Haben Sie es bereits erraten? Dies war unser Aprilscherz.
Wenn Polizisten und Autonome die Rollen tauschen
Um Gewaltexzesse wie beim G20-Gipfel künftig zu verhindern, geht die Hamburger Polizei ungewöhnliche Wege. Mit vertauschten Rollen stellen Polizisten und Autonome Krawalle nach. Unser Korrespondent Axel Schröder hat die Pilotphase des Projekts begleitet.
Helles Neonlicht fällt auf die weißen, präzis aufgereihten Tische. Im Schulungsraum im Polizeipräsidium in Hamburg-Alsterdorf sitzen vierzig Freiwillige, um ein Experiment zu wagen, das ihre Weltsicht verändern könnte.
"Gut! Dann begrüße ich alle Teilnehmer ganz herzlich! Schönen guten Morgen! Für einige ist dieser Raum ja fremd. Ich habe jetzt das Vergnügen, zwanzig Polizeibeamte und zwanzig Aktivisten der linken Szene vor mir zu haben. Wir sind vierzig Personen, die wir gefunden haben für unser Pilotprojekt mit dem Namen "Seitenwechsel"!
Vorn am Rednerpult steht Professor Rafael Behr. Ein stämmiger Typ. In Jeans und weißem Hemd, Dreitagebart, runde Brille. Behr lehrt Soziologie an der Hamburger Akademie der Polizei. Die Sitzordnung an diesem Morgen hat er vorgeschrieben: an jedem Tisch sitzen Hamburger Einsatzkräfte neben linksautonomen Aktivisten.
"Das ist für alle eine Abenteuer, kann ich mir vorstellen, weil Sie als Polizeibeamte sind bestimmt gewohnt zu trainieren, aber auf der anderen Seite stehen dann ihre Kollegen. Sie, die linken Aktivisten, erleben Polizei in der Regel nur hardcore, im Ernstfall, mit runtergeklapptem Visier. Und wir wollen jetzt mal das Visier hochnehmen und uns begegnen!"
Die meisten "Seitenwechsler" sind Männer. Einige ziehen die Brauen hoch. Andere verschränken die Arme vor der Brust. Es gibt keinen Blickkontakt, kein leises Getuschel, alle Augen sind nach vorn auf Rafael Behr gerichtet.
"Unser Konzept ist ganz einfach. Das ist auch uralt: In dem Maß, wie ich den Anderen besser verstehe, kann ich auch besser handeln. Es geht nicht ums Liebhaben. Sie sollen sich jetzt nicht verbrüdern, sondern einfach mal sehen, wie tickt denn die Gegenseite?"
Schlagstocktraining für Linksautonome inklusive
Zwei Tage lang dauert das Experiment, erklärt Rafael Behr. Am Ende, als Höhepunkt, sollen die Polizisten auf dem weiten Hamburger Heiligengeistfeld in die Rolle von Steinewerfern, die Autonomen in die der Einsatzkräfte schlüpfen, erklärt der Professor. Ein erstes Handzeichen, die erste Frage aus den Reihen der Polizei: "Herr Behr, werden dann die Autonomen auch entsprechend gekleidet? Sprich: haben die unsere Waffen? Haben sie unsere komplette Ausrüstung? Haben sie die Erlaubnis, sich entsprechend zu wehren, wenn's dann aggressiv abgehen sollte?"
"Ja, darauf haben wir gewartet auf diesen Einwand. Es kann sein, dass die Situation eskaliert und die Leute ihre Rolle so gut spielen, dass sie aufeinander losgehen. Dafür haben wir Schiedsrichter. Die haben orangene Westen und das sind diejenigen, die dann auch unterbrechen können. Das zweite, was wir gemacht haben: wir haben keine echte Munition auf beiden Seiten. Weder richtige Waffen bei der Polizei, noch richtige Steine und Flaschen auf der Gegenseite. Wir haben Dummies. Also Spielzeugpistolen, Reizstoffgeräte mit Wasser gefüllt. Und wir haben auf der anderen Seite Schaumstoffe und Plastikflaschen als Wurfgeschosse. Das war unsere einzige Restriktion, weil wir nicht wollen, dass sich irgendjemand verletzt! Gibt es noch weitere Fragen?"
