"Ein Aha-Erlebnis" für den neuen Pharao
Der Muslimbruder Mohammed Mursi wollte der Präsident aller Ägypter sein. Noch kein halbes Jahr im Amt hat er ein Dekret erlassen, das ihm weitreichende Vollmachten verleiht. Die Proteste dagegen bringen "frischen Wind in die Demonstrationslandschaft", sagt Ronald Meinardus von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kairo.
Joachim Scholl: Er ist der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens: Mohammed Mursi. Im Ausland wurde der Muslimbruder allseits begrüßt, weil er so gemäßigt schien und zuletzt bei der Waffenruhe zwischen Israelis und Palästinensern entscheidend vermittelte. Doch jetzt protestieren in Ägypten Tausende gegen Mursi und seinen innenpolitischen Staatsstreich, sein Dekret, wonach er ganz allein im Staat das Sagen hat und keine seiner Entscheidungen anfechtbar ist, nicht einmal vom obersten Verfassungsgericht. Heute Nachmittag haben seine Kritiker zu Massendemonstrationen aufgerufen. Am Telefon in Kairo ist jetzt Ronald Meinardus von der Friedrich-Naumann-Stiftung. Guten Morgen, Herr Meinardus!
Ronald Meinardus: Schönen guten Morgen!
Scholl: Im Januar 2011*) hat die Welt erlebt, wie das Volk ein autokratisches Regime binnen Kurzem stürzen kann. Wiederholt sich jetzt, kaum zehn Monate später die Geschichte?
Meinardus: Also so ganz so schnell schießen die Preußen nicht, sage ich jetzt mal, weil Herr Mursi ja ganz anders als Herr Mubarak eine demokratische Legitimation hat, indem er gewählt wurde von einer Mehrheit der Ägypter. Gleichzeitig muss man sagen, er ist kein Nelson Mandela. Er ist mit einer äußerst knappen Mehrheit gewählt worden, es war ein ausgesprochen knapper Wahlausgang, und damals schon haben sich knapp 50 Prozent der an der Wahl beteiligten Ägypterinnen und Ägypter gegen ihn ausgesprochen. Insofern ist Herr Mursi kein Konsenskandidat, und das ist sicherlich eine große Enttäuschung sehr vieler Ägypter, auch jener Ägypter, die ihn gewählt haben nach einigen Monaten seiner Amtszeit. Er hat es nicht verstanden, Brücken zu bauen, er ist eben der Präsident der Muslimbrüder, und es gibt hier sehr, sehr viele Ägypter, die große Vorbehalte haben gegen diese Art der Politik, die gegen eine Vermengung von Politik und islamischer, islamistischer Religion sind, und er hat es nicht verstanden, hier einen Konsens herzustellen. Und insofern ist jetzt dieses Ermächtigungsdekret, das am vergangenen Donnerstag bekannt geworden ist, für viele gewissermaßen so der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, und daher muss heute Nachmittag doch mit einem erheblichen Treiben auf dem Tahrir-Platz gerechnet werden.
Scholl: Kaum war Mursis Coup verkündet, gingen die Menschen auf die Straße. Zeugt dieser Reflex von einer neuen, frisch ausgebildeten Muskulatur der ägyptischen Bürger, solchen autoritären Bestrebungen gleich in den Arm zu fallen, sprich: Sind die Demonstranten noch im Training?
