Ein Ameisenhaufen namens Menschheit
Keine bildungsbürgerliche Literaturnacherzählung, sondern eine Überforderung der Zuschauer ist "Krieg und Frieden" in Recklinghausen. Regisseur Sebastian Hartmann gelingt ein Triumph des Theaters, indem er die zeitlosen Themen des Romans in einer assoziativen Annäherung verhandelt.
Nicht eben für die Bühne geschrieben scheint Leo Tolstois Monumental-Epos "Krieg und Frieden". Auf anderthalbtausend Seiten treten 250 Charaktere auf, ein Jahrzehnt der napoleonischen Kriege zieht vorbei, und es geht um die großen Fragen, wie leben, wie lieben und wie sterben.
Sebastian Hartmann verzichtet völlig darauf, die Schauspieler einzelne Charaktere spielen zu lassen, sondern lässt im ersten Teil des Abends das Ensemble den Tolstoi-Text als assoziative und chorische Textkollage erarbeiten. So ergeben sich zwischen den Darstellern in historisierenden Kostümen immer neue Bezüge, werden überraschende Sinnzusammenhänge zwischen den verschiedenen Ebenen der Vorlage sichtbar.
Und es entsteht auf der Bühne ein großes Ganzes, eben jener Ameisenhaufen namens Menschheit, als den Tolstoi selber einmal seinen Roman bezeichnet hat. Diese Textcollage ist ein großer Genuss, wenn man Tolstoi zuvor gelesen hat, ansonsten wird es der Zuschauer schwer haben, die schon in der Vorlage äußerst verschachtelten, unzähligen Handlungsstränge zu verstehen.
Das ändert sich brachial im zweiten Teil des Abends, in dem es nach der Pause ein wenig den Anschein hat, als habe Hartmann (oder Tolstoi) Zuschauern und Schauspielern zugerufen, "ich habe euch gezeigt, wie Historiendrama funktioniert", um jetzt in den folgenden vier Stunden die wirklich zeitlosen Themen der Vorlage zu verhandeln.
Komplexe wie Liebe und Sehnsucht werden von Hartmanns Leipziger Ensemble in einer Art Nummernrevue reflektiert und kommen auch ästhetisch immer mehr in der Gegenwart an: Aus den züchtigen, weißen Kleidern der jungen Russinnen-Gattinnen werden jetzt schon einmal selbstbewusste Frauen im Glitzerfummel, die genau die gleichen Sehnsüchte und Probleme mit sich rumtragen wie die Frauen im Russland zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts.
Bis man im dritten Teil nach dem Tod Andréjs auf dem Schlachtfeld im Jenseits angekommen scheint. Projektionen wie Glück und Liebe laden zum Nachdenken ein, was in der kommenden Stunde noch auf der inzwischen auch durch die kalte Neonbeleuchtung ganz in die Gegenwart transformierten Bühne passieren mag.
Das Bühnenbild des Leipziger Malers Tilo Baumgärtel ergänzt hervorragend Hartmanns Konzept der assoziativen Annäherung anstelle einer psychologischen Nacherzählung. Zwei übereinander hängende, voll bewegliche, riesige Platten eröffnen immer neue Assoziationsräume. Können, nach hinten gekippt, die Schauspieler fünf Meter über den Boden tragen, während im Hintergrund schon die Fahnen von Bonapartes Truppen zu sehen sind, um im nächsten Augenblick zwei alte Männer am Ende ihres Leben im Gerüst unter dem Boden preiszugeben. Hartmann gelingt so vor allem im ersten Teil das Kunststück, schneller zwischen Szenen und Räumen zu schneiden, als ein Filmregisseur es je könnte. Und alleine das ist ein echter Triumph für das Theater.
Heike Makatsch als prominentes Aushängeschild dieses Abends fügt sich wunderbar in das Ensemble ein. Ihre Bühnenpräsens, wenn Sie durch die Rollen von Márja bis Andréj geistert, ist gewaltig, schon aufgrund ihrer Körperlichkeit, die sie oft wie ein Harlekin aus der Masse der 14 Darsteller hervorstechen lässt. Aber auch der Rest des Ensembles gibt sich mit Hingabe Hartmanns Reflexion über die großen, existentiellen Menschheitsfragen hin.
"Wie soll man richtig leben?", "Wie soll man lieben?", "Wozu das alles?", "Gibt es eine größere Macht als unseren Zweifel?", "Wie steht es mit dem Leben nach dem Tod?", sind die Fragen, die bei Tolstoi in der Vorlage und bei Hartmann an diesem Abend immer zu erspüren sind. Und zwar nicht als bildungsbürgerliche Literaturnacherzählung, sondern als eine Überforderung der Zuschauer, von denen jeder Einzelne aus der Fülle der Assoziationen seine Bedeutungen und vielleicht sogar einige Antworten destillieren muss.