Kopfschütteln unter den Teilnehmern. Nach seiner Einführung gibt es eine erste Kaffeepause. Danach ist das Schlagstocktraining für Linksautonome geplant.
"Die Einweisung umfasst nicht nur den rechtlichen Bereich, sondern auch die Taktik und die Handhabung. Also, wo man am besten, am effizientesten dieses Gerät einsetzt, an welchen Körperstellen, mit welchem Winkel man schlägt und so weiter. Das kriegen sie mit. Und dann geht das hoffentlich glimpflich ab."
An dieser Übung dürfen alle teilnehmen. Aber die Plätze in den Wasserwerfern sind begrenzt. Das Los muss entscheiden.
"Es gibt eine Gruppe, die auf dem Wasserwerfer sitzen wird, die können wir durchaus durchtauschen. Wir können zwei Funktionen nicht ersetzen: das ist der Fahrer und der Kommandant, der quasi die Gesamtverantwortung hat. Aber alle anderen, also die Bedienung der Joysticks werden wir tatsächlich mit den Rollen besetzen. Das können wahrscheinlich nicht alle von ihnen machen. Wahrscheinlich werde es vier oder sechs, die in diese Rolle mal eintauchen können."
Das "Fremdheitsmoment" abbauen
Der Professor entlässt seine Zuhörer in die Kaffeepause. Draußen im Flur stehen Plastikthermoskannen, Gebäck und Wasser auf einem langen Tresen. Die ersten Gespräche bahnen sich an. Trainer Rafael Behr war früher selbst im Einsatz. An der umkämpften Startbahn West und auf den Bauplätzen neuer Atomkraftwerke. Zu dem Projekt "Seitenwechsel" angeregt hat ihn aber der G20-Gipfel im Juli letzten Jahres. Gegen den Widerstand der Polizeigewerkschaften musste er das Projekt durchsetzen. Und einige Anläufe waren nötig, um vom Hamburger Polizeipräsidenten Ralf-Martin Meyer Rückendeckung zu bekommen.
"Die Gräben, die bei G20 sichtbar wurden, sind ja welche, die schon in Wackersdorf, an der Startbahn West sichtbar waren. In der gesamten Auseinandersetzung zwischen linker Aktivistenklientel und Polizei gibt es ja immer dieses Fremdheitsmoment. Man glaubt, sich zu kennen, aber eben nur in dem Maße, wie es für die eigene Taktik nützlich ist. Und das zu prüfen und weiterzuentwickeln war unser Anliegen."
Polizeibeamte und Linksautome stehen nun schon in kleinen Gruppen zusammen, verlieren langsam die Scheu vor dem vermeintlichen Gegner. Nur Radio-Interviews geben, das möchte niemand aus der linksautonomen Szene. Die Kapuzenpullover sind tief ins Gesicht gezogen. Brian Schuster, der die meisten Anwesenden in Höhe und Breite weit überragt, ist seit 15 Jahren ist er bei der Hamburger Bereitschaftspolizei. Er musste nicht lange über eine Teilnahme nachdenken.
"War für mich eine Selbstverständlichkeit, da ich meinen Gegner gerne kennen möchte, weiß, wie er tickt, weiß, wie er funktioniert, um mich auch dahingehend zu verbessern, um bessere Verteidigungsmethoden zu verwirklichen und zu verinnerlichen."
Schuster schenkt sich noch einen schwarzen Kaffee nach, erzählt von der permanenten Anspannung, unter der er und seine Kollegen beim G20-Gipfel gestanden haben.
"Selbstverständlich hat man Angst. Man ist vom Anfang bis zum Ende auf Hochspannung. Man muss sich doppelt und dreifach konzentrieren, denn es kann von überall was passieren. Und man müsste sich mal den psychologischen Druck vorstellen: von allen Seiten bespuckt, beschmissen, getreten, geschlagen, gehauen. Alles, was dazu gehört. Und diese Bereitschaft zur Gewalt und Aggressivität, das ist einmalig für mich gewesen!"
