Ein auf Neid und Mythologie basierendes Feindbild
Angenommen, man hätte im Jahr 1914 gefragt, welches Land am ehesten gefährdet sei, innerhalb der nächsten 20 Jahre in einen antisemitischen Furor auszubrechen. Wie hätte die Antwort gelautet? Der israelische Ideengeschichtler Zeev Sternhell hat vor 30 Jahren in seinen Studien zur Entstehung des Faschismus und zur Dreyfus-Affäre "Frankreich" gesagt. Andere würden aufgrund der ständigen Pogrome gewiss Russland genannt haben.
Folgt man dem Berliner Historiker Götz Aly, so hätte man schon damals auf die Deutschen kommen können. Denn von lange her, so seine These, hat sich eine aggressive Aversion dieser Nation gegen die eigene jüdische Bevölkerung angebahnt. Hitler und die Seinen radikalisierten sie nur und fügten die Habgier auf jüdischen Besitz hinzu.
Die Feindseligkeit selbst gründet für Aly vor allem auf Neid und Mythologie. Die deutschen Juden waren, was Bildung und Berufskarrieren angeht, überproportional erfolgreiche Bürger. Um 1900 machten sie zehnmal so oft Abitur wie die Christen und verdienten fünfmal so viel. Mit der Industrialisierung, Monetarisierung, Urbanisierung und Verwissenschaftlichung der Gesellschaft fanden sie sich im Durchschnitt besser zurecht als viele andere Deutsche.
Das weckte überall - bei den Christen, den Nationalisten, den Sozialisten, den Bauern wie den Burschenschaftlern - Ressentiments, die Aly eindrucksvoll dokumentiert. Alles, was man als Zumutung der Moderne empfand, galt leicht als jüdisch, weil die Juden am deutlichsten von der Moderne profitierten.
Viele Deutsche träumten ihrerseits von der Einigung eines Volkes, das sie sich als Gemeinschaft vorstellten. Für Aly zeigt der deutsche Hang zur Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Antisemitismus seine giftigen Aspekte. Er zerlegt gewissermaßen den Nationalsozialismus in seine Bestandteile – Nationalismus und Sozialismus – und führt vor, wie oft sich der Antiliberalismus beider Traditionen im jüdischen "Fremden", im "Wucherer" oder im "wurzellos Verkopften" sein Feindbild schuf.
Jede Bemühung jüdischer Bürger, es durch Leistung, Patriotismus und Assimilation den anderen recht zu machen, konnte dabei missgünstig gegen sie verwendet werden. Mitten im Ersten Weltkrieg beispielsweise startete der Reichstag eine "Judenzählung", die feststellen sollte, ob die jüdischen Soldaten unterdurchschnittlich tapfer seien.
Aber waren es wirklich "die" Deutschen, die den Massenmord an den Juden begangen haben? Alys Darstellung, die glänzend geschrieben ist und durch die Vielfalt ihrer demografischen, soziologischen, ökonomischen und literarischen Bezüge beeindruckt, antwortet auf diese Frage mit dem Nachweis von Antisemitismus in so gut wie jeder gesellschaftlichen Gruppe.
Die Täter selbst analysiert er als aggressive, junge Aufsteiger, die sich durch die wirtschaftlich desolate Lage um die Früchte ihres Ehrgeizes gebracht sahen – und mit Hass reagierten. Aber es geht ihm nicht nur um die Taten nach 1933, die man auf die Täter eingrenzen kann, sondern auch um die Indifferenz, mit der fast ein ganzes Volk sie hinnahm.
Besprochen von Jürgen Kaube
Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass
S. Fischer, Frankfurt am Main 2011
352 Seiten, 22,95 Euro
Die Feindseligkeit selbst gründet für Aly vor allem auf Neid und Mythologie. Die deutschen Juden waren, was Bildung und Berufskarrieren angeht, überproportional erfolgreiche Bürger. Um 1900 machten sie zehnmal so oft Abitur wie die Christen und verdienten fünfmal so viel. Mit der Industrialisierung, Monetarisierung, Urbanisierung und Verwissenschaftlichung der Gesellschaft fanden sie sich im Durchschnitt besser zurecht als viele andere Deutsche.
Das weckte überall - bei den Christen, den Nationalisten, den Sozialisten, den Bauern wie den Burschenschaftlern - Ressentiments, die Aly eindrucksvoll dokumentiert. Alles, was man als Zumutung der Moderne empfand, galt leicht als jüdisch, weil die Juden am deutlichsten von der Moderne profitierten.
Viele Deutsche träumten ihrerseits von der Einigung eines Volkes, das sie sich als Gemeinschaft vorstellten. Für Aly zeigt der deutsche Hang zur Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Antisemitismus seine giftigen Aspekte. Er zerlegt gewissermaßen den Nationalsozialismus in seine Bestandteile – Nationalismus und Sozialismus – und führt vor, wie oft sich der Antiliberalismus beider Traditionen im jüdischen "Fremden", im "Wucherer" oder im "wurzellos Verkopften" sein Feindbild schuf.
Jede Bemühung jüdischer Bürger, es durch Leistung, Patriotismus und Assimilation den anderen recht zu machen, konnte dabei missgünstig gegen sie verwendet werden. Mitten im Ersten Weltkrieg beispielsweise startete der Reichstag eine "Judenzählung", die feststellen sollte, ob die jüdischen Soldaten unterdurchschnittlich tapfer seien.
Aber waren es wirklich "die" Deutschen, die den Massenmord an den Juden begangen haben? Alys Darstellung, die glänzend geschrieben ist und durch die Vielfalt ihrer demografischen, soziologischen, ökonomischen und literarischen Bezüge beeindruckt, antwortet auf diese Frage mit dem Nachweis von Antisemitismus in so gut wie jeder gesellschaftlichen Gruppe.
Die Täter selbst analysiert er als aggressive, junge Aufsteiger, die sich durch die wirtschaftlich desolate Lage um die Früchte ihres Ehrgeizes gebracht sahen – und mit Hass reagierten. Aber es geht ihm nicht nur um die Taten nach 1933, die man auf die Täter eingrenzen kann, sondern auch um die Indifferenz, mit der fast ein ganzes Volk sie hinnahm.
Besprochen von Jürgen Kaube
Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass
S. Fischer, Frankfurt am Main 2011
352 Seiten, 22,95 Euro