Ein couragiertes Leben
Inge Jens hat mit "Unvollständige Erinnerungen" eine Biografie vorgelegt, in der sie auch die letzten, wohl schwierigsten Jahre an der Seite ihres Mannes Walter nicht ausspart. Vor allem wegen eines Kapitels ist das Buch lesenswert.
Viel ist über diese Biografie, die keine sein will, und die jetzt bescheiden als "Unvollständige Erinnerungen" vorliegt, bereits vor ihrem Erscheinen geschrieben worden. Selten erfuhr ein Buch eine solche Anteilnahme.
Denn die Autorin ist Inge Jens, renommierte Literaturwissenschaftlerin, vor allem aber die tatkräftige "Frau an seiner Seite", von Walter Jens, dem berühmten Rhetorikprofessor an der Uni Tübingen. Warum dieses Interesse – auch beim Rezensenten, der dieses Buch - mit einem Gefühl des Respekts und der Traurigkeit zur Hand nimmt, immer wieder ein Kapitel nachliest - verstehen möchte?
Warum diese hohen Erwartungen? Da ist zum einen die Rolle des Ehepaar Jens als greise Galionsfiguren des jugendlichen Aufstands der 68er und danach: Engagement in der Anti-Atomkraft-Bewegung, in der Friedensbewegung. Ein Paar - stets wahrgenommen als Walter und Inge, in dieser Reihenfolge. Sie standen/stehen für etwas, das heute antiquiert klingt: das neue, das andere Deutschland, wozu vor über 20 Jahren auch die Akzeptanz von zwei deutschen Staaten zählte, die BRD und die DDR. Intellektuelle wie diese Beiden bildeten die Brücke in das andere Deutschland.
Sicher, Inge Jens arbeitet das alles brav, bruchstückhaft, wie ihr eben die Erinnerungen kamen, ab. Nichts, was neu oder sonderlich originell wäre. Nett für alle, die die beschriebenen Zeitgenossen kennen. Mehr hat man wohl nicht erwartet. Und dennoch diese Neugierde?
Zwei Ereignisse kommen da zusammen: Es ist die Erkrankung von Walter Jens. Einst einer der brillantesten Sprachkünstler der Nation, verwandelte ihn die Krankheit zu einem, dem die Sprache abhanden kam, der in das Dämmerlicht der Depression, der Demenz abtauchte. Das Erschrecken und das Mitgefühl sind gleich groß, denn Viele, wie ich, sind mit Walter Jens intellektuell groß geworden, er war da, als man gesellschaftspolitisch zu denken begann und begleitete einen mit seinen vielen Büchern und Vorlesungen durch das Leben.
Einer zudem, der untadelig aus der NS-Zeit in die Demokratie gekommen war, für den die Aufarbeitung der Vergangenheit, der Kampf gegen alle Formen des Neofaschismus zum Lebenselixier wurden. Und dann der Schock. Er war doch in der NSDAP! Der Reine, Unbescholtene, wird von seinem Erstgeborenen, Tilman, in einem Buch mit dem reißerisch-grausamen Titel: "Demenz. Abschied von meinem Vater" angeklagt. Die Krankheit seines Vaters wertet er auch als eine Flucht, begründet sie mit der Angst von Walter Jens, zu seiner Nazivergangenheit zu stehen, kurz: eine Form der Lüge.
Was also wird uns die Ehefrau, Inge, in ihren "Unvollständigen Erinnerungen" berichten, dementieren, bestätigen? Nichts. Zu Sohn Tilman erfahren wir wenig, immerhin kennen wir jetzt die Geschichte seiner Geburt. Konsequent verweigert Inge Jens Einblicke ins Private, vermeidet Bekenntnisse.
Wer Aufklärung erhoffte, wird enttäuscht. Sie verliert sich in spontane Gedankensplitter, reiht Namen an Namen, selbst die ihrer Gynäkologen kennen wir jetzt, und natürlich die der Tübinger Gelehrtenfamilie von Hans Mayer bis Ernst Bloch.
Ein überflüssiges Buch? Ja und Nein. Ja in Bezug auf die Frage, was man Neues gelernt habe. Doch gleich folgt das Nein: Ich kann der Autorin nicht meinen Respekt verweigern: Es ist die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Ihr fassungsloses Reflektieren über ihre Jugend im Dritten Reich, die schöne, unbeschwerte, glückliche Jugend, die die junge BdM-Führerin erlebte, ihre Bewunderung für Hitler in einem Haus der Angepassten und Mitläufer.
Diese Schilderungen kontrastiert sie mit bohrenden Fragen: Warum habe ich nichts gesehen, bemerkt? Wieso so blind? Starke Momente!
Im Gegensatz zu vielen Rezensenten hat mich ihr Schlusskapitel "In guten und in schlechten Tagen" bewegt. Hier schreibt sie über Anfänge und die Fortentwicklung der Krankheit ihres Mannes - in einer Offenheit, die nie peinlich wird, voller Liebe, ohne den Verdruss, den Überdruss, die Hilflosigkeit, den Zorn zu verschweigen. Alles, was sie an Walter liebte, ist nicht mehr.
Und dennoch: Man ahnt die Größe dessen, was sie uns ansonsten in ihrem Buch nicht erzählt, die jahrzehntelange Liebe, die dieses Menschenpaar eint. Um dieses einen Kapitels willen ist das Buch empfehlenswert, auf das der abschließende Satz zutrifft, der ihr Leben und Arbeiten mit Walter Jens bündelt: "Ja, es war wunderbar."
