Ein Eldorado für Hypochonder
Hinter dem Kürzel "Mini-Med" verbirgt sich die Idee einer Patientenuniversität. Kranke Menschen sollen sich im Medizinbetrieb besser zurechtfinden und mit den behandelnden Ärzten in Augenhöhe sprechen. Schon vor zehn Jahren entstanden in den USA die ersten Patientenuniversitäten. Als erste Einrichtung in Deutschland setzt die Medizinische Hochschule Hannover das Konzept um.
Medizinische Hochschule Hannover. Es ist Dienstag, 17.30 Uhr. Obwohl die Patientenuniversität erst in einer halben Stunde beginnt, sind die langen Sitzreihen im "Hörsaal F" bereits rappelvoll. 280 Menschen passen hinein. Die hölzernen Klapptische sind bereits in Position gebracht, Notizblöcke und Kugelschreiber liegen griffbereit. Mit dabei: Dieter Zimmermann, 62 Jahre, er kommt eigens mit dem ICE aus dem 100 Kilometer entfernten Bremen zur Vorlesung.
"Ich bin selbst erkrankt, und ich habe großes Interesse da dran, die Geheimnisse meines Körpers einmal näher kennen zu lernen."
Eigentlich wollten mehr als 500 Menschen "die Geheimnisse des eigenen Körpers kennen lernen". So viele hatten sich in der Medizinischen Hochschule Hannover angemeldet. Die Uni-Leitung jedoch beschränkte die Teilnehmerzahl von vornherein auf das Fassungsvermögen von "Hörsaal F". Es sollte nur einen Kurs geben, um erste Erfahrungen zu sammeln. Als Heike Paral den Raum betritt, zehn Minuten vor Beginn der Vorlesung, sind nur noch ganz unten, direkt vor dem Rednerpult, ein paar Plätze frei:
"Ganz generell: Medizin interessiert mich schon seit Kindertagen. Zum Zweiten ist der Grund, meine Tochter macht sich jetzt selbstständig mit einer Arztpraxis und ja, da werde ich wohl irgendwie mit eingespannt werden, denke ich mal, und das ist so die Motivation, da noch ein bisschen stärker einzusteigen."
Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben die Pensionsgrenze längst erreicht. Nur wenige sind unter 40. Michael Völcher lebt im 30 Kilometer entfernten Celle.
"Einmal wollte ich mich im Rahmen meiner Pensionierung mit irgendwas anderem noch beschäftigen. Da ich selber nicht ganz gesund bin und auch einige Krankheitsfälle in der Familie habe, fand ich dieses Angebot, das ich über das Internet festgestellt habe, recht interessant."
Insgesamt zehn Veranstaltungen stehen auf dem Programm. Es geht um Bypass- und Klappenchirurgie, um Wechselwirkungen zwischen körperlichen und seelischen Schmerzen, um diagnostische Verfahren in der hausärztlichen Praxis. Heute referiert Prof. Dirk Stichtenoth, Leiter der Abteilung Klinische Pharmakologie, über "Medikamente – Charakteristika, Wirkungen und Nebenwirkungen":
"Klinische Pharmakologie, da werden Sie sich fragen, was ist das?"
Eine Stunde lang spricht der Hochschullehrer über das langjährige Zulassungsverfahren von neuen Medikamenten, vom Tierversuch bis zur klinischen Studie. Er spricht über Risiken und Nebenwirkungen, Dosierungen und Darreichungsformen.
"Unabhängige Patientenberatung – Regionale Beratungsstelle Hannover – Gravert, Guten Tag ..."
Elke Gravert ist Ansprechpartnerin für Gesundheitsfragen bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland - Beratungsstelle Hannover. Auch hier steht die "Patientenkompetenz" ganz oben. Rund 30 Anfragen pro Tag beantwortet die Beraterin – meist am Telefon.
"... ja genau, da haben Sie auch schon gehört, dass es jetzt aufgrund der Gesundheitsreform die Möglichkeit gibt, dass wenn Sie vorher gesetzlich versichert waren oder auch privat versichert waren ..."