Meinardus: Also ich würde sagen, sie sind nie aus dem Training herausgekommen, und dieser Coup von Herrn Mursi erfolgte am Donnerstag, und schon einige Tage vorher hatten sich Demonstranten wegen einer ganz anderen Geschichte auf dem Tahrir-Platz versammelt zum Gedenken an die Märtyrer, wie das hier genannt wird, von der Mohammed-Mahmud-Straße, wo nämlich das Militärregime, das auf Herrn Mubarak folgte, vor einem Jahr ziemlich brutal Dutzende von Ägyptern umgebracht hat. Und diese Demonstration, die schlug dann am Freitag und am Samstag und bis zu den Stunden, wo wir jetzt reden, halt in eine andere Tonlage um. Da ging es dann weniger um ein Gedenken an die Märtyrer und um die nicht hergestellte Gerechtigkeit, da ging es auf einmal um einen Protest gegen den neuen Pharao, wie Mohammed Mursi hier auch genannt wird. Da geht das eine in das andere über. Man kann aber sagen, man sollte aber auch sagen, in den letzten Monaten ist es hier zu einer gewissen Ermüdung gekommen, viele Menschen sind die wöchentlichen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz müde, wobei jetzt durch diese doch ganz besondere Eskalation durch den Präsidenten, muss man sagen, ein frischer Wind in die Demonstrationslandschaft geraten ist. Und wir müssen davon ausgehen, dass wie gesagt das heute eine neue Zuspitzung erfährt. Viele rechnen damit, dass die "Millioneia", wie sie hier auf Arabisch heißt, also der Marsch der Millionen, zwar nicht Millionen erreicht wie seinerzeit im Frühjahr 2011, sondern durchaus einige Hunderttausend hier ins Stadtzentrum von Kairo strömen, um ihrem Unmut Gehör zu verschaffen.
Scholl: Wie tief verwurzelt, Herr Meinardus, ist die demokratische Idee demnach schon in der ägyptischen Zivilgesellschaft, oder ist das eine westliche, vorschnell optimistische Sicht?
Meinardus: Ja, das ist eine ausgesprochen willkommene und auch drängende Frage. Erstens der Begriff der Zivilgesellschaft, der wird bei uns ja häufig assoziiert mit eher säkularen Menschenrechtsverfechtern, Frauen- und Feministinnengruppen und dergleichen mehr. Die eigentlich reale Zivilgesellschaft, das heißt, das Netzwerk, das bei Staatsversagen eintritt und soziale Leistungen erbringt und den Menschen dort hilft, wo der Staat sie nicht abholt – und der Staat holt viele Menschen hier nicht ab –, das ist in Ägypten eine islamistische Zivilgesellschaft. Und das ist eine Erkenntnis, an die sich viele in unseren Breiten erst gewöhnen müssen. Also die Zivilgesellschaft, die politisch aktive, gesellschaftlich aktive Zivilgesellschaft ist hier vor allem islamistisch. Die pro-westliche Zivilgesellschaft, die gewissermaßen die Sprache spricht, die wir sprechen, die unsere Werte hat, ist im neuen demokratischen Ägypten eine kleine Minderheit, und sie ist relativ laut, sie ist in Deutschland und im westlichen Ausland sehr gut vernehmbar, weil sie unsere Sprachen spricht, weil sie unsere Medien gebraucht, aber im Gesamtkontext der ägyptischen Politik ist sie leider nicht mehrheitsfähig.
Scholl: Ägypten vor neuen Massendemonstrationen – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Ronald Meinardus von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kairo. War dieser Griff von Mohammed Mursi nach der Macht eine spontane Aktion oder ist das Teil einer Strategie? Wie schätzen Sie das ein?
Meinardus: Ich bin kein Psychologe, aber es hat in den wenigen Monaten, in denen er am Ruder ist, schon mehr als eine Aktion gegeben, die er dann rückgängig gemacht hat, und die man als nicht besonders gut durchdacht bezeichnen kann. Diese Verfassungsänderung beziehungsweise dieses Ermächtigungsdekret ist von ihm veröffentlicht worden ohne Rücksprache mit seinem Justizminister Ahmed Mekki. Und Ahmed Mekki, ein unabhängiger Jurist, der damals schon zu Mubaraks Zeiten wichtige Arbeit geleistet hat für die Unabhängigkeit der Justiz, der zeigte sich ausgesprochen erschrocken von diesem Dekret, und er ist es dann jetzt auch, der die Brücke baut zu den obersten Richtern. Insofern deutet einiges darauf hin, dass es nicht eine spontane, aber sicherlich eine unkoordinierte Aktion war. Schwierig ist es jetzt aber für ihn im Sinne von Gesicht wahren, jetzt alles zurückzunehmen. Insofern kommt es jetzt ein bisschen darauf an, dass die unterschiedlichen Seiten aufeinander zugehen – das ist sehr schwierig, denn in Ägypten, es ist eine sehr, sehr junge Demokratie, gibt es nicht die Kultur des Kompromisses, wie wir sie in Europa etwa kennen, auch lange erarbeiten mussten, und insofern werden die nächsten Tage und Wochen zeigen, ob es hier zu einer für dieses Land neuartigen Entwicklung kommen kann. Im Moment sehr, sehr schwer, die soziokulturellen und die psychologischen Voraussetzungen weisen nicht darauf hin, dass hier einer großes Nachgeben zeigen kann.
