"Ein Bedürfnis nach Blut"
Ein Menschenopfer steht im Mittelpunkt von Strawinskys Skandal-Ballett "Le Sacre du Printemps", das 1913 uraufgeführt wurde. Ein Gespräch mit dem Politologen Herfried Münkler über den Zeitgeist vor dem Ersten Weltkrieg und testosterongesteuerte Jugendliche von heute.
Katrin Heise: Der Bühnenskandal des Jahrhunderts, 1913, am Vorabend des Völkergemetzels. Was hat das heidnische Frühlingsopfer, bei dem sich ein junges Mädchen buchstäblich zu Tode tanzt, von dem Igor Strawinskys berühmtes Jahrhundertskandalstück „Le sacre du printemps“ handelt, mit dem Ersten Weltkrieg zu tun?
Wie es in der modernen, aufgeklärten Gesellschaft mit dem Opfer aussieht, welche Bedeutung das Opfer hat, darüber unterhalte ich mich jetzt mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Ich grüße Sie, Herr Münkler, schönen guten Tag!
Herfried Münkler: Guten Tag!
Heise: Was hat Igor Strawinsky so sehr an einem Opfermythos interessiert? Ich wundere mich nämlich darüber, weil ich angenommen habe, dass das mythische Denken in Russland zu jener Zeit, also 1913, nicht mehr so verbreitet war. Die Modernität brach sich doch da Bahn, vor allem gerade auch in diesem Ballett. Wie passt das zusammen?
Münkler: Ja, das ist das Interessante. Im Prinzip ist in der Tradition der europäischen Aufklärung in Verbindung mit dem Fortschrittsgedanken das Opfer etwas, was wir hinter uns lassen wollen, das gab es früher. Und unsere Zivilisiertheit bemisst sich eigentlich daran, dass es keine Opfer mehr gibt, und vor allen Dingen keine Menschenopfer mehr gibt. Aber in dieser Zeit, ich meine, in Europa, schwärmen die Ethnologen aus, um in aller Welt die Anfänge der gesellschaftlichen Ordnung und des Ringens mit den Göttern und der Natur zu beobachten. In dieser Zeit gerät der Fortschrittsglaube ins Wanken, es kommt – ich denke an den französischen Autor Georges Sorel – zu einer Rehabilitierung der Gewalt, Bergsons élan vital und vieles mehr. Und genau darein passt Strawinskys „Sacre“ mit der Vorstellung, das Opfer ist die Erneuerung der Natur, die Wiedergeburt der Gemeinschaft ist die Voraussetzung des Weiterlebens.
Heise: Weil sich die Gesellschaft überfordert sah mit der Modernisierung, mit der Technologisierung und deswegen auf anderes zurückgriff?
Münkler: Auch, sicherlich. Sozusagen, der ewige Fortschritt erschöpft sich auch irgendwo, und andererseits, man beobachtet zyklische Formen der Erstarrung und, Werner Sombart wird sagen, der Verfettung der Gesellschaft. Er prägt auch in diesem Zusammenhang schon den Begriff des Spätkapitalismus. Wenn man sich also in einem solchen biologischen Zyklus bewegt, dann muss man erneuern. Und wie erneuert man? Da kommt man wieder auf den Gedanken des Opfers.
Heise: Sie unterscheiden verschiedene Opferbegriffe. Das ist zum Ersten das klassische Opfer, also jemand, etwas; zum Zweiten den nachträglich hineininterpretierten Opferstatus, der kommt zum Tragen im Ersten Weltkrieg. Also, eine Generation junger Männer, die sich bereitwillig in den Tod gestürzt hat, später als Blutopfer für ein überaltertes Volk interpretiert, das Stichwort haben Sie eben auch schon genannt, Verfettung, Überalterung. War Strawinsky ein Seher, der die Schlachtfelder, die dann folgten, vorhergesehen hat?
Münkler: Ich würde etwas vorsichtig und zurückhaltend sein und die Kulturgeschichte und die Künstler jetzt nicht in die Rolle hineinokulieren, dass sie das alles antizipiert haben. Zumal man heute auch nicht mehr sagen kann, dass dieser Krieg unvermeidlich war, sondern sie spüren gewisse tektonische Veränderungen. Also ein Überdrüssig-Werden auch am Frieden, ein Überdrüssig-Werden am Wohlstand, und spüren – gerade künstlerische Avantgarden sind ja dafür sehr sensibel – ein Bedürfnis nach dem Bruch und nach der tiefen Veränderung, nach Blut, wenn Sie so wollen.
Heise: Mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler geht es um den Opferbegriff in der modernen Gesellschaft. Wie wandelt sich denn, Herr Münkler, dieser Opferbegriff in der Zeit der Nationalsozialisten?