Seit wenigen Monaten sind alle Patientenberatungsstellen in Deutschland über eine Hotline zu erreichen. Elke Gravert, die den anspruchsvollen Job seit fünf Jahren macht, spricht von einem "Klimawandel" im Arzt-Patienten-Verhältnis.
"Ich denke, es hat sich so ein bisschen verändert, dass Patienten infrage stellen, was sie zum Beispiel verordnet bekommen. Also, es gibt mehr Fragen dazu. Es gibt mehr Fragen auch zu Alternativen dazu. Und ein kompetenter Patient versucht sich natürlich auch in diesem Dschungel etwas besser zurecht zu finden, es er es bisher war. Und hat mittlerweile natürlich auch ein anderes Bild bekommen – von dem, was ärztliche Kompetenz auch ausmacht."
E-Mail, Internet und die medizinischen Recherchemöglichkeiten in Datenbanken, bei Fachverlagen, Ärztegesellschaften und Selbsthilfegruppen haben nach Ansicht der Beraterin dazu geführt, dass Patientinnen und Patienten heute viel mehr wissen als in früheren Jahren. Und es sind vor allem junge Menschen, die diese Quellen nutzen. Informationsdefizite herrschen dagegen häufig in Finanzierungsfragen: Welche Krankenkasse bezahlt das? Welche Anträge müssen gestellt werden? Welche Richtlinien sind zu beachten?
"Also grundsätzlich, glaube ich, dass die größten Sorgen der Patienten sind, dass das, was in Zukunft auf sie zukommt, an noch weniger Qualität und Leistung, dass sie das nicht in irgendeiner Form mit beeinflussen können. Also auf der einen Seite wird sehr viel Souveränität und Mündigkeit erwartet, und auf der anderen Seite fühlen sich Patienten doch recht hilflos, da mitzusteuern. Das sind so die größten Sorgen: Was kommt noch auf uns zu? Wird es immer teurer? Bekommen wir immer weniger? Das sind so die häufigsten Fragen!"
Drinnen – im Hörsaal F der Patientenuniversität – behandelt Prof. Stichtenoth gerade die komplizierten Angaben auf Beipackzetteln. Es sind nur noch wenige Minuten bis zum Ende der Vorlesung. Draußen - im Foyer der Medizinischen Hochschule - bereitet Gesine Picksak zusammen mit Mitarbeiterinnen der Zentralapotheke so genannte "Lernstationen" vor, damit auch die Praxis nicht zu kurz kommt. Fachkräfte zeigen verschiedene Exponate und führen kleine Experimente durch. Gesinde Picksack, Mitarbeiterin der Zentralapotheke, füllt gerade Tabletten und bunte Kapseln in Schälchen.
"Hier sollen die Patienten lernen, ganz speziell Kapseln, Tabletten – welche Überzüge sie haben – wie demonstrieren hier mit einem Glas Wasser, wie schnell sich die Kapseln auflösen. Patienten können die Kapseln anfassen, sie können sie öffnen: Wir haben gefüllte Kapseln da mit nur Füllstoff, also gar nicht gefährlich. Ja, ich denke, eine sehr interessante Station."
16 Lernstationen sind es insgesamt. Ein paar Meter von den bunten Pillen entfernt – am Tisch gegenüber - werden gerade Blumentöpfe mit Kräutern aufgebaut. Außerdem: Zahlreiche Porzellanschalen mit den Teilen getrockneter Pflanzen. Es duftet nach Kamille und Salbei:
"Ja, wir sehen heute hier Drogen. Keine Angst, so schlimm ist es nicht, als Drogen bezeichnet man im Grunde nur getrocknete Pflanzen oder Pflanzenteile – also es sind getrocknete Wurzeln, getrocknete Blätter und Blüten, die alle einen pharmazeutischen Nutzen haben ..."
... und bisweilen alles andere als harmlos sind, erklärt Nicola Schröter von der Zentralapotheke, man denke nur an den roten Fingerhut und an die Herbstzeitlose.