Scholl: Nun muss Mursi ja seinerseits überrascht sein von der Heftigkeit des Protests – oder fühlt er sich mit seiner Anhängerschaft so sicher, dass ihm die Kritik nichts anhaben kann?
Meinardus: Nein, das ist sicherlich ein Aha-Erlebnis für ihn, zumal auch in seinen eigenen Reihen Widerstand beziehungsweise Unmut beziehungsweise Opposition laut geworden ist. Er hat ganz offenkundig die Situation verschätzt und möglicherweise kann man das mit der Parole die Arroganz der Macht bezeichnen, dass schon nach wenigen Monaten sich zeigt, dass Herr Mursi, der angetreten war, der Präsident aller Ägypter zu sein, der sich gerne auch unters Volk mischte, dass er jetzt sich schon in einer Art und Weise verhält, die an alte imperiale Zeiten gewissermaßen erinnern, und darum sind die Ägypter ja auch so entsetzt, und darum sind sie so auch enttäuscht über diesen neuen Präsidenten. Und jetzt meine ich nicht nur die Säkularisten und die Liberalen, die von Anfang an nichts mit diesem Menschen anfangen konnten, aber auch die vielen Ägypter, die islamistisch gewählt haben, mit denen ich spreche, sind ziemlich entsetzt über diesen Präsidenten. Und insofern hat er sich in dieser Richtung, in dieser Geschichte sehr, sehr stark verkalkuliert.
Scholl: Ägypten und die neuen Proteste gegen Präsident Mursi – das war Ronald Meinardus von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kairo. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Meinardus!
Meinardus: Ich bedanke mich auch, Wiederhören!
*) Redaktioneller Hinweis: Die verschriftete Fassung weicht an dieser Stelle von der Audio-Fassung ab.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Links bei dradio.de:
Mursi-Gegner lassen nicht locker -
Ägyptens Präsident will an umstrittenem Dekret festhalten
Mursi beschneidet Macht der Justiz -
Gewaltsame Proteste gegen den ägyptischen Präsidenten
Präsident Mursi sollte "der Opposition ein Signal" geben - Hans-Gert Pöttering (CDU), Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und Europaparlamentarier, zur Lage in Ägypten
Mit der Einschränkung der Rechte der Justiz "spaltet" Mursi das Land - Politologe sieht derzeit keine Gefahr eines Bürgerkrieges
Ronald Meinardus: Schönen guten Morgen!
Scholl: Im Januar 2011*) hat die Welt erlebt, wie das Volk ein autokratisches Regime binnen Kurzem stürzen kann. Wiederholt sich jetzt, kaum zehn Monate später die Geschichte?
Meinardus: Also so ganz so schnell schießen die Preußen nicht, sage ich jetzt mal, weil Herr Mursi ja ganz anders als Herr Mubarak eine demokratische Legitimation hat, indem er gewählt wurde von einer Mehrheit der Ägypter. Gleichzeitig muss man sagen, er ist kein Nelson Mandela. Er ist mit einer äußerst knappen Mehrheit gewählt worden, es war ein ausgesprochen knapper Wahlausgang, und damals schon haben sich knapp 50 Prozent der an der Wahl beteiligten Ägypterinnen und Ägypter gegen ihn ausgesprochen. Insofern ist Herr Mursi kein Konsenskandidat, und das ist sicherlich eine große Enttäuschung sehr vieler Ägypter, auch jener Ägypter, die ihn gewählt haben nach einigen Monaten seiner Amtszeit. Er hat es nicht verstanden, Brücken zu bauen, er ist eben der Präsident der Muslimbrüder, und es gibt hier sehr, sehr viele Ägypter, die große Vorbehalte haben gegen diese Art der Politik, die gegen eine Vermengung von Politik und islamischer, islamistischer Religion sind, und er hat es nicht verstanden, hier einen Konsens herzustellen. Und insofern ist jetzt dieses Ermächtigungsdekret, das am vergangenen Donnerstag bekannt geworden ist, für viele gewissermaßen so der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, und daher muss heute Nachmittag doch mit einem erheblichen Treiben auf dem Tahrir-Platz gerechnet werden.
