"Ein bürokratisches Monster"
Die Schwierigkeiten deutscher Hochschulen mit den im Rahmen des Bologna-Prozesses eingeführten Bachelor- und Masterstudiengängen sei selbst verschuldet, so Dieter Lenzen, Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz. Bei der Reform sei "ein bürokratisches Monster" entstanden.
Katrin Heise: Die Studienleistung wird in Credit Points berechnet, ein Punkt entspricht in etwa dem Arbeitsaufwand von 30 Arbeitsstunden. Und so wird beispielsweise ein Chemiestudium vergleichbar, ob in Italien, Schweden oder in Deutschland studiert wird. Das wollte die Bologna-Reform, die vor zehn Jahren auch in Deutschland umgesetzt wurde, auch erreichen: internationale Vergleichbarkeit.
Inzwischen sind 86 Prozent der deutschen Studiengänge im Sinne von Bologna umgestaltet. Bundesbildungsministerin Annette Schavan zog bisher eine positive Bilanz, aus Mecklenburg-Vorpommern wurde sie vom Bildungsminister Brodkorb allerdings aufgerufen, nicht alles schönzureden.
Auch die Hochschulrektoren sehen das offenbar anders als Frau Schavan, so konnte man gestern den Zeitungen entnehmen. Ich begrüße nun den Präsidenten der Hamburger Universität und Vizepräsident in der Hochschulrektorenkonferenz - schönen guten Morgen, Dieter Lenzen!
Dieter Lenzen: Guten Morgen!
Heise: Bevor wir jetzt ins Detail gehen, wollte ich mal generell fragen: Nach zehn Jahren liest man mehr Kritik als Lobeshymnen so in der Öffentlichkeit - was sehen Sie, mehr Licht oder mehr Schatten?
Lenzen: Ich glaube, man muss für die deutsche Variante des Bologna-Prozesses mehr Schatten sehen. Deutschland hat es übertrieben, wie so häufig, bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses und ein bürokratisches Monster entstehen lassen, was nicht notwendigerweise so gewesen wäre. Insofern muss man das differenziert angehen.
Es gibt zweifellos Vorteile, zum Beispiel der Schrecken vor der Abschlussprüfung ist weg, dadurch, dass während des Studiums beurteilt wird und man etwas ausgleichen kann, was nicht gelungen ist. Auf der anderen Seite haben Sie natürlich die Rückseite, die ständigen Prüfungen über das ganze Studium hinweg. Von dieser Art von Licht und Schatten gibt es sehr viel, und das muss man im Einzelnen anschauen.
Heise: Das wollen wir uns jetzt auch ansehen, tatsächlich, die internationale Vergleichbarkeit von Studieninhalten und damit eine erhöhte internationale Mobilität, das war ja das ausgesprochene Ziel, ein sehr lohnendes Ziel. Nun musste man von dem Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz Hippler lesen, dass er dieses Versprechen überhaupt gar nicht eingelöst sieht. Wie beobachten Sie das?
Lenzen: Also das lässt sich durch Zahlen sehr deutlich zeigen: Das, was beabsichtigt war, nämlich eine Steigerung der Mobilität, das heißt, dass deutsche Studenten vermehrt beispielsweise im europäischen Ausland studieren und umgekehrt europäische Schülerinnen und Studenten und Studentinnen nach Deutschland kommen, hat sich nicht verändert gegenüber dem Zeitpunkt davor. Da wird nachgebessert werden müssen.
Das ist auch leicht erklärbar, warum das nicht so ist, weil durch diese sehr kurzen Studiengänge in Deutschland - das ist ja nicht überall so - in Deutschland einfach keine Zeit dafür ist, ein ganzes Semester woanders hinzugehen, weil man dann möglicherweise auch noch konfrontiert wird, was da ja nicht selten ist, damit, dass die Leistungen, die man in Paris oder Coimbra oder wo immer er erworben hat, nicht anerkannt werden. Das heißt ...
Heise: Aber genau das sollte doch passieren.
Lenzen: Genau das sollte passieren, völlig richtig. Das hat ein bisschen gelegentlich zu tun mit der Hybris deutscher Universitäten, dass man sagt, also bei uns ist sowieso alles am besten, und was jemand woanders studiert hat, können wir nicht gebrauchen, bitte das Ganze noch einmal.