Paul Grundmann, Mitte 30, krause schwarze Haare, hört und staunt. Er hat den G20-Gipfel als Autonomer ganz anders erlebt: hochgerüstete Polizisten, Pfefferspray für alle, Hunderte verletzte Demonstranten. Dass dann auch Steine und Flaschen fliegen, wundert ihn nicht:
"Da kann ich nur sagen: vieles ist zu Recht geschehen! Manche haben ein bisschen über die Stränge geschlagen. Und so wie die Polizei hier aufgetreten ist, mit welchen Mängeln und wie oft die danebenlagen. Das war extrem!"
Brian Schuster findet das nicht witzig. Er zieht die Brauen hoch. In fünf Minuten beginnt das Schlagstocktraining.
Aufmerksam verfolgen die Autonomen das Schlagstocktraining
Das Training mit dem "EKA", dem "Einsatzstock kurz, ausziehbar" findet in einer kleinen Turnhalle in der Kaserne statt. Bevor es losgeht, erklärt Ausbilder Hans-Peter Lutze-Behrends den Schlagstock:
"Er ist schwarz. Besteht aus drei Teilbereichen. Hört sich so an: [Klackern]. Die technischen Anforderungen waren unter anderem, dass er nicht so aussehen sollte wie ein Totschläger, weil wir uns da auch von den eigentlichen Straftätern abgrenzen wollen. Dass er nicht zu schwer ist und dass er verhältnismäßig leicht zu händeln ist. Der Stock ist aus vergütetem Stahl, gibt nicht nach und die Wirkung tritt unmittelbar ein."
Hans-Peter Lutze-Behrends hält den EKA in der Hand, drückt den Knopf am Schaft, schiebt ihn wieder zusammen. Im Halbkreis stehen die linksautonomen Besucher um ihn herum, aufmerksam, trotzdem distanziert. Ein Beamter teilt Trainingshosen aus, dazu hellblaue T-Shirts mit dem Polizeiemblem auf der Brust. Dann geht es die Umkleiden und hinein in die Halle.
Angelehnt an die Wand stehen ausrangierte Autoreifen bereit. Einer der ersten in der Halle ist Andreas Blechschmidt, Sprecher der Roten Flora, ein rotes Tuch für viele Beamte. Nicht im Traum hat er daran gedacht, einmal im Polizei-T-Shirt mit dem Schlagstock zu üben:
"Ich muss sagen, ich fühle mich hier wie ein Fisch auf dem Trockenen. Das hier ist nicht meine Szenerie. Schon die Eingangskontrollen und auch so ein bisschen skeptische Blicke, die man hier geerntet hat. Ich weiß noch nicht genau, was ich hiervon halten soll. Ich habe einfach Polizeigewalt erlebt beim G20. Und auf der anderen Seite kann ich was damit anfangen, dass es vielleicht auch mal richtig ist, über den eigenen politischen Pisspottrand hinaus zu blicken. Und deswegen stehe ich jetzt hier in Alsterdorf in der Trainingshalle und gucke mal, was hier gleich passiert."
Neugierig ist auch Schorsch Kamerun mit grün-lila Haaren, Punkmusiker, Theaterautor und Regisseur aus Hamburg-St. Pauli. Er grinst, klopft sich mit der Hand auf die Brust, aufs Polizeiemblem. Und ist skeptisch:
"Ich glaube jetzt nicht, dass wir dann plötzlich am Tresen stehen und sagen: 'Ja, tut mir echt leid!' und 'Lass mal ein Bier trinken!' und 'Soll nicht wieder vorkommen!' Das glaube ich ehrlich gesagt nicht. Keine Ahnung. Aber glaube ich erstmal nicht. Für mich geht tatsächlich eher so ein bisschen um so etwas wie die Verlängerung. Was der Körper einfach empfindet, wie sich das anfühlt."
"Wir schlagen mit 100 Prozent"
Fünf Minuten später stehen zwei Ausbilder auf dem grauen Betonboden in der Hallenmitte, in der Ecke eine durchlöcherte runde Schießscheibe, daneben eine rote Plastikpuppe mit Gangstervisage. Das Training mit dem Teleskopschlagstock beginnt:
"Wenn wir mit dem Ding arbeiten und damit zuschlagen, geben wir auch wirklich 100 Prozent. Das heißt: wir schlagen damit zu! Es nützt uns nichts, wenn wir den EKA haben und ich ihn dann einfach so ein bisschen piesacke. Das ist nicht Mittel zum Zweck, wir schlagen mit 100 Prozent!"
