Ein Blick in die Vergangenheit

Marcus Trier im Gespräch mit Dieter Kassel · 23.04.2012
Natürlich sei ein großer Teil der Fundstücke zerscherbtes Abfallmaterial, sagt Marcus Trier, Archäologe und kommissarischer Direktor des Römisch-Germanischen Museums in Köln. Und doch stecke viel Wissen über die Geschichte Kölns darin.
Dieter Kassel: Seit 2003 hatten Archäologen mitten im Stadtgebiet von Köln Gelegenheit zu intensiven Ausgrabungen, schuld war der U-Bahn-Bau da. Und das ist etwas ganz Besonderes, denn anders als zum Beispiel der Bau von Häusern, das Ausheben von Fundamenten, ermöglicht ein solcher U-Bahn-Bau Grabungen in ziemlich tiefen Schichten, an die man sonst nicht ohne Weiteres rankommt. Und das hat Folgen gezeigt. Nicht ganz zehn Jahre lang konnten die Archäologen in Köln graben und nun steht das Ergebnis fest: 2,5 Millionen Fundstücke wurden am Ende freigelegt. Am Telefon begrüße ich dazu jetzt den Archäologen und kommissarischen Direktor des Römisch-Germanischen Museums in Köln, Marcus Trier, schönen guten Tag, Herr Trier!

Marcus Trier: Ja, Tag, Herr Kassel!

Kassel: 2,5 Millionen freigelegte Fundstücke! Ist das für einen Archäologen eigentlich ein Fluch oder ein Segen?

Trier: Das ist beides! Man hat ein lachendes und ein weinendes Auge. Auf der einen Seite steht natürlich ein ungeheurer Wissenszuwachs für 2000 Jahre Kölner Stadtgeschichte, und auf der andern Seite ist es aber auch ein Verlust von gewachsenen Denkmälern, die bis dahin unberührt im Boden geschlummert haben.

Kassel: Das heißt, ein Archäologe ist manchmal auch ganz froh, wenn er die Sachen da lassen kann, wo sie sind?

Trier: Ja, das Denkmalschutzgesetz von Nordrhein-Westfalen ist da ganz eindeutig. Bewahren im Boden, unangetastetes Bewahren geht vor Ausgraben.

Kassel: Mit anderen Worten, man musste das einfach nur wegholen, weil sonst die U-Bahn irgendwas zerstört hätte. Sagen Sie mal, bei 2,5 Millionen Fundstücken, ganz ehrlich, da ist doch sicherlich eine große Menge an Dingen dabei, wo ich als Laie sagen würde, na ja, für mich ist nicht erkennbar, dass das was Besonderes sein soll, oder?

Trier: Das ist in der Tat so, vieles ist einfach zerscherbtes, ja, Abfallmaterial. Insbesondere Keramik, Tierknochen. Aber hinter vielen dieser einzelnen Funde stecken Geschichten, wahre Fundgeschichten, die eben das Leben bereichern und uns überhaupt einen Blick in die Vergangenheit ermöglichen.

Kassel: Bevor wir gleich auf die Geschichte kommen, vielleicht ein paar Zahlen: Wie groß ist denn eigentlich das Gebiet, in dem insgesamt ausgegraben wurde in den letzten Jahren?

Trier: Ja, die Trasse selbst ist vier Kilometer lang und führt aber eigentlich im tiefen Tunnelfortschritt unter der Archäologie hindurch. Ausgegraben worden ist dort, wo Haltestellen und technische Bauwerke und vor allem kilometerlange Leitungen entnommen und dann wieder neu eingebaut worden sind, also Abwasserleitungen und dergleichen. Das alles zusammen ergab etwa 30.000 Quadratmeter, sprich, etwa vier Fußballfelder, und an manchen Stellen wurden archäologische Schichten von bis zu oder mehr als 13 Metern erreicht. Und daraus ergibt sich dieses gewaltige Eingriffsvolumen von 150.000 Kubikmetern historisch gewachsener Erde.

Kassel: Haben Sie schon gesagt, unter diesen 2,5 Millionen Einzelstücken sind eine Menge, aus denen man dann doch Geschichten machen kann. Geben Sie doch mal ein paar Beispiele, bitte!

Trier: Ja, ein besonders schönes Beispiel ist die Keramik, die man in den römischen Hafen entsorgt hat. Wir haben etwa 90.000 Fragmente von Amphoren geborgen, das waren die Einwegverpackungen der Antike, wenn man so will. Die wurden benutzt, zerschlagen und weggeschmissen. Auf etwa 350 bis 400 solcher Amphorenfragmente haben sich Pinselaufschriften erhalten. Und diese Pinselaufschriften berichten darüber, was in den Amphoren enthalten war, woher sie kommen und das Einlagegewicht. Und wir können darüber nachweisen, von wo aus der mediterranen Welt, also, aus dem Mittelmeerraum, Waren nach Köln geliefert worden sind. Das sind unter anderem Weine aus Kleinasien oder Fischsoßen, heute würde man von Oystersoße sprechen, aus dem antiken Pompeji. All das ist nach Köln geliefert worden und darüber berichtet sonst keine schriftliche Quelle.

Kassel: Wird man denn in Teilen aufgrund dieser Dinge, die Sie nun in den letzten ungefähr neun Jahren gefunden haben, sozusagen die Geschichte Kölns neu schreiben müssen?

Trier: Man muss mit Superlativen immer vorsichtig sein, man wird sie nicht neu schreiben müssen, aber man wird sie in vielen Facetten viel heller und deutlicher nachzeichnen können.

Kassel: Wir haben unser Gespräch begonnen mit diesen ganz kleinen Teilen, die der Laie wahrscheinlich für völlig unwichtig hielte. Sind denn auch relativ große gut erhaltene Teile gefunden worden?