Das ist nicht notwendigerweise so, wenn Sie von Deutschland nach Griechenland gehen, natürlich nicht, und da, glaube ich, ist noch ein europäischer Schub erforderlich.
Heise: Das heißt ein europäischer Schub, aber nicht nur ein deutscher Schub, weil Sie vorhin gesagt haben, international würden Sie eigentlich ganz gut Licht sehen, in Deutschland Schatten, aber international muss schon auch noch, also europäisch ...
Lenzen: Na ja, dies ist ein deutsches Problem, die Nichtanerkennung von Leistungen, die von außen kommen, übrigens auch innerhalb Deutschlands - beim Wechseln von der einen Universität auf die andere werden bürokratische Hürden häufig aufgebaut, die schlicht nicht erträglich sind und auch gar nicht erklärbar.
Heise: Speziell in Deutschland klagte man vor Bologna ja über Absolventen, die im internationalen Vergleich viel zu alt waren. Durch die festgelegten sechs Semester Bachelor ist die Studiengeschwindigkeit ja rasant gestiegen und die Absolventen sind ja auch jünger geworden. Ist das Ziel also erreicht?
Lenzen: Zweifellos sind sie jünger geworden, vor allen Dingen in der Kombination mit der Einführung des verkürzten Gymnasiums ...
Heise: Und vielleicht noch fünf Jahre alt sein beim Einschulen.
Lenzen: ... und womöglich eine Einschulung im fünften Lebensjahr - haben Sie möglicherweise Absolventen mit einem BA, die noch keine 20 sind. Vor allen Dingen haben wir jetzt auch die ersten Studierenden, die unter 18 sind, teilweise sogar 16, wenn sie ihr Studium aufnehmen.
Das heißt, dass die Hochschulen eine ganz neue Aufgabe bekommen, im Grunde eine Erziehungsaufgabe, auf die sie weder vorbereitet sind, noch ist es so, dass Professoren diesen Beruf erwählen, um als Erzieher tätig zu werden.
Heise: Und dann könnte ich mir vorstellen, dass gerade Bologna diesem erzieherischen Ansatz ja dann auch entgegensteht.
Lenzen: Das ist richtig, weil der gesamte Prozess ja sehr stark auf Wissen und Kompetenzvermittlung ausgerichtet ist und nicht auf das, was die klassische deutsche oder kontinentale Universität - das war ja nicht nur in Deutschland so - eigentlich wollte, nämlich Bildungsprozesse, Persönlichkeitsbildungsprozesse in Gang zu bringen durch die Befassung mit Wissenschaft.
Heise: Der Präsident der Universität Hamburg und Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz, Dieter Lenzen, im Deutschlandradio Kultur zu zehn Jahre Bologna-Prozess.
Herr Lenzen, wenn Sie sagen, Hochschulen sind keine Lernfabriken - das Wort habe ich mal bei Ihnen gelesen -, mehr Wert sollte auf den Ort als Menschenbildung eben, wie Sie es gesagt haben, gelegt werden, das wird dann doch aber ... oder wie kommt das mit diesem sinnvollen Anliegen, das Studium zu verschlanken und international vergleichbar zu sein, wie geht das wiederum zusammen?
Lenzen: Also es ist nicht notwendig gewesen, den Bologna-Prozess so zu lesen, dass die Bachelor-Studiengänge nur sechs Semester sind. Deutschland hätte und die Bundesländer hätten die achtsemestrigen Bachelor-Studiengänge zum Normalfall machen können. Das ist in Asien durchgängig der Fall, auch in den Vereinigten Staaten, im Übrigen gibt es dort noch ein Zwischenstudium zwischen dem Highschool-Abschluss, nämlich in der Form des Colleges und dem Beginn der Universität.
Also mit anderen Worten, man hätte sich dort mehr Zeit lassen können, ohne umgekehrt auf der anderen Seite im Extrem zu landen, was dann ja häufig als Beispiel gewertet wurde, dass die durchschnittliche Studienzeit bei einem Germanisten 16 Semester war. Das ist natürlich Unfug gewesen, aber wir sind von einem Extrem ins andere gefallen.