"Also, es ist alles erlaubt, alles zu treffen. Außer den Kopf und die Wirbelsäule. Absolut verboten, sollte man nicht treffen. Verursacht man schwere Verletzungen, wenn nicht sogar tödlich."
Die Ausbilder schauen in die Runde, alle nicken. Zwei Gruppen werden gebildet. Die einen bekommen Schlagstöcke ausgehändigt, die anderen halten sich mit beiden Händen einen Autoreifen vor die Brust.
"Und jetzt üben wir mal einen Vorhandschlag. Da gehen wir mal rauf [Klack] und treffen mal. Ja? Überprüfen die Wirkung, gehen wieder in die Bereitschaftshaltung. Schlag! [Klack] Und wieder in die Bereitschaftshaltung! OK? Das mal versuchen, immer zu zweit. Einfach mal die Distanz bekommen."
Mit rechts wird geschlagen, die Linke, die Checkhand, bleibt oben, soll Angriffe abwehren. Im Einsatz, wenn es nicht gegen Autoreifen, sondern gegen das so genannte "polizeiliche Gegenüber" geht, steigern die Einsatzkräfte Stück für Stück den Schmerz, den der Schlagstock verursacht, erklärt der Ausbilder auf der langen Holzbank am Rand der Halle:
"Nochmal der Hinweis, dass eben Arme, Beine, Rumpf - also große Muskelgruppen -, dann bitte erst die Gelenke bestrichen werden sollen. Das, was auf gar keinen Fall passiert: ist der lebensgefährliche Bereich des Kopfes."
Auch die Rückhand wird trainiert
Zwanzig Minuten nehmen sich die Ausbilder Zeit. Die Linksautonomen kommen ins Schwitzen, üben Vor- und Rückhandschläge. Nach der Trainingseinheit ist Rote-Flora-Sprecher Andreas Blechschmidt einigermaßen ernüchtert. Immerhin geht es draußen nicht gegen Autoreifen, sondern Menschen.
"Das ist einfach krasses Einprügeln mit einem Metallschlagstock auf einen Körper. Ich habe gerade so ein bisschen das Gefühl, dass ich mich über einige Dinge nicht wundere. Weil ich auch so den Eindruck habe, dass das als was Technisches abgehandelt wird und das eben nicht ganz klar ist, dass es da unter Umständen auch um Demonstranten geht, die einfach erstmal nur demonstrieren wollen. Ich finde das schon einigermaßen krass hier gerade."
Neben ihm nickt der Linksautonome Paul Grundmann. Den ausgefahrenen Schlagstock hält er fest umklammert, ein Grinsen im Gesicht. Hat das Training Spaß gemacht?
"Ja, schon! Aber weißt heißt Spaß? Ich weiß ja, wo ich hier bin! Aber es ist halt… Man kann halt ein bisschen was rauslassen. Nein. Es ist ganz schön massiv! Ich möchte das nicht auf den Kopf kriegen."
Rafael Behr hat das Training von der Bank aus beobachtet. Sucht das Gespräch mit den Teilnehmern. Die Reaktion von Paul Grundmann ist ganz normal, erklärt der Soziologie-Professor:
"Wenn ich das mal einwerfen darf: man sieht an seiner Person schon das Zusammentreffen von Attraktivität und Ekel. Oder von Zurückhaltung und Erstauntsein und gleichzeitig auch das Fasziniertsein. Und das wird nachher, wenn es in einer ernsten Situation länger dauert, wird sich das Gewicht verschieben. Dann wird die Zurückhaltung und das Erstaunen und die Aversion wird weniger werden und der Spaß und die Machtfülle wird größer werden!"
Punker Schorsch Kamerun bestätigt die Beobachtung:
"Ich merke auch schon hier in den Räumen, auch bei dieser Ernsthaftigkeit, dass man da rankommt an so ein Gefühl, an so ein meutiges Gefühl. Weiß nicht. Erschreckt mich auch ein Stück weit. - Ja, jetzt habt ihr mich erwischt…"
Tag eins des Seitenwechsel ist zu Ende. Die Schlagstöcke werden abgegeben, alle verabschieden sich.
