Ein eigentümliches Urteil
Der Journalist Heinrich Wefing hat ein Buch über das Verfahren gegen den 91 Jahre alten John Demjanjuk geschrieben. Und kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Justiz im letzten großen NS-Prozess ihre Rolle im Umgang mit Verbrechern der Nazi-Diktatur gefunden hat.
Fünf Jahre Freiheitsstrafe für John Demjanjuk. Schuldig der Beihilfe zum Mord an mindestens 28.000 Menschen. Aus der Haft entlassen, weil nicht damit gerechnet werden muss, dass er flieht. Denn er ist alt und hat keinen Pass mehr, weil er aus den USA ausgebürgert wurde.
Schuldig und doch frei. Mit diesem Urteil beginnt Heinrich Wefing sein Buch. Ein eigentümliches Urteil, schreibt er, gleichzeitig weise und widersprüchlich, einleuchtend und doch schwer nachvollziehbar.
Solche Ambivalenzen ziehen sich durch das ganze Buch. Soll ein 91j-ähriger Mann, der zwar verhandlungsfähig ist aber dem Prozess nur auf dem Krankenbett liegend folgen kann, noch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden? Sollen Taten, die mehr als 60 Jahre zurückliegen, heute noch verurteilt werden? Ist es richtig, an einem ukrainischen Kriegsgefangenen, den die Nazi-Deutschen zum KZ-Wärter machten, ein Exempel zu statuieren? Auf solche Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten, auch Heinrich Wefing hat sie nicht parat.
Aber er erzählt, dramaturgisch gekonnt, die Geschichte dieses John Demjanjuk, der als Kind und als Jugendlicher, als er noch Iwan hieß, in der Ukraine in den 30er-Jahren fast verhungert wäre, der im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee kämpfen musste, schnell in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, dort wie viele Tausend fast verreckt wäre. Der dann von der SS zum KZ-Wärter gemacht wurde.
Wefing erzählt, wie Demjanjuk in die USA auswanderte und dort als Fabrikarbeiter und Familienvater unauffällig lebte. Wie die Strafverfolger erst in den 70er-Jahren auf seine Spur kamen, wie er in Israel als Iwan der Schreckliche für Taten in Treblinka zum Tode verurteilt wurde, fälschlich, wie sich Jahre später herausstellte, denn für diese Grausamkeiten war ein an anderer Iwan verantwortlich. Wie Demjanjuk dann, ein zweites Mal aus den USA ausgebürgert, vor ein deutsches Gericht gestellt und wegen seiner Mithilfe am Massenmord in Sobibor verurteilt wird.
Wefing schreibt aber auch über die Opfer, die dort zu Zehntausenden vergast wurden. Er schreibt über die Nebenkläger, Überlebende und Nachkommen der Ermordeten. Wie sie vor Gericht auftraten und alle Prozessbeteiligten, ob Richter, Staatsanwälte oder Prozessbeobachter wie Wefing selbst, mit ihren Geschichten zu Tränen rührten. Zum Beispiel die Geschichte des siebenjährigen Jungen, dessen Vater ihm zum Abschied, kurz bevor er deportiert wurde, eine Dose mit Leckereien übergab. Wie der Junge von damals jetzt als alter Mann vor Gericht aussagt und den Schmerz immer noch in sich trägt.
Wefing schreibt, ohne sentimental zu werden. Er betont, dass ein Strafprozess nicht dazu da ist, Geschichte aufzuarbeiten. Aber wozu ist der dann gut? Etwa zur Resozialisierung? Wohl kaum, wenn der Angeklagte 91 Jahre alt ist. Zur Abschreckung? Zur Sühne? Wieder viele Fragen ohne eindeutige Antworten. Wefing, der Journalist, schreibt in einer klaren und schönen Sprache. Wefing, der Jurist, macht deutlich, dass Rechtsstaatlichkeit auch in einem NS-Prozess gilt.
Wefing ordnet den Prozess auch zeitgeschichtlich ein, wirft einen Blick zurück auf das Eichmann-Verfahren in Jerusalem und auf den Auschwitzprozess in Frankfurt am Main. Damals kämpfte Fritz Bauer, der große Ankläger, noch gegen eine Richterschaft, die sich nur mit Widerwillen mit den Gräueltaten der Nazis befasste. Das war jetzt in München anders. Wefing kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Justiz ihre Rolle im Umgang mit NS-Verbrechern gefunden hat.