Heise: Hochschulrektorenkonferenz-Präsident Hippler sagte, der Bachelor sei sowieso erst ein erster Abschluss zur Berufsbefähigung, nicht aber eine Berufsqualifikation, und bekam dann von Frau Schavan die Antwort, die Wirtschaft sei doch aber zufrieden. Wie viel ist nun eigentlich der Bachelor tatsächlich wert, denn die Zahlen sind ja wohl wirklich so?
Lenzen: Also ich kann nicht sehen, dass die Wirtschaft zufrieden ist, ich höre ganz im Gegenteil in einzelnen Gesprächen mit Personalverantwortlichen das Gegenteil, dass sie nämlich genau sagen, die sind viel zu jung, die sind personell nicht entwickelt, sie sind gar nicht reif, wir können sie für Führungsaufgaben sowieso nicht einsetzen, wir müssen ihnen alles noch beibringen, und das ist das Gegenteil von dem, was man vorher gehört hat - es wird ja auch kritisiert, dass der Praxisanteil nicht groß genug ist.
Nun muss man mal die Kirche im Dorf lassen: Die Ausbildung von jungen Menschen richtet sich nicht nur auf die Wirtschaft, sondern natürlich auch auf den öffentlichen Bereich und vor allen Dingen auch in die Richtung, selbstständig zu werden. Mit anderen Worten: Die Anforderungen sind völlig unterschiedlich, und wenn Sie sich den Staat als Beschäftiger anschauen, so hat er sich klar entschieden, er stellt keine Bachelor als Akademiker ein, Sie können mit einem Bachelor-Abschluss nicht Lehrer werden, und wenn Sie einen Bachelor-Abschluss haben und Sie wollen, sagen wir mal, im Verwaltungsdienst oder in ähnlichen Bereichen tätig werden, werden Sie nur im sogenannten gehobenen Dienst beschäftigt, also nicht im höheren Dienst, wofür eigentlich ein Universitätsstudium gedacht ist.
Der Staat selber glaubt sich nicht in der Frage der Qualifikation der Bachelor-Absolventen. Also insofern denke ich, wir werden mit großer Sicherheit darauf zusteuern, dass der Master der Regelabschluss wird und dass es eine Möglichkeit gibt, mit dem Bachelor auszusteigen, wenn man nicht weiterstudieren will oder sagt, das reicht mir für das, was ich vorhabe, oder umgekehrt in vermehrtem Maße Bachelor-Studiengänge mit acht Semestern anbieten - in Hamburg diskutieren wir das beispielsweise auch sehr erfolgreich mit der Politik.
Ich bin sicher, dass sich da massiv etwas ändern muss, allerdings hat das natürlich etwas zu tun mit der Frage der Zahl der Studienplätze. Wenn Sie sechssemestrige Studiengänge anbieten, haben Sie natürlich mit einem Schlag 25 Prozent mehr Studienanfängerplätze, als wenn Sie sie achtsemestrig machen. Und das ist damals das leicht durchschaubare Motiv der Kultusminister gewesen, ohne einen Cent in die Hand zu nehmen, die Zahl der Studienplätze um 25 Prozent zu erhöhen und vor das Volk zu treten und zu sagen, ihr dürft alle studieren. Dass sie davon wenig haben am Ende, das hat natürlich niemand gesagt.
Heise: Jetzt kommen wir mal zu dem, was in Ihrer Uni momentan passiert. In Hamburg hat sich sozusagen eine Gruppe gebildet, die will Bachelor 2.0 aus der Taufe heben, also nicht abschaffen, nicht zurückdrehen das Ganze - wie sehen Ihre Verbesserungen aus, die da erarbeitet werden?
Lenzen: Also das ist nicht eine Gruppe, sondern wir haben seitens des Präsidiums diesen Prozess angestoßen, wir haben einen Dies academicus, also einen ganzen Tag mit den Studierenden, die sich für diese Frage interessierten, diskutiert und alle Probleme zusammengetragen, von denen wir sagen, das muss anders werden. Das sind ungefähr 100 Punkte gewesen, die haben wir in einem Prozess während des Sommersemesters heruntergebrochen, weil der Teufel im Detail steckt - wir müssen Prüfungsordnungen ändern, Studienordnungen und so weiter -, und das ist jetzt im Umsetzungsprozess.