Trier: Ja, es sind Reste von römischen Großgrabmälern, aus Stein gearbeitet, entdeckt worden, aber auch Reste von untergegangenen römischen Schiffen, die mehrere Quadratmeter groß, Flachbodenschiffe, groß gewesen sein können. Also, es gibt die gesamte Facette aus 2000 Jahren Kölner Stadtgeschichte. Aber auch die Steinkohlebriketts im kriegszerstörten Keller von 1943 sind dokumentiert worden und spielen eine Rolle.

Kassel: Da hätte ich nun aber gedacht, die hätte man auch schon früher finden können! Wieso waren die so versteckt?

Trier: Die Keller sind praktisch das Letzte, was von diesen Häusern erhalten ist. Die Häuser sind zerbombt worden, der Kriegsschutt ist in die Keller hineingefüllt worden. Und dann hat man zum Teil eben alte Parzellen aufgehoben und darüber Platzflächen oder Straßenflächen errichtet. Manchmal ist die Geschichte der Stadt Köln, die jüngste Geschichte, unmittelbar unter dem Platzpflaster erhalten.

Kassel: Das ist somit das Jüngste, was Sie gefunden hat, wie alt ist denn das Älteste?

Trier: Das Älteste ist ein Nashornschädel, der über C14, also über Kohlestoffdatierung in das Jahr 37.000 vor Christus datiert werden konnte. Aber auch der ist nicht nur einmal verwendet worden, der ist in den römischen Hafen hineingewandert, weil er von einem Handwerker, der mit einem Messer oder Hackbeil darauf gearbeitet hat, also das als eine Art Werkbank benutzt hat.

Kassel: Wir reden heute Nachmittag im Deutschlandradio Kultur mit Marcus Trier, Archäologe und kommissarischer Direktor des Römisch-Germanischen Museums in Köln, über die Ausgrabungen, die der U-Bahn-Bau in der Stadt in den letzten ungefähr neun Jahren ermöglicht hat. 2,5 Millionen Fundstücke wurden freigelegt. Eins haben Sie noch nicht erwähnt, also, nicht ein Stück, sondern ein Gesamtbild, das sich da ergibt, nämlich eine Bergkristallwerkstatt, von der ich zumindest gelesen habe. Es hat mal mitten in Köln eine Bergkristallwerkstatt gegeben?

Trier: Ja, das war einer der wirklich überraschenden Funde. Etwa 65.000 kleinste und mittlere Artefakte, also Bruchstücke von Bergkristallen, die, so haben die Untersuchungen gezeigt, aus dem Gotthardmassiv nach Köln geliefert worden sind. Und die sind in dieser Werkstatt, die im Schatten des mittelalterlichen Domes lag, also, in der alten erzbischöflichen Immunität, sie sind dort verarbeitet worden zu Schmuck für Vortragekreuze, Schreine, Buchdeckel. Das Ganze hat nach Ausweis der Funde im 12. Jahrhundert an dieser Stelle stattgefunden, und so bestätigen die archäologischen Funde die schriftliche Überlieferung, die Köln immer als eines der Zentren mittelalterlicher Bergkristallverarbeitung erwähnt hat.

Kassel: 2,5 Millionen, Sie haben am Anfang schon zugegeben, das ist Fluch und Segen zugleich. Fluch haben Sie gesagt, auch, weil es ja eigentlich noch am schönsten ist, wenn man es da liegen lassen kann, wo es gefunden wurde, geht nicht. Aber ist es nicht auch ein Fluch, weil es doch wahrscheinlich sehr, sehr viel Arbeit ist, 2,5 Millionen Einzelstücke zu katalogisieren und am Ende irgendwo zu archivieren?

Trier: Ja, das ist eine gewaltige Arbeit. Die wird uns noch viele Jahre beschäftigen und begleiten, es wird sicher ein ganzer Strauß von Doktorarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten daraus noch entstehen und viele Publikationen. Ganz aktuell sind wir allerdings dabei, eine große Ausstellung, die den Titel "Zeittunnel" trägt, "2000 Jahre Köln im Spiegel der U-Bahn-Archäologie", diese Ausstellung vorzubereiten, die wird Anfang November diesen Jahres eröffnet und wird auch durch ein entsprechendes Begleitbuch auch dem interessierten Laien vieles über diese archäologischen Entdeckungen berichten.

Kassel: Haben Sie als Archäologe nicht da so ein bisschen Blut geleckt? Ich meine, es gibt ja doch einige Städte in Deutschland, bei denen man im Untergrund einiges vermuten würde. Sind Sie jetzt dafür, dass man endlich auch in Speyer oder sonst wo eine U-Bahn baut?

Trier: Also, das ist ein weites Feld! Köln ist natürlich um einiges größer und hier war der Wunsch nach einer Nord-Süd-Stadtbahn, -U-Bahn lange schon lebendig. Aber ich glaube, als Archäologe ist man ganz gut beraten, nicht allzu viele U-Bahn-Archäologien zu betreuen, die halten einen nämlich wirklich ganz schön unter Dampf!

Kassel: Das glaube ich gerne! Marcus Trier war das, er ist Archäologe und außerdem kommissarischer Direktor des Römisch-Germanischen Museums in Köln, und damit ist er auch ganz führend verantwortlich für 2,5 Millionen Fundstücke, die im Rahmen der archäologischen Grabungen während des U-Bahn-Baus in Köln alle freigelegt wurden. Herr Trier, ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei all dem, was an Arbeit noch auf Sie zukommt, und irgendwann mal gute Fahrt mit der neuen U-Bahn!

Trier: Ich danke Ihnen!

Kassel: Ich danke Ihnen!

Trier: Alles Gute!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.