Scholl: Kaum war Mursis Coup verkündet, gingen die Menschen auf die Straße. Zeugt dieser Reflex von einer neuen, frisch ausgebildeten Muskulatur der ägyptischen Bürger, solchen autoritären Bestrebungen gleich in den Arm zu fallen, sprich: Sind die Demonstranten noch im Training?
Meinardus: Also ich würde sagen, sie sind nie aus dem Training herausgekommen, und dieser Coup von Herrn Mursi erfolgte am Donnerstag, und schon einige Tage vorher hatten sich Demonstranten wegen einer ganz anderen Geschichte auf dem Tahrir-Platz versammelt zum Gedenken an die Märtyrer, wie das hier genannt wird, von der Mohammed-Mahmud-Straße, wo nämlich das Militärregime, das auf Herrn Mubarak folgte, vor einem Jahr ziemlich brutal Dutzende von Ägyptern umgebracht hat. Und diese Demonstration, die schlug dann am Freitag und am Samstag und bis zu den Stunden, wo wir jetzt reden, halt in eine andere Tonlage um. Da ging es dann weniger um ein Gedenken an die Märtyrer und um die nicht hergestellte Gerechtigkeit, da ging es auf einmal um einen Protest gegen den neuen Pharao, wie Mohammed Mursi hier auch genannt wird. Da geht das eine in das andere über. Man kann aber sagen, man sollte aber auch sagen, in den letzten Monaten ist es hier zu einer gewissen Ermüdung gekommen, viele Menschen sind die wöchentlichen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz müde, wobei jetzt durch diese doch ganz besondere Eskalation durch den Präsidenten, muss man sagen, ein frischer Wind in die Demonstrationslandschaft geraten ist. Und wir müssen davon ausgehen, dass wie gesagt das heute eine neue Zuspitzung erfährt. Viele rechnen damit, dass die "Millioneia", wie sie hier auf Arabisch heißt, also der Marsch der Millionen, zwar nicht Millionen erreicht wie seinerzeit im Frühjahr 2011, sondern durchaus einige Hunderttausend hier ins Stadtzentrum von Kairo strömen, um ihrem Unmut Gehör zu verschaffen.
Scholl: Wie tief verwurzelt, Herr Meinardus, ist die demokratische Idee demnach schon in der ägyptischen Zivilgesellschaft, oder ist das eine westliche, vorschnell optimistische Sicht?
Meinardus: Ja, das ist eine ausgesprochen willkommene und auch drängende Frage. Erstens der Begriff der Zivilgesellschaft, der wird bei uns ja häufig assoziiert mit eher säkularen Menschenrechtsverfechtern, Frauen- und Feministinnengruppen und dergleichen mehr. Die eigentlich reale Zivilgesellschaft, das heißt, das Netzwerk, das bei Staatsversagen eintritt und soziale Leistungen erbringt und den Menschen dort hilft, wo der Staat sie nicht abholt – und der Staat holt viele Menschen hier nicht ab –, das ist in Ägypten eine islamistische Zivilgesellschaft. Und das ist eine Erkenntnis, an die sich viele in unseren Breiten erst gewöhnen müssen. Also die Zivilgesellschaft, die politisch aktive, gesellschaftlich aktive Zivilgesellschaft ist hier vor allem islamistisch. Die pro-westliche Zivilgesellschaft, die gewissermaßen die Sprache spricht, die wir sprechen, die unsere Werte hat, ist im neuen demokratischen Ägypten eine kleine Minderheit, und sie ist relativ laut, sie ist in Deutschland und im westlichen Ausland sehr gut vernehmbar, weil sie unsere Sprachen spricht, weil sie unsere Medien gebraucht, aber im Gesamtkontext der ägyptischen Politik ist sie leider nicht mehrheitsfähig.