Limpinsel: "Also, zu unserem neuen Migränevertrag müssten wir uns jetzt mal Fragen überlegen, die die Versicherten stellen können, dass wir dann eine Arbeitshilfe an unser Service-Center geben können, um die Beantwortung der Fragen leichter zu machen."
Schwarz: "Das finde ich gut. Das lass uns doch mal in den Versicherten hineinversetzen ..."
Christine Limpinsel und Ina Schwarz entwickeln bei der KKH – nur einen Steinwurf von der Medizinischen Hochschule entfernt - Informationsblätter für Versicherte mit Migräne und Kopfschmerzen. Gesetzlich versicherte Patienten sollen für die Teilnahme an speziellen "Behandlungsmodellen" gewonnen werden. Als die beiden Sozialversicherungsfachangestellten von der Patientenuniversität erfuhren, gehörten sie mit zu den ersten, die sich einschrieben. Christine Limpinsel:
"Also, es ist sehr viel medizinisches Wissen, sehr viel medizinischer Hintergrund, den wir so natürlich nicht an unsere Versicherten, an unsere Patienten weiter geben. Das dürfen wir auch gar nicht. Wir sind ja medizinische Laien und dürfen keine medizinische Fachberatung vornehmen. Was uns weiter hilft, ist natürlich das Hintergrundwissen. Zum Beispiel bei der Lunge wurden sehr viele Krankheiten erklärt wie zum Beispiel die Asthmaerkrankung. Auch wir haben hier nicht nur spezielle Migräneverträge, sondern wir haben auch spezielle Asthmaverträge, die wir geschlossen haben, wo dann so ein medizinisches Hintergrundwissen natürlich sehr viel erleichtert beim Vertrag lesen, beim Vertrag verstehen und dann natürlich auch die Inhalte weiter zu geben."
Viele KKH-Versicherte, mit der die 29-jährige Krankenkassenmitarbeiterin telefoniert, treten sehr versiert auf und wissen, was sie wollen. Die Patientenuniversität ist eine wichtige Erfahrung für die Sozialversicherungsfachangestellte, zu wissen, was Krankheit bei den Kunden der Kasse überhaupt bedeutet.
Wieder einmal sitzt Horst Kaßauer vor seinem Computer daheim und schreibt E-Mails. Der dritte Vorsitzende des Deutschen Diabetiker Bundes – Landesverband Niedersachsen möchte, dass der Regionspräsident ein Grußwort anlässlich einer Diabetikertagung im Herbst an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer richtet. Der 66-Jährige, seit 25 Jahren selbst Diabetiker, geht ebenfalls zur "Patientenuniversität", um für sich zu lernen, aber auch die Vereinsarbeit zu bereichern:
"Also, ich denke schon, dass man auch über den Tellerrand hinausgucken muss und nicht, so wie wir, sich nur mit Diabetes beschäftigen darf. Es gibt ja auch viele Folgeerkrankungen, die in dieser Vortragsreihe auch mit vorkommen. Und insofern natürlich hochinteressant, und man kriegt ja so was auch nicht in der Qualität wie es die MHH, die Patientenuniversität macht, geboten."
Die Patientenuniversität ist in den Augen von Horst Kaßauer lediglich eine Ergänzung. Selbsthilfegruppen wie der Deutsche Diabetiker-Bund leisten darüber hinaus sehr viel mehr: Diabetiker-Schulungen, Patienteninformationstage, Informationsaustausch unter Betroffenen. Das sieht Dieter Borgmann, Sozialberater bei der Rheuma-Liga Niedersachsen – genauso. "Patientenkompetenz" steht bei den Selbsthilfegruppen seit jeher im Vordergrund.
"... und auch mal kontra geben können, auch halt eben seine eigene Meinung gegenüber dem Arzt deutlich machen können und auch sagen können, nein, mit der Behandlung bin ich im Augenblick noch nicht einverstanden, ich möchte auch noch mal einen anderen Behandlungsweg vorher probieren."
Es ist 19.00 Uhr. Die Vorlesung neigt sich dem Ende entgegen. Jetzt strömen die Studierenden der Patientenuniversität in das Foyer, um sich an den einzelnen Lernstationen zu informieren. Anneliese Kehrberg fand die Vorlesung zwar trocken, aber interessant.