Münkler: Zunächst einmal ist ja im Deutschen das Wort Opfer ein ganz schwieriges Wort, weil es auf der einen Seite ja fast für einen Entschädigungsanspruch steht. Das, was man vielleicht die diktymologische Dimension des Opfers nennen könnte, man erleidet etwas, ohne dass das für einen selber und die Gemeinschaft etwas bedeutet, sozusagen die Unfallnatur des Opfers.
Heise: Ist das nicht eine moderne Herangehensweise, also die heutige?
Münkler: Ja gut, es gibt sozusagen immer schon die Vorstellung, dass der Zufall einen erwischt und man zu Tode kommt, ohne dass damit eine rettende Tat verbunden ist. Während das Sakrifizielle, das Sacrificium, das Sich-selber-Opfern oder aber Geopfert-Werden für die Gemeinschaft, also rettende Tat dann mit einem Sinn versehen ist. Ob das den Sinn tatsächlich hat, das kann man kritisch infrage stellen. Aber für die Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft ist es eine Tat, die die Bedeutung von Erneuerung und Rettung hat. Und das spielt dann natürlich auch eine Rolle in der Weimarer Republik, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg dominiert die viktimologische Perspektive.
Heise: Wir Opfer!
Münkler: Wir sind dahingeschlachtet worden und es war alles sinnlos. Mit großen Anstrengungen ästhetischer Art wird das von der politischen Rechten und dann von den Nationalsozialisten umerzählt dahin, dass aus diesem Opfer ein neues Deutschland entsteht, sodass es nicht sinnlos gewesen ist, sondern eine Heiligung erfährt.
Heise: Sie haben die Opfer, die zufälligen Opfer, eigentlich den Opferbegriff, den wir heute benutzen oder den wir dann nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den Vordergrund gestellt haben, Verkehrsopfer, Krankheitsopfer, Kriminalitätsopfer - Menschen bringen also nicht mehr freiwillig, aktiv ein Opfer – wobei aktiv ja auch immer die Frage ist, ob die Gesellschaft jemanden opfert, oder ob man sich selber opfert …
Münkler: Aber so wird es erzählt im Sakrifiziellen.
Heise: Genau. Welche Bedeutung hat Opfer jetzt noch?
Münkler: Ja, ich würde ja unsere Gesellschaften generell als postheroische Gesellschaften bezeichnen, also als Gesellschaften, in denen die Vorstellung von Ehre und Opfer im Sinne des Sakrifiziellen verschwunden ist und gewissermaßen diese viktimologische Perspektive dominiert. Wir werden durch dumme Zufälle zu Opfern oder auch durch kriminelle Handlungen anderer und wir müssen dafür entschädigt werden. Also sozusagen, die Opfervereine und der Opferstatus ist im Prinzip die Poleposition, um in irgendeiner Weise gesellschaftliche Gegenleistungen zu bekommen.
Das kennzeichnet postheroische Gesellschaften. Aber die haben damit natürlich ein Problem, weil sie sozusagen nicht die einzigen Gesellschaften dieser Art sind, sondern es gibt nach wie vor heroische Verbände. Und wenn die beiden aufeinandertreffen, haben die postheroischen Gesellschaften ein Problem. Um das ganz kurz zuzuspitzen: Der Selbstmordattentäter bestimmter terroristischer Gruppierungen ist gleichsam die Speerspitze heroischer Gesellschaften. Und die Kampfdrohne, die aus Tampa, Florida gesteuert wird und dann tausende Kilometer davon entfernt ein Gefechtsfeld bewirtschaftet, das ist die Waffe der postheroischen Gesellschaft.
Heise: Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang in unserer deutschen Gesellschaft das allumfassende Schimpfwort der Jugendlichen, „du Opfer“?
Münkler: Ja, es gibt natürlich auch bei den Jugendlichen ein Aufbegehren gegen die Dominanz dieser viktimologischen Perspektive. Und die Victima, die gewissermaßen sich selber ja vermehren, weil es ja attraktiv ist, ein Opfer zu sein, wenn man dafür Entschädigung bekommt, die bekommen hier im Gestus der, sagen wir mal, testosterongesteuerten Jugendlichen mindestens die gelbe, wenn nicht die rote Karte gezeigt. „Du Opfer!“ heißt so viel wie: „Du bist chancenlos gegen mich, und wenn du noch mal die Klappe aufmachst, dann wirst du erfahren, dass du wirklich ein Opfer im Sinne des Ausgeliefertseins bist!“
Heise: Herfried Münkler, ausgehend vom Ballett „Sacre du printemps“ von Igor Strawinsky sprachen wir über die Bedeutung des Opfers im politischen und gesellschaftlichen System. Ich danke Ihnen, Herr Münkler!
Münkler: Bitte schön!
Heise: Zurzeit setzt sich eine internationale Konferenz in Berlin mit Aspekten des Opfers in Kunst und Gesellschaft auseinander.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.