Und dann dürfen die Polizisten in die Rote Flora
Am nächsten Tag haben die Linksautonomen ihr Heimspiel. Zwanzig Beamte stehen mitten im Schanzenviertel vor der Roten Flora. Seit knapp 30 Jahren ist das einstige Opernhaus besetzt. Von hier aus, so der Verdacht nach den gewalttätigen G20-Ausschreitungen, seien die Krawalle gesteuert worden. Mittlerweile hält das sogar die Hamburger Polizei für Unsinn. Im obersten Entscheidungsgremium der Flora wurde hitzig über die Aktion "Seitenwechsel" diskutiert. Darf man die "Bullen" ins Allerheiligste reinlassen? Am Ende überzeugte die Zweifler ein einfaches Argument: die Polizei lässt uns ins Präsidium, dann dürfen sie auch mal bei uns reinschauen. Einzige Voraussetzung: in zivil, nicht in Uniform. Flora-Sprecher Andreas Blechschmidt führt über eine Betonrampe zum Seiteneingang: eine Stahltür, vollgekritzelt mit Parolen, übersät mit Aufklebern.
"Wir können hier gleich mal durch die Seitentür ins Gebäude reingehen. So."
Andreas Blechschmidt lächelt. Anfang 50 ist er. Und von Anfang an mit dabei. Blechschmidt übernimmt Presse-Interviews, die die meisten Flora-Nutzer kategorisch verweigern. Er trägt Jeans und Anorak, schiebt die schwere Tür auf, geht voran. 20 Polizistinnen und Polizisten im Schlepptau. Eine Premiere.
"Wir stehen jetzt hier in der großen Veranstaltungshalle, die die historische Eingangshalle gewesen ist. Das ist ein Raum, der ist ungefähr 300 Quadratmeter groß. Hier passen bis zu 600 Leute bei Konzertveranstaltungen rein. Ein recht hoher Raum: zehn Meter hohe Decke mit großen Metallstützsäulen, einer Holzdecke, und einem Holzfußboden auch."
Jeder Quadratzentimeter Wand ist mit Graffiti und dickem Edding verziert. "ACAB", die Abkürzung für "All Cops are Bastards" steht dort in unübersehbaren roten Lettern, daneben kleben die Protestplakate der Szene: "Fight Capitalism!", "Block G20!". Viel zu sehen ist in dem Raum nicht. Alles wirkt ein bisschen ranzig: auf den speckig-dunklen Dielen liegen Papierfetzen und Zigarettenkippen von der Party am Vorabend. Die Beamten sind ganz still, schauen sich um. Polizeiobermeister Brian Schuster legt die Stirn in Falten, grinst rüber zu seinem Kollegen Micha Witthöft:
"Ich war selbst noch nie hier drin. Man merkt und man sieht natürlich ganz viele Schreien an den Wänden und Gekritzel an den Wänden, wie viel Antipathie gegenüber der Polizei dieses Gebäude ausstrahlt. Und ganz ehrlich? Ja… Einem Abriss würde ich zustimmen!"
"Ich hätte nicht gedacht, dass es so abgeranzt ist. Ich dachte, es wäre ein bisschen organisierter oder man würde irgendwas finden, was darauf hinweist, dass Menschen hier irgendwelche Dinge tun. Aber es ist eigentlich nur Bruch."
Andreas Blechschmidt lächelt gequält, schaltet sich ein:
"Ist zum Glück nicht die Polizeikantine, wo wir hier sind. Und da prallen offenbar auch so ein bisschen Vorstellungswelten aufeinander. Was soll ich sagen? Das ist halt die Rote Flora. Und vielleicht bin ich auch ganz glücklich darüber, dass sie sich hier nicht so wohl fühlen."
Der Rote-Flora-Sprecher macht trotzdem noch einen Anlauf:
"Der Raum wird eben für Konzertveranstaltungen genutzt, für Partys, für Disco-Veranstaltungen, Kino, Podiumsdiskussionen zu verschiedenen Themen. Tanztheater. Also wirklich die gesamte Bandbreite von Politik und Kultur, die unter dem Vorzeichen "Links" steht, findet hier auch statt!"
Aus dem Keller wummern leise die Bässe aus den Proberäumen. Es gibt eine Fahrrad- und Motorradwerkstatt, einen Sportbereich und die so genannte VoKü, die Volksküche, die veganes Essen anbietet. "Muss nicht sein", mumelt der Polizist Micha Witthöft und geht schnurstracks wieder nach unten vor die Tür. Dorthin, wo während des G20-Gipfels meterhohe Feuer loderten und Geschäfte geplündert wurden.