Beginnt mit der Frage der Anwesenheit während der Lehrveranstaltung, Pflicht ja oder nein, geht über die Frage der Zahl der Prüfungen - wir versuchen sie zu halbieren gegenüber dem Status quo -, über komplizierte Anmeldeverfahren, aber auch die ganze Anerkennungsfrage. Wir haben gesagt, die Grundregel muss heißen: Wer eine Leistung von woanders mitbringt, sie wird anerkannt, und es wird nicht darüber diskutiert.
Wenn sie nicht anerkannt werden soll, dann muss ein begründungsfähiger Bescheid gemacht werden, mit dem man gegebenenfalls auch zu Gericht gehen kann. Es geht nicht so weiter, dass sozusagen eine einzelne Person am Ende entscheidet, ob etwas anerkannt wird oder nicht.
Heise: Wenn jetzt jede einzelne Uni solche Prozesse in Gang setzt, zu der Sie ja durchaus auch aufrufen, da was zu verändern, um es besser zu machen, wo bleibt denn dann das Gemeinsame des Bologna-Prozesses?
Lenzen: Das Gemeinsame bezog sich ja auf Europa und hat sich eigentlich wenig gerichtet auf die Situation in Deutschland selber. Die Abstimmungen dort sind so gering wie nie zuvor. Früher gab es ja vor dem Bologna-Prozess die Rahmenprüfungsordnungen zwischen den Bundesländern, die eine gewisse Einheitlichkeit schaffen sollten, das ist natürlich weitgehend vorbei, weil den Universitäten gar nichts anderes übrig bleibt, als ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen und zu sagen, wir reformieren das jetzt so, wie wir glauben, dass es gemacht werden muss.
Wir haben nun mal keine Bundesbildungspolitik in diesem Bereich, sondern eine föderale, und das bedeutet, dass die Verantwortung bei den Hochschulen liegt, was aber auch teilweise gut ist, weil diejenigen, die einsichtig sind, dann auch vorpreschen können und sagen, wir wollen studier- und lebensfähige und würdige Studienbedingungen haben.
Heise: Sagt Dieter Lenzen. Er ist Präsident der Universität Hamburg und Vizevorsitzender der deutschen Hochschulrektorenkonferenz. Vielen Dank, Herr Lenzen!
Lenzen: Gerne, auf Wiederhören!
Heise: Zehn Jahre Bologna-Prozess war das im Rückblick - kritisch betrachtet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Inzwischen sind 86 Prozent der deutschen Studiengänge im Sinne von Bologna umgestaltet. Bundesbildungsministerin Annette Schavan zog bisher eine positive Bilanz, aus Mecklenburg-Vorpommern wurde sie vom Bildungsminister Brodkorb allerdings aufgerufen, nicht alles schönzureden.
Auch die Hochschulrektoren sehen das offenbar anders als Frau Schavan, so konnte man gestern den Zeitungen entnehmen. Ich begrüße nun den Präsidenten der Hamburger Universität und Vizepräsident in der Hochschulrektorenkonferenz - schönen guten Morgen, Dieter Lenzen!
Dieter Lenzen: Guten Morgen!
Heise: Bevor wir jetzt ins Detail gehen, wollte ich mal generell fragen: Nach zehn Jahren liest man mehr Kritik als Lobeshymnen so in der Öffentlichkeit - was sehen Sie, mehr Licht oder mehr Schatten?
Lenzen: Ich glaube, man muss für die deutsche Variante des Bologna-Prozesses mehr Schatten sehen. Deutschland hat es übertrieben, wie so häufig, bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses und ein bürokratisches Monster entstehen lassen, was nicht notwendigerweise so gewesen wäre. Insofern muss man das differenziert angehen.
Es gibt zweifellos Vorteile, zum Beispiel der Schrecken vor der Abschlussprüfung ist weg, dadurch, dass während des Studiums beurteilt wird und man etwas ausgleichen kann, was nicht gelungen ist. Auf der anderen Seite haben Sie natürlich die Rückseite, die ständigen Prüfungen über das ganze Studium hinweg. Von dieser Art von Licht und Schatten gibt es sehr viel, und das muss man im Einzelnen anschauen.