Scholl: Ägypten vor neuen Massendemonstrationen – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Ronald Meinardus von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kairo. War dieser Griff von Mohammed Mursi nach der Macht eine spontane Aktion oder ist das Teil einer Strategie? Wie schätzen Sie das ein?
Meinardus: Ich bin kein Psychologe, aber es hat in den wenigen Monaten, in denen er am Ruder ist, schon mehr als eine Aktion gegeben, die er dann rückgängig gemacht hat, und die man als nicht besonders gut durchdacht bezeichnen kann. Diese Verfassungsänderung beziehungsweise dieses Ermächtigungsdekret ist von ihm veröffentlicht worden ohne Rücksprache mit seinem Justizminister Ahmed Mekki. Und Ahmed Mekki, ein unabhängiger Jurist, der damals schon zu Mubaraks Zeiten wichtige Arbeit geleistet hat für die Unabhängigkeit der Justiz, der zeigte sich ausgesprochen erschrocken von diesem Dekret, und er ist es dann jetzt auch, der die Brücke baut zu den obersten Richtern. Insofern deutet einiges darauf hin, dass es nicht eine spontane, aber sicherlich eine unkoordinierte Aktion war. Schwierig ist es jetzt aber für ihn im Sinne von Gesicht wahren, jetzt alles zurückzunehmen. Insofern kommt es jetzt ein bisschen darauf an, dass die unterschiedlichen Seiten aufeinander zugehen – das ist sehr schwierig, denn in Ägypten, es ist eine sehr, sehr junge Demokratie, gibt es nicht die Kultur des Kompromisses, wie wir sie in Europa etwa kennen, auch lange erarbeiten mussten, und insofern werden die nächsten Tage und Wochen zeigen, ob es hier zu einer für dieses Land neuartigen Entwicklung kommen kann. Im Moment sehr, sehr schwer, die soziokulturellen und die psychologischen Voraussetzungen weisen nicht darauf hin, dass hier einer großes Nachgeben zeigen kann.
Scholl: Nun muss Mursi ja seinerseits überrascht sein von der Heftigkeit des Protests – oder fühlt er sich mit seiner Anhängerschaft so sicher, dass ihm die Kritik nichts anhaben kann?
Meinardus: Nein, das ist sicherlich ein Aha-Erlebnis für ihn, zumal auch in seinen eigenen Reihen Widerstand beziehungsweise Unmut beziehungsweise Opposition laut geworden ist. Er hat ganz offenkundig die Situation verschätzt und möglicherweise kann man das mit der Parole die Arroganz der Macht bezeichnen, dass schon nach wenigen Monaten sich zeigt, dass Herr Mursi, der angetreten war, der Präsident aller Ägypter zu sein, der sich gerne auch unters Volk mischte, dass er jetzt sich schon in einer Art und Weise verhält, die an alte imperiale Zeiten gewissermaßen erinnern, und darum sind die Ägypter ja auch so entsetzt, und darum sind sie so auch enttäuscht über diesen neuen Präsidenten. Und jetzt meine ich nicht nur die Säkularisten und die Liberalen, die von Anfang an nichts mit diesem Menschen anfangen konnten, aber auch die vielen Ägypter, die islamistisch gewählt haben, mit denen ich spreche, sind ziemlich entsetzt über diesen Präsidenten. Und insofern hat er sich in dieser Richtung, in dieser Geschichte sehr, sehr stark verkalkuliert.
Scholl: Ägypten und die neuen Proteste gegen Präsident Mursi – das war Ronald Meinardus von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kairo. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Meinardus!
Meinardus: Ich bedanke mich auch, Wiederhören!
*) Redaktioneller Hinweis: Die verschriftete Fassung weicht an dieser Stelle von der Audio-Fassung ab.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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