Der Beamte macht sich zusammen mit den anderen auf den kurzen Fußweg über das Schulterblatt zum Heiligengeistfeld. Es geht vorbei an der kleinen, noch immer eingezäunten Sparkasse, die während der G20-Krawalle aufgebrochen und angesteckt wurde.
Der Höhepunkt: das Training mit dem Wasserwerfer
Ankunft auf dem Heiligengeistfeld, auf einer riesigen betonierten Brache, dort parken zwei Wasserwerfer unter dem blauen Himmel. In einem kleinen weißen Pavillon wird Linsensuppe mit Würstchen ausgegeben. Daneben, im Umkleide-Container lagert die Schutzausrüstung, die gleich gebraucht wird. Große Lautsprecherboxen stehen rechts und links auf dem Areal. Hier soll der Seitenwechsel von Linksautonomen und Polizisten seinen Höhepunkt finden.
Rafael Behr, der Initiator des Projekts, ist schon vor Ort, erklärt den neugierigen Aktivisten den Wasserwerfer:
"Das ist der so genannte 'WaWe 9'. Neun kommt von der Literzahl an Wasser, die er laden kann. 9000 Liter. Zu erkennen an den zwei sehr phallischen Strahlrohren. Der neue Wasserwerfer verzichtet auf diese monströse Optik. Aber auch sieht man schon: hier wird nicht mehr mit den Schultern gearbeitet, mit Muskelkraft, sondern mit Joysticks. Die Strahlrohre lassen sich auch ausfahren. Und sind doch eine relativ effiziente Distanzwaffe."
Und die beiden Strahlrohre dürfen gleich die beiden Linksautonomen Andreas Blechschmidt und Schorsch Kamerun bedienen. Der Motor läuft, als die beiden hoch- und hineinklettern in den 26 Tonnen schweren Koloss. Drinnen erklärt ihnen der so genannte Werfer, welche Knöpfe sie gleich selber drücken dürfen:
"So, ich schalt jetzt mal die Pumpe ein. – Wir fahren denn jetzt auch mal los. Hier auf der linken Seite haben wir eine Tasterleiste. Damit stellt man die Durchflussmengenregulierung ein. Ist von 100 Prozent bis 20 Prozent regulierbar. Und dann haben wir eine Wasserstandanzeige, hier einen Ein- und Ausfahrknopf für die Wendestrahlrohre, Scheinwerfer, Waschanlage. Und hier rechts ist halt der Joystick. Mit dem Joystick steuern wir das Wendestrahlrohr und geben Wasser ab."
Nicht auf die Köpfe zielen!
Schorsch Kamerun darf sich auf dem zweiten Werferplatz setzen, Andreas Blechschmidt steht gebeugt hinter ihm. Viel Platz ist nicht. Er drückt den Joystick nach links: die Strahlrohre wandern nach links, auch sein Sitz schwenkt zum linken Seitenfenster. Eine Hand bleibt immer auf den Tastern, erklärt der Beamte. Schorsch Kamerun bleibt konzentriert, verwechselt zwei Knöpfe, lässt sich von seinem Trainer helfen.
"Hier geht es lediglich darum, die Sicherheit der Rohrführer zu trainieren, um auch immer zu gewährleisten, dass der Wasserstrahl sicher sein Ziel erreicht. Ohne dass es, ja, Verletzungen gibt oder irgendwelche Bereiche betroffen sind, die nicht betroffen werden sollen."
Besonders wichtig: der Wasserstrahl soll immer erst vor den Störern auf die Straße gerichtet sein, dann erst die Beine, später den Rumpf treffen. Und auch hier gilt: auf die Köpfe sollte nicht gezielt werden. Eine Viertelstunde kurvt der WaWe 9 über das Heiligengeistfeld, spritzen Schorsch Kamerun und Andreas Blechschmidt Wasser auf den grauen Asphalt.
Paul Grundmann, auch er aktiv in der linksautonomen Szene, macht sich am Rand der weiten Fläche bereit für den Rollentausch. Zusammen mit einem guten Dutzend anderer Autonomer legt er die Schutzkleidung der Hamburger Polizei an. Damit es schneller geht, hilft Brian Schuster, Bereitschaftspolizist mit viel Demo-Erfahrung.