Heise: Das wollen wir uns jetzt auch ansehen, tatsächlich, die internationale Vergleichbarkeit von Studieninhalten und damit eine erhöhte internationale Mobilität, das war ja das ausgesprochene Ziel, ein sehr lohnendes Ziel. Nun musste man von dem Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz Hippler lesen, dass er dieses Versprechen überhaupt gar nicht eingelöst sieht. Wie beobachten Sie das?
Lenzen: Also das lässt sich durch Zahlen sehr deutlich zeigen: Das, was beabsichtigt war, nämlich eine Steigerung der Mobilität, das heißt, dass deutsche Studenten vermehrt beispielsweise im europäischen Ausland studieren und umgekehrt europäische Schülerinnen und Studenten und Studentinnen nach Deutschland kommen, hat sich nicht verändert gegenüber dem Zeitpunkt davor. Da wird nachgebessert werden müssen.
Das ist auch leicht erklärbar, warum das nicht so ist, weil durch diese sehr kurzen Studiengänge in Deutschland - das ist ja nicht überall so - in Deutschland einfach keine Zeit dafür ist, ein ganzes Semester woanders hinzugehen, weil man dann möglicherweise auch noch konfrontiert wird, was da ja nicht selten ist, damit, dass die Leistungen, die man in Paris oder Coimbra oder wo immer er erworben hat, nicht anerkannt werden. Das heißt ...
Heise: Aber genau das sollte doch passieren.
Lenzen: Genau das sollte passieren, völlig richtig. Das hat ein bisschen gelegentlich zu tun mit der Hybris deutscher Universitäten, dass man sagt, also bei uns ist sowieso alles am besten, und was jemand woanders studiert hat, können wir nicht gebrauchen, bitte das Ganze noch einmal.
Das ist nicht notwendigerweise so, wenn Sie von Deutschland nach Griechenland gehen, natürlich nicht, und da, glaube ich, ist noch ein europäischer Schub erforderlich.
Heise: Das heißt ein europäischer Schub, aber nicht nur ein deutscher Schub, weil Sie vorhin gesagt haben, international würden Sie eigentlich ganz gut Licht sehen, in Deutschland Schatten, aber international muss schon auch noch, also europäisch ...
Lenzen: Na ja, dies ist ein deutsches Problem, die Nichtanerkennung von Leistungen, die von außen kommen, übrigens auch innerhalb Deutschlands - beim Wechseln von der einen Universität auf die andere werden bürokratische Hürden häufig aufgebaut, die schlicht nicht erträglich sind und auch gar nicht erklärbar.
Heise: Speziell in Deutschland klagte man vor Bologna ja über Absolventen, die im internationalen Vergleich viel zu alt waren. Durch die festgelegten sechs Semester Bachelor ist die Studiengeschwindigkeit ja rasant gestiegen und die Absolventen sind ja auch jünger geworden. Ist das Ziel also erreicht?
Lenzen: Zweifellos sind sie jünger geworden, vor allen Dingen in der Kombination mit der Einführung des verkürzten Gymnasiums ...
Heise: Und vielleicht noch fünf Jahre alt sein beim Einschulen.
Lenzen: ... und womöglich eine Einschulung im fünften Lebensjahr - haben Sie möglicherweise Absolventen mit einem BA, die noch keine 20 sind. Vor allen Dingen haben wir jetzt auch die ersten Studierenden, die unter 18 sind, teilweise sogar 16, wenn sie ihr Studium aufnehmen.
Das heißt, dass die Hochschulen eine ganz neue Aufgabe bekommen, im Grunde eine Erziehungsaufgabe, auf die sie weder vorbereitet sind, noch ist es so, dass Professoren diesen Beruf erwählen, um als Erzieher tätig zu werden.
Heise: Und dann könnte ich mir vorstellen, dass gerade Bologna diesem erzieherischen Ansatz ja dann auch entgegensteht.
Lenzen: Das ist richtig, weil der gesamte Prozess ja sehr stark auf Wissen und Kompetenzvermittlung ausgerichtet ist und nicht auf das, was die klassische deutsche oder kontinentale Universität - das war ja nicht nur in Deutschland so - eigentlich wollte, nämlich Bildungsprozesse, Persönlichkeitsbildungsprozesse in Gang zu bringen durch die Befassung mit Wissenschaft.
