um ein absolut notwendiges Buch. Eines, das überrascht, ergreift, ermutigt. Das atemlos macht beim Lesen – und dennoch, nur hier und da von einem sarkastischen Unterton durchzogen, ungemein nüchtern ist.
Man begreift, wie das Lager funktioniert hat. Abläufe und Strukturen, die Psychologie der Häftlinge und der Wachen, ihr Zusammenspiel. Vrba schildert zwei Jahre im Mikrokosmos Auschwitz – und man hat eine ganze Welt gesehen. Ihm gelingt es, alles detailreich und anschaulich, ohne Pathos, zu beschreiben. Die Toten und auch die Täter erhalten bei ihm Namen und Gesichter.
Vrbas Vorteil: er ist knapp 18, als er ins Lager kommt. Jung, intelligent, innerlich widerständig und lernfähig. Er macht die richtigen Kontakte, ist nach kurzer Zeit innerhalb der Lagerhierarchie gut vernetzt - eingeteilt zu Arbeiten, die das Überleben fördern. Instinktiv spürt er, wem zu trauen ist, wem nicht, wann man blufft oder besser den Mund hält, wie man nicht auffällt. Doch das allein hätte nie gereicht. Ob halb tot geprügelt, mit Flecktyphus infiziert oder auf der Flucht – er hatte einfach auch Glück.
Am Ende seines Buches beschreibt der Autor die Wirkungsgeschichte des Vrba-Wetzler-Berichts. Erklärt seinen Entschluss, sich den Partisanen anzuschließen und nimmt Bezug auf den Frankfurter Auschwitz-Prozess – bei dem er 1964 als Zeuge aussagte. Vielleicht ist das eine ebenso wichtige Mitteilung wie die Dokumentation der Verbrechen an sich: Es gibt ein Nachher. Für die Täter und die, die ihnen entkamen.
Besprochen von Carsten Hueck
Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben - Meine Flucht aus Auschwitz
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt / Main 2010
496 Seiten, 28,00 Euro