"Kann ich das jetzt hier noch bewegen oder wie?"
"Ja, das hat ja Gelenke. Und mit den Gelenken sind sie eigentlich frei beweglich."
"Oh, jetzt geht das ab hier. - Fertig! - Ja, das ist schwer, allerdings! Wahnsinn. Das ist tierisch schwer!"
Brian Schuster schaut ihn an, ein bisschen mitleidig. 20 Kilogramm wiegen die Arm-, Bein-, Brust- und Rücken-Protektoren. Draußen bekommen alle Autonomen Polizeihelme und Plexiglas-Schilde.
Sogar der Sound der Krawalle wurde nachbegildet
Schon schallt aus den Lautsprecherboxen der Sound, der während des G20-Gipfel das Viertel prägte. Das gehöre zum Demo-Alltag nun mal dazu, erklärt Rafael Behr:
"Sie hören hier Dieselaggregate und Rufe und Schreien. Das haben wir extra gemacht, weil wir wissen, dass die Atmosphäre auf die Psyche sich auch auswirkt und auch auf die Dynamik des Einsatzgeschehens. Insofern haben wir jetzt Lautsprecherboxen aufgestellt, damit die Beschallung etwa so ist, wie es im Ernstfall auch ist. All das sind Komponenten des Ernstfalltrainings!"
Die Wasserwerfer stehen auf einer Linie bereit, davor die Autonomen in voller Polizeimontur. Wasser tröpfelt aus den Strahlrohren. Der Kommandant testet die Lautsprecheranlage des schweren Geräts:
"Soundcheck! Testing, testing! Kommt gut auf den Ohren?"
Rafael Behr, auf dem Kopf einen Hut mit breiter Krempe, reckt einen Arm in die Höhe, Daumen nach oben. In der linken Hand ein Megafon. Über seinem Parka schützt ihn noch ein quietschgelber Regen-Poncho, falls die Amateure im Wasserwerfer ihn nassspritzen sollten. Auch die Gegenseite steht bereit: 20 Beamte der Hamburger Polizei, in Turnschuhen, einige sogar vermummt. In großen Holzkisten stehen mit Sand gefüllte, bunte Stoffbälle und Plastikflaschen bereit. Wurfmaterial, dass niemanden verletzt. Rafael Behr setzt das Megafon dicht vor den Mund:
"Achtung! Die Wasserwerfer jetzt in Position. Und die Demo-Gruppe beginnt mit Krawall machen! Los geht's!"
Sofort prallen die ersten Bälle gegen die Schilde, werden weggekickt von den Autonomen in Uniform. Langsam rückt die gut gepanzerte Polizeikette vor, in gleichem Tempo rückt der Wasserwerfer nach. Der erste Wasserstrahl schießt in Richtung der Störer. Fünf von ihnen stürmen vor, rennen auf die verdutzten Störer zu, rütteln an den Schilden. Der erste Schlagstock wird geschwungen. Sofort schreiten die Schiedsrichter in ihren grellorangen Westen ein.
"Stopp, Stopp, Stopp, Stopp! Das geht so nicht! An die Polizeigruppe: bitte etwas Zurückhaltung! Zurück auf die Startposition! Danke!"
Ein neuer Anlauf. Diesmal rückt die Polizeikette schneller vor, diesmal trifft der Wasserwerfer, weichen die Störer zurück.
"Ein wahnsinniges Gefühl, die Menschen mit etwas zu beschmeißen"
Nach einer halbe Stunde ist das Spektakel beendet. Die Beamten in Straßenkampf-Outfit sind klitschnass, Polizist Micha Witthöft hat ein Wasserstoß direkt in den Rücken getroffen. Witthöft steht vornübergebeugt, stützt die Hände auf die Knie:
"Aua! Ich hab den Fehler gemacht, dass ich mich zu spät abgeduckt hab. Ich hab mich nur umgedreht. Das war ganz schön dämlich. Ich weiß, wie viel Bumms so ein Ding hat! [stöhnt] Augenblick. Aua."
Sein Kollege klopft ihm auf die Schulter. Brian Schuster schiebt das schwarze Tuch, seine Vermummung, nach unten.