Heise: Der Präsident der Universität Hamburg und Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz, Dieter Lenzen, im Deutschlandradio Kultur zu zehn Jahre Bologna-Prozess.
Herr Lenzen, wenn Sie sagen, Hochschulen sind keine Lernfabriken - das Wort habe ich mal bei Ihnen gelesen -, mehr Wert sollte auf den Ort als Menschenbildung eben, wie Sie es gesagt haben, gelegt werden, das wird dann doch aber ... oder wie kommt das mit diesem sinnvollen Anliegen, das Studium zu verschlanken und international vergleichbar zu sein, wie geht das wiederum zusammen?
Lenzen: Also es ist nicht notwendig gewesen, den Bologna-Prozess so zu lesen, dass die Bachelor-Studiengänge nur sechs Semester sind. Deutschland hätte und die Bundesländer hätten die achtsemestrigen Bachelor-Studiengänge zum Normalfall machen können. Das ist in Asien durchgängig der Fall, auch in den Vereinigten Staaten, im Übrigen gibt es dort noch ein Zwischenstudium zwischen dem Highschool-Abschluss, nämlich in der Form des Colleges und dem Beginn der Universität.
Also mit anderen Worten, man hätte sich dort mehr Zeit lassen können, ohne umgekehrt auf der anderen Seite im Extrem zu landen, was dann ja häufig als Beispiel gewertet wurde, dass die durchschnittliche Studienzeit bei einem Germanisten 16 Semester war. Das ist natürlich Unfug gewesen, aber wir sind von einem Extrem ins andere gefallen.
Heise: Hochschulrektorenkonferenz-Präsident Hippler sagte, der Bachelor sei sowieso erst ein erster Abschluss zur Berufsbefähigung, nicht aber eine Berufsqualifikation, und bekam dann von Frau Schavan die Antwort, die Wirtschaft sei doch aber zufrieden. Wie viel ist nun eigentlich der Bachelor tatsächlich wert, denn die Zahlen sind ja wohl wirklich so?
Lenzen: Also ich kann nicht sehen, dass die Wirtschaft zufrieden ist, ich höre ganz im Gegenteil in einzelnen Gesprächen mit Personalverantwortlichen das Gegenteil, dass sie nämlich genau sagen, die sind viel zu jung, die sind personell nicht entwickelt, sie sind gar nicht reif, wir können sie für Führungsaufgaben sowieso nicht einsetzen, wir müssen ihnen alles noch beibringen, und das ist das Gegenteil von dem, was man vorher gehört hat - es wird ja auch kritisiert, dass der Praxisanteil nicht groß genug ist.
Nun muss man mal die Kirche im Dorf lassen: Die Ausbildung von jungen Menschen richtet sich nicht nur auf die Wirtschaft, sondern natürlich auch auf den öffentlichen Bereich und vor allen Dingen auch in die Richtung, selbstständig zu werden. Mit anderen Worten: Die Anforderungen sind völlig unterschiedlich, und wenn Sie sich den Staat als Beschäftiger anschauen, so hat er sich klar entschieden, er stellt keine Bachelor als Akademiker ein, Sie können mit einem Bachelor-Abschluss nicht Lehrer werden, und wenn Sie einen Bachelor-Abschluss haben und Sie wollen, sagen wir mal, im Verwaltungsdienst oder in ähnlichen Bereichen tätig werden, werden Sie nur im sogenannten gehobenen Dienst beschäftigt, also nicht im höheren Dienst, wofür eigentlich ein Universitätsstudium gedacht ist.
Der Staat selber glaubt sich nicht in der Frage der Qualifikation der Bachelor-Absolventen. Also insofern denke ich, wir werden mit großer Sicherheit darauf zusteuern, dass der Master der Regelabschluss wird und dass es eine Möglichkeit gibt, mit dem Bachelor auszusteigen, wenn man nicht weiterstudieren will oder sagt, das reicht mir für das, was ich vorhabe, oder umgekehrt in vermehrtem Maße Bachelor-Studiengänge mit acht Semestern anbieten - in Hamburg diskutieren wir das beispielsweise auch sehr erfolgreich mit der Politik.
