Ein denkender Schauspieler

Von Hartmut Krug |
Seine furiose Rolle in Edward Albees Ehedrama "Wer hat Angst vor Virginia Wolff?" hat Ulrich Matthes viel Zuspruch gebracht. Jetzt führte seine Darbietung am Deutschen Theater in Berlin dazu, dass Matthes zum "Schauspieler des Jahres" gewählt wurde. Die Entscheidung traf eine Jury aus 39 unabhängigen Kritikern im Auftrag der Zeitschrift "Theater heute".
Schauspielerische Intensität ist das erste, was einem zum Schauspieler Ulrich Matthes einfällt. Der seine Intensität nicht nur aus dem so genannten Bauchgefühl, sondern auch aus der Überlegung und Analyse holt. Ulrich Matthes ist, was oftmals als Schimpfwort gilt, ein denkender Schauspieler. Bei ihm, der Rollen und Sprache intellektuell erschließend und sinnlich kräftig ausfüllt, benennt dies als Lob eine Verschmelzung von intellektuellem und intuitivem Spiel.

"Versinnlichung des Denkens" nannte bereits in den achtziger Jahren ein Kritiker seinen Darstellungsstil. Es scheint mir kein Zufall, dass Ulrich Matthes in den letzten Jahren kaum Sympathieträger gespielt hat: gerade probt er am Deutschen Theater den Shylock in Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig", und den Titel Schauspieler des Jahres sprach ihm eine Mehrheit von Deutschlands Theaterkritikern bei der Jahresumfrage der Zeitschrift Theater heute zu für seine Darstellung des George in Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf", für die Rolle eines nicht gerade sympathischen Mannes, die ihm bereits den renommierten Gertrud-Eysoldt-Preis "eingebracht" hat.

Ulrich Matthes ist ein Theaterschauspieler, der auch im Film nichts von seiner mimischen Intensität verliert, ja, der in den Großaufnahmen des Films fast noch Intensität hinzu gewinnt. In Volker Schlöndorffs "Der neunte Tag" verkörperte er einen katholischen Priester, der aus dem KZ Dachau entlassen und versucht wird, sich aus Selbsterhaltungstrieb für die Interessen der Nazis einspannen zu lassen. Eine Rolle, die ihm eine Nominierung als bester männlicher Hauptdarsteller beim Deutschen Filmpreis einbrachte. Matthes will Figuren nicht bruchlos erklären: so interessierte ihn an seiner Rolle des Goebbels in Bernd Eichingers Hitler-Film "Der Untergang" vor allem das Unerklärbare und Monströse dieser Figur:

Ullrich Matthes wurde am 9.Mai 1959 in Berlin als Sohn eines bekannten und einflussreichen Journalisten geboren. Einige Semester studierte er Germanistik und Anglistik, doch dann entschied er sich nach einem Vorsprechen beim berühmten Schauspieler Martin Held für das Theater.

Seinen ersten Bühnenauftritt hatte er neben Maximilian Schell am Berliner Renaissance Theater, sein erstes festes Engagement 1983 an den Vereinigten Bühnen Krefeld/Mönchengladbach. Seine Vielseitigkeit bewies er schon hier, indem er sowohl die Titelrolle in Kleists "Prinz von Homburg" als auch den Conferencier in "Cabaret" spielte. Seine große Zeit als Jungstar des deutschen Theaters aber erlebte er ab 1985 am Düsseldorfer Schauspielhaus. Hier wurde er umjubelt in der Titelrolle von Tankred Dorsts "Heinrich oder die Schmerzen der Phantasie. Dann ging er nach München, erst ans Bayerische Staatsschauspiel, dann an die Münchner Kammerspiele. 1987 bekam er daraufhin das erste Mal den Titel "Schauspieler des Jahres" durch die Umfrage der Fachzeitschrift Theater heute.

Ulrich Matthes hat viele große Rollen in Klassikern gespielt, aber er ist als Darsteller und Sprecher immer völlig offen gegenüber zeitgenössischen und modernen Texten. So auch gegenüber den Texten von Kathrin Röggla, die in ihrem "Wir schlafen nicht" Vertreter der New Economy zu Wort kommen lässt:

Seit 1991 ging Ulrich Matthes auch mit Lesungen auf Tournee. Und: der analytische Schauspieler mit der prägnant sinnlichen Stimme wurde zum begehrten Hörbuch- und Hörspielsprecher. In einer Aufnahme von Dostojewskis "Der Doppelgänger" spricht Matthes den Erzähler:

Zwar war Ulrich Matthes seit 1991 Ensemblemitglied der Berliner "Schaubühne" und spielte hier etliche große Rollen, doch als Star hat er sich an diesem Theater mit seinem Starensemble nicht ausgeprägt. Ulrich Matthes ist eigentlich erst in den letzten Jahren zu einer bewundernswerten und facettenreichen Spielform aufgelaufen, die in deutschen Theater- und Filmlanden ihresgleichen sucht. Der hoch gewachsen schlanke, fast hagere Mann mit den furchig ausgeprägten Gesicht hat sich, wenn man das bei einem Darsteller, der seit über zwanzig Jahren zu den großen seiner Zunft gehört, endgültig freigespielt.

Das schließt kleinere Misserfolge wie seinen uninspirierten Major Tellheim in Lessings "Minna von Barnhelm" am Deutschen Theater nicht aus, wo Rollenanalyse und sinnlicher Spielwitz nicht zusammen fanden. Wenn beides aber zusammenkommt, wie in der Rolle des George in Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf", ebenfalls am Deutschen Theater, dann ist dieser Darsteller ein ungeheures Ereignis. Noch etwas zeichnet den Theaterschauspieler Ullrich Matthes aus: er ist kein Rampendarsteller, sondern verwirklicht sich trotz seiner Außerordentlichkeit stets im Zusammenspiel mit den anderen Schauspielern. Ulrich Matthes ist ein großer Ensemble-Solist.