Besprochen von Annette Wilmes
Heinrich Wefing: Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess. Das Leben – Der Prozess – Das Urteil
C.H. Beck Verlag, München 2011
231 Seiten, 19,95 Euro
Über den Autor:
Heinrich Wefing war viele Jahre Feuilleton-Redakteur der "Faz". Er studierte Rechtswissenschaft und Kunstgeschichte. Heute arbeitet er als stellvertretender Leiter des Ressorts Politik der Wochenzeitung "Die Zeit".
Schuldig und doch frei. Mit diesem Urteil beginnt Heinrich Wefing sein Buch. Ein eigentümliches Urteil, schreibt er, gleichzeitig weise und widersprüchlich, einleuchtend und doch schwer nachvollziehbar.
Solche Ambivalenzen ziehen sich durch das ganze Buch. Soll ein 91j-ähriger Mann, der zwar verhandlungsfähig ist aber dem Prozess nur auf dem Krankenbett liegend folgen kann, noch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden? Sollen Taten, die mehr als 60 Jahre zurückliegen, heute noch verurteilt werden? Ist es richtig, an einem ukrainischen Kriegsgefangenen, den die Nazi-Deutschen zum KZ-Wärter machten, ein Exempel zu statuieren? Auf solche Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten, auch Heinrich Wefing hat sie nicht parat.
Aber er erzählt, dramaturgisch gekonnt, die Geschichte dieses John Demjanjuk, der als Kind und als Jugendlicher, als er noch Iwan hieß, in der Ukraine in den 30er-Jahren fast verhungert wäre, der im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee kämpfen musste, schnell in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, dort wie viele Tausend fast verreckt wäre. Der dann von der SS zum KZ-Wärter gemacht wurde.
Wefing erzählt, wie Demjanjuk in die USA auswanderte und dort als Fabrikarbeiter und Familienvater unauffällig lebte. Wie die Strafverfolger erst in den 70er-Jahren auf seine Spur kamen, wie er in Israel als Iwan der Schreckliche für Taten in Treblinka zum Tode verurteilt wurde, fälschlich, wie sich Jahre später herausstellte, denn für diese Grausamkeiten war ein an anderer Iwan verantwortlich. Wie Demjanjuk dann, ein zweites Mal aus den USA ausgebürgert, vor ein deutsches Gericht gestellt und wegen seiner Mithilfe am Massenmord in Sobibor verurteilt wird.
Wefing schreibt aber auch über die Opfer, die dort zu Zehntausenden vergast wurden. Er schreibt über die Nebenkläger, Überlebende und Nachkommen der Ermordeten. Wie sie vor Gericht auftraten und alle Prozessbeteiligten, ob Richter, Staatsanwälte oder Prozessbeobachter wie Wefing selbst, mit ihren Geschichten zu Tränen rührten. Zum Beispiel die Geschichte des siebenjährigen Jungen, dessen Vater ihm zum Abschied, kurz bevor er deportiert wurde, eine Dose mit Leckereien übergab. Wie der Junge von damals jetzt als alter Mann vor Gericht aussagt und den Schmerz immer noch in sich trägt.
Wefing schreibt, ohne sentimental zu werden. Er betont, dass ein Strafprozess nicht dazu da ist, Geschichte aufzuarbeiten. Aber wozu ist der dann gut? Etwa zur Resozialisierung? Wohl kaum, wenn der Angeklagte 91 Jahre alt ist. Zur Abschreckung? Zur Sühne? Wieder viele Fragen ohne eindeutige Antworten. Wefing, der Journalist, schreibt in einer klaren und schönen Sprache. Wefing, der Jurist, macht deutlich, dass Rechtsstaatlichkeit auch in einem NS-Prozess gilt.
Wefing ordnet den Prozess auch zeitgeschichtlich ein, wirft einen Blick zurück auf das Eichmann-Verfahren in Jerusalem und auf den Auschwitzprozess in Frankfurt am Main. Damals kämpfte Fritz Bauer, der große Ankläger, noch gegen eine Richterschaft, die sich nur mit Widerwillen mit den Gräueltaten der Nazis befasste. Das war jetzt in München anders. Wefing kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Justiz ihre Rolle im Umgang mit NS-Verbrechern gefunden hat.
Besprochen von Annette Wilmes
Heinrich Wefing: Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess. Das Leben – Der Prozess – Das Urteil
C.H. Beck Verlag, München 2011
231 Seiten, 19,95 Euro
Über den Autor:
Heinrich Wefing war viele Jahre Feuilleton-Redakteur der "Faz". Er studierte Rechtswissenschaft und Kunstgeschichte. Heute arbeitet er als stellvertretender Leiter des Ressorts Politik der Wochenzeitung "Die Zeit".