Ich bin sicher, dass sich da massiv etwas ändern muss, allerdings hat das natürlich etwas zu tun mit der Frage der Zahl der Studienplätze. Wenn Sie sechssemestrige Studiengänge anbieten, haben Sie natürlich mit einem Schlag 25 Prozent mehr Studienanfängerplätze, als wenn Sie sie achtsemestrig machen. Und das ist damals das leicht durchschaubare Motiv der Kultusminister gewesen, ohne einen Cent in die Hand zu nehmen, die Zahl der Studienplätze um 25 Prozent zu erhöhen und vor das Volk zu treten und zu sagen, ihr dürft alle studieren. Dass sie davon wenig haben am Ende, das hat natürlich niemand gesagt.
Heise: Jetzt kommen wir mal zu dem, was in Ihrer Uni momentan passiert. In Hamburg hat sich sozusagen eine Gruppe gebildet, die will Bachelor 2.0 aus der Taufe heben, also nicht abschaffen, nicht zurückdrehen das Ganze - wie sehen Ihre Verbesserungen aus, die da erarbeitet werden?
Lenzen: Also das ist nicht eine Gruppe, sondern wir haben seitens des Präsidiums diesen Prozess angestoßen, wir haben einen Dies academicus, also einen ganzen Tag mit den Studierenden, die sich für diese Frage interessierten, diskutiert und alle Probleme zusammengetragen, von denen wir sagen, das muss anders werden. Das sind ungefähr 100 Punkte gewesen, die haben wir in einem Prozess während des Sommersemesters heruntergebrochen, weil der Teufel im Detail steckt - wir müssen Prüfungsordnungen ändern, Studienordnungen und so weiter -, und das ist jetzt im Umsetzungsprozess.
Beginnt mit der Frage der Anwesenheit während der Lehrveranstaltung, Pflicht ja oder nein, geht über die Frage der Zahl der Prüfungen - wir versuchen sie zu halbieren gegenüber dem Status quo -, über komplizierte Anmeldeverfahren, aber auch die ganze Anerkennungsfrage. Wir haben gesagt, die Grundregel muss heißen: Wer eine Leistung von woanders mitbringt, sie wird anerkannt, und es wird nicht darüber diskutiert.
Wenn sie nicht anerkannt werden soll, dann muss ein begründungsfähiger Bescheid gemacht werden, mit dem man gegebenenfalls auch zu Gericht gehen kann. Es geht nicht so weiter, dass sozusagen eine einzelne Person am Ende entscheidet, ob etwas anerkannt wird oder nicht.
Heise: Wenn jetzt jede einzelne Uni solche Prozesse in Gang setzt, zu der Sie ja durchaus auch aufrufen, da was zu verändern, um es besser zu machen, wo bleibt denn dann das Gemeinsame des Bologna-Prozesses?
Lenzen: Das Gemeinsame bezog sich ja auf Europa und hat sich eigentlich wenig gerichtet auf die Situation in Deutschland selber. Die Abstimmungen dort sind so gering wie nie zuvor. Früher gab es ja vor dem Bologna-Prozess die Rahmenprüfungsordnungen zwischen den Bundesländern, die eine gewisse Einheitlichkeit schaffen sollten, das ist natürlich weitgehend vorbei, weil den Universitäten gar nichts anderes übrig bleibt, als ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen und zu sagen, wir reformieren das jetzt so, wie wir glauben, dass es gemacht werden muss.
Wir haben nun mal keine Bundesbildungspolitik in diesem Bereich, sondern eine föderale, und das bedeutet, dass die Verantwortung bei den Hochschulen liegt, was aber auch teilweise gut ist, weil diejenigen, die einsichtig sind, dann auch vorpreschen können und sagen, wir wollen studier- und lebensfähige und würdige Studienbedingungen haben.
Heise: Sagt Dieter Lenzen. Er ist Präsident der Universität Hamburg und Vizevorsitzender der deutschen Hochschulrektorenkonferenz. Vielen Dank, Herr Lenzen!
Lenzen: Gerne, auf Wiederhören!
Heise: Zehn Jahre Bologna-Prozess war das im Rückblick - kritisch betrachtet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.