Informationen der Ruhrfestspiele zu "Krieg und Frieden"
Sebastian Hartmann verzichtet völlig darauf, die Schauspieler einzelne Charaktere spielen zu lassen, sondern lässt im ersten Teil des Abends das Ensemble den Tolstoi-Text als assoziative und chorische Textkollage erarbeiten. So ergeben sich zwischen den Darstellern in historisierenden Kostümen immer neue Bezüge, werden überraschende Sinnzusammenhänge zwischen den verschiedenen Ebenen der Vorlage sichtbar.
Und es entsteht auf der Bühne ein großes Ganzes, eben jener Ameisenhaufen namens Menschheit, als den Tolstoi selber einmal seinen Roman bezeichnet hat. Diese Textcollage ist ein großer Genuss, wenn man Tolstoi zuvor gelesen hat, ansonsten wird es der Zuschauer schwer haben, die schon in der Vorlage äußerst verschachtelten, unzähligen Handlungsstränge zu verstehen.
Das ändert sich brachial im zweiten Teil des Abends, in dem es nach der Pause ein wenig den Anschein hat, als habe Hartmann (oder Tolstoi) Zuschauern und Schauspielern zugerufen, "ich habe euch gezeigt, wie Historiendrama funktioniert", um jetzt in den folgenden vier Stunden die wirklich zeitlosen Themen der Vorlage zu verhandeln.
Komplexe wie Liebe und Sehnsucht werden von Hartmanns Leipziger Ensemble in einer Art Nummernrevue reflektiert und kommen auch ästhetisch immer mehr in der Gegenwart an: Aus den züchtigen, weißen Kleidern der jungen Russinnen-Gattinnen werden jetzt schon einmal selbstbewusste Frauen im Glitzerfummel, die genau die gleichen Sehnsüchte und Probleme mit sich rumtragen wie die Frauen im Russland zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts.
Bis man im dritten Teil nach dem Tod Andréjs auf dem Schlachtfeld im Jenseits angekommen scheint. Projektionen wie Glück und Liebe laden zum Nachdenken ein, was in der kommenden Stunde noch auf der inzwischen auch durch die kalte Neonbeleuchtung ganz in die Gegenwart transformierten Bühne passieren mag.
Das Bühnenbild des Leipziger Malers Tilo Baumgärtel ergänzt hervorragend Hartmanns Konzept der assoziativen Annäherung anstelle einer psychologischen Nacherzählung. Zwei übereinander hängende, voll bewegliche, riesige Platten eröffnen immer neue Assoziationsräume. Können, nach hinten gekippt, die Schauspieler fünf Meter über den Boden tragen, während im Hintergrund schon die Fahnen von Bonapartes Truppen zu sehen sind, um im nächsten Augenblick zwei alte Männer am Ende ihres Leben im Gerüst unter dem Boden preiszugeben. Hartmann gelingt so vor allem im ersten Teil das Kunststück, schneller zwischen Szenen und Räumen zu schneiden, als ein Filmregisseur es je könnte. Und alleine das ist ein echter Triumph für das Theater.
Heike Makatsch als prominentes Aushängeschild dieses Abends fügt sich wunderbar in das Ensemble ein. Ihre Bühnenpräsens, wenn Sie durch die Rollen von Márja bis Andréj geistert, ist gewaltig, schon aufgrund ihrer Körperlichkeit, die sie oft wie ein Harlekin aus der Masse der 14 Darsteller hervorstechen lässt. Aber auch der Rest des Ensembles gibt sich mit Hingabe Hartmanns Reflexion über die großen, existentiellen Menschheitsfragen hin.
"Wie soll man richtig leben?", "Wie soll man lieben?", "Wozu das alles?", "Gibt es eine größere Macht als unseren Zweifel?", "Wie steht es mit dem Leben nach dem Tod?", sind die Fragen, die bei Tolstoi in der Vorlage und bei Hartmann an diesem Abend immer zu erspüren sind. Und zwar nicht als bildungsbürgerliche Literaturnacherzählung, sondern als eine Überforderung der Zuschauer, von denen jeder Einzelne aus der Fülle der Assoziationen seine Bedeutungen und vielleicht sogar einige Antworten destillieren muss.
Informationen der Ruhrfestspiele zu "Krieg und Frieden"