"Das war hervorragend! Man muss natürlich sagen, so ein bisschen außer Atem ist man. Das ist natürlich ein wahnsinniges Gefühl, die Menschen mit etwas zu beschmeißen. Das sind wir so nicht gewohnt! Aber das ist schon eine interessante Rollenverteilung. Aber nicht meine Szene!"
Andreas Blechschmidt und Schorsch Kamerun klettern aus dem Wasserwerfer. Sind einigermaßen zufrieden mit ihrer Leistung:
"Man hat so ein bisschen ein Playstation-Gefühl. Aber ich habe offenbar ganz klar Rechts-Links-Koordinationsschwierigkeiten. Das hat der Schorsch besser hingekriegt."
"Ganz am Anfang ging es mir gut dabei, weil ich das anscheinend verstanden hatte. Man hat Respekt, dann hast Du diesen kleinen Joystick, mit dem sich diesen Riesending da oben bewegt. Muss ich zugeben: hat dann auch so etwas von einem positiven Erlebnis. Da werden schon Belohnungsstoffe aktiviert. Aber danach hast Du dann schon so ein kleines 'Pentagon-schickt-Drohne-Gefühl' in so einem Kasten!"
Verbrüderungsszenen? Fehlanzeige
Jetzt stehen Polizei und Linksautonome in vielen kleinen Gruppen zusammen. Tauschen sich aus, es wird gelacht. Gibt es nun tatsächlich mehr Verständnis für die Gegenseite? Brian Schuster schüttelt den Kopf:
"Was ich gelernt habe in den letzten 24 oder 48 Stunden ist eben halt: die Menschen haben gespürt und gemerkt, wie hart und wie schwer der Job eines Polizisten eigentlich ist. Aber, auf Ihre Frage nach dem Verständnis: Nein! Kann ich leider nicht aufbringen."
Und das fällt trotz der beiden Projekttage mit der Polizei denn auch Andreas Blechschmidt und Schorsch Kamerun schwer:
"Ich hatte so das Gefühl, sie wollten zeigen: 'Wir sind doch eigentlich die Guten! Mensch, wir machen doch auch nur unseren Job!' - da habe ich so gemerkt: 'Nee, weiß ich nicht!' Schon bei diesem Schlagstocktraining, das war mir einfach auch zu krass. Und für bleibt das Ganze doch sehr ambivalent, ob das jetzt überhaupt richtig war, diese Nummer hier mitzumachen."
"Es wäre jetzt völlig Nonsens zu sagen: 'Ich habe nur Maschinen kennengelernt!' Aber da haben jetzt keine Verbrüderungsszenen stattgefunden. Muss ich auch zugeben, dass ich mir das auch ganz fest vorgenommen hab. Ich gebe sogar zu: ich habe so ein kleines Zettelchen dabei gehabt, da habe ich raufgeschrieben: 'Obacht!' Dass man eben zusieht, dass man weiß, in welches Loch man zurückkommt. Und da gab es ja auch diese Situation, wo dann irgendwann mal gefragt wurde: 'Hier, mal ein Bierchen alle zusammen?' Und das Bier trinke ich nicht. Weiterhin."
Rafael Behr hört aufmerksam zu, verteilt Fragebögen an alle Beteiligten. Wie beurteilt er das Pilotprojekt? Kann der Seitenwechsel am Ende die Gräben zwischen linksautonomer Szene und Polizei, die der G20-Gipfel noch vertieft hat, wirklich zuschütten?
"Diese Betroffensein, das Mal-die-Rollen-wechseln, die Lust am Rausch, am Gewaltrausch, das sind alles Empfindungen, die sowohl Polizeibeamte als auch Autonome betrafen. Und das war sehr wertvoll! Man muss immer wieder zeigen, wie schnell die Sicherungen auch durchknallen können! Und ich hoffe, wir können im Seminar auch anderen Studierenden und angehenden Polizisten etwas davon mitgeben! Aber das wird uns wahrscheinlich nicht vollständig gelingen, die Gräben zuzuschütten."
Die ersten Anfragen aus anderen Länderpolizeidienststellen liegen schon auf Behrs Schreibtisch. Der erste "Seitenwechsel" wird nicht der letzte gewesen sein.