Rezensiert von Günther B. Ginzel
Inge Jens: Unvollständige Erinnerungen,
Berlin, Juli 2009, Rowohlt Verlag, 19,80 Euro
Denn die Autorin ist Inge Jens, renommierte Literaturwissenschaftlerin, vor allem aber die tatkräftige "Frau an seiner Seite", von Walter Jens, dem berühmten Rhetorikprofessor an der Uni Tübingen. Warum dieses Interesse – auch beim Rezensenten, der dieses Buch - mit einem Gefühl des Respekts und der Traurigkeit zur Hand nimmt, immer wieder ein Kapitel nachliest - verstehen möchte?
Warum diese hohen Erwartungen? Da ist zum einen die Rolle des Ehepaar Jens als greise Galionsfiguren des jugendlichen Aufstands der 68er und danach: Engagement in der Anti-Atomkraft-Bewegung, in der Friedensbewegung. Ein Paar - stets wahrgenommen als Walter und Inge, in dieser Reihenfolge. Sie standen/stehen für etwas, das heute antiquiert klingt: das neue, das andere Deutschland, wozu vor über 20 Jahren auch die Akzeptanz von zwei deutschen Staaten zählte, die BRD und die DDR. Intellektuelle wie diese Beiden bildeten die Brücke in das andere Deutschland.
Sicher, Inge Jens arbeitet das alles brav, bruchstückhaft, wie ihr eben die Erinnerungen kamen, ab. Nichts, was neu oder sonderlich originell wäre. Nett für alle, die die beschriebenen Zeitgenossen kennen. Mehr hat man wohl nicht erwartet. Und dennoch diese Neugierde?
Zwei Ereignisse kommen da zusammen: Es ist die Erkrankung von Walter Jens. Einst einer der brillantesten Sprachkünstler der Nation, verwandelte ihn die Krankheit zu einem, dem die Sprache abhanden kam, der in das Dämmerlicht der Depression, der Demenz abtauchte. Das Erschrecken und das Mitgefühl sind gleich groß, denn Viele, wie ich, sind mit Walter Jens intellektuell groß geworden, er war da, als man gesellschaftspolitisch zu denken begann und begleitete einen mit seinen vielen Büchern und Vorlesungen durch das Leben.
Einer zudem, der untadelig aus der NS-Zeit in die Demokratie gekommen war, für den die Aufarbeitung der Vergangenheit, der Kampf gegen alle Formen des Neofaschismus zum Lebenselixier wurden. Und dann der Schock. Er war doch in der NSDAP! Der Reine, Unbescholtene, wird von seinem Erstgeborenen, Tilman, in einem Buch mit dem reißerisch-grausamen Titel: "Demenz. Abschied von meinem Vater" angeklagt. Die Krankheit seines Vaters wertet er auch als eine Flucht, begründet sie mit der Angst von Walter Jens, zu seiner Nazivergangenheit zu stehen, kurz: eine Form der Lüge.
Was also wird uns die Ehefrau, Inge, in ihren "Unvollständigen Erinnerungen" berichten, dementieren, bestätigen? Nichts. Zu Sohn Tilman erfahren wir wenig, immerhin kennen wir jetzt die Geschichte seiner Geburt. Konsequent verweigert Inge Jens Einblicke ins Private, vermeidet Bekenntnisse.
Wer Aufklärung erhoffte, wird enttäuscht. Sie verliert sich in spontane Gedankensplitter, reiht Namen an Namen, selbst die ihrer Gynäkologen kennen wir jetzt, und natürlich die der Tübinger Gelehrtenfamilie von Hans Mayer bis Ernst Bloch.
Ein überflüssiges Buch? Ja und Nein. Ja in Bezug auf die Frage, was man Neues gelernt habe. Doch gleich folgt das Nein: Ich kann der Autorin nicht meinen Respekt verweigern: Es ist die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Ihr fassungsloses Reflektieren über ihre Jugend im Dritten Reich, die schöne, unbeschwerte, glückliche Jugend, die die junge BdM-Führerin erlebte, ihre Bewunderung für Hitler in einem Haus der Angepassten und Mitläufer.
Diese Schilderungen kontrastiert sie mit bohrenden Fragen: Warum habe ich nichts gesehen, bemerkt? Wieso so blind? Starke Momente!
Im Gegensatz zu vielen Rezensenten hat mich ihr Schlusskapitel "In guten und in schlechten Tagen" bewegt. Hier schreibt sie über Anfänge und die Fortentwicklung der Krankheit ihres Mannes - in einer Offenheit, die nie peinlich wird, voller Liebe, ohne den Verdruss, den Überdruss, die Hilflosigkeit, den Zorn zu verschweigen. Alles, was sie an Walter liebte, ist nicht mehr.
Und dennoch: Man ahnt die Größe dessen, was sie uns ansonsten in ihrem Buch nicht erzählt, die jahrzehntelange Liebe, die dieses Menschenpaar eint. Um dieses einen Kapitels willen ist das Buch empfehlenswert, auf das der abschließende Satz zutrifft, der ihr Leben und Arbeiten mit Walter Jens bündelt: "Ja, es war wunderbar."
Rezensiert von Günther B. Ginzel
Inge Jens: Unvollständige Erinnerungen,
Berlin, Juli 2009, Rowohlt Verlag, 19,80 Euro