"Es ist nicht so ganz einfach, aber ich denke mal, was wichtig war, ist so die Wirkung von den Medikamenten, also Beispiel 'Herz': Der Betablocker, das Adrenalin, was gestoppt wird. Und ich finde, so was Plastisches dann zu zeigen und auch zu erklären, finde ich für mich persönlich sehr gut."
Die "Patientenuniversität" soll sich von herkömmlichen Patienteninformationsveranstaltungen deutlich abheben. Deshalb: Kein Fokus auf individuelle Erkrankungen, statt dessen steht die medizinische Allgemeinbildung im Vordergrund. Denn das Angebot richtet sich auch an Gesunde. Prof. Marie-Luise Dierks von der Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung begleitet das Projekt wissenschaftlich ...
"... weil wir erst mal schauen wollen, welche Menschen erreichen wir überhaupt mit diesem Angebot. Wer kommt dahin? Aus welchen Bevölkerungsgruppen kommen diese Personen? Und wir fragen auch, profitieren die Menschen davon, haben sie etwas Neues hier gelernt?"
Zum Abschluss des Semesters – nach zehn Abenden - winkt das Zertifikat "Teilnehmer der Patientenuniversität". Informierte Menschen sind die besseren Patienten, urteilt Prof. Dieter Bitter-Suermann, Präsident der Medizinischen Hochschule Hannover, überzeugt davon, dass auch andere Hochschulen die Idee aufgreifen.
"Der Mediziner muss sich heute damit abfinden, und das tun die Mediziner auch, dass ihre Patienten nicht mehr unwissend sind, sondern dass sie sich immer mindestens eine zweite Meinung einholen und dass sie über alle möglichen Schulungsquellen informiert sind. Und das ist etwas, was eine gute Entwicklung ist, darauf muss sich ein Arzt einstellen."
Ärztekammer Niedersachsen. Hier – in einem achtgeschossigen, blauverglasten Büroturm in Hannover – kennt man auch die Kehrseite des "kompetenten Patienten". Immer mehr Menschen beschweren sich über ärztliche Behandlungsfehler, klagen auf Schadenersatz. Rund 4000 Anträge im Jahr werden allein bei der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammern gestellt, Tendenz steigend. Hinzu kommen Tausende von Patientenbeschwerden, die Dr. Cornelia Goesmann bearbeitet.
"Der Großteil bezieht sich auf Unzufriedenheit im Verhalten von Ärztinnen und Ärzten. Also dass offensichtlich die Arzt-Patienten-Beziehung nicht geklappt hat. Und wir versuchen dann eher bei diesen zwischenmenschlichen Dingen irgendwo zu intervenieren, und natürlich auch bei Ärztinnen und Ärzten, wo wir das Gefühl haben, die haben wirklich mal im Ton daneben gegriffen, sie auch dann dazu zu bringen, dass sie sich entschuldigen, und man kann sich wieder vertragen."
Ärzte, die sich entschuldigen, die zur Rechenschaft gezogen werden, die ihre Behandlungsstrategie begründen müssen – das ist neu in der vielzitierten "Arzt-Patienten-Beziehung". Der Mediziner als väterlicher "Halbgott in Weiß" hat zweifellos ausgedient, weil sich viele Patienten informieren – durch Internet, Selbsthilfe-Organisationen und Patientenuniversität. Gleichwohl: Ein schwieriger Prozess – besonders für Ärzte:
"Ich arbeite schon gerne mit sehr informierten Patientinnen und Patienten, wo man wirklich die Therapieoptionen, die es gibt, diskutieren kann. Und am liebsten habe ich aber dann, wenn am Ende, wenn ich alles vorgestellt habe, der Patient oder die Patientin sagt: 'Passen Sie auf, tun Sie so, als wenn ich Ihre Mutter oder Ihre Schwester wäre, und entscheiden Sie dann für mich, weil Sie sind die Fachfrau.'"
"Ich bin selbst erkrankt, und ich habe großes Interesse da dran, die Geheimnisse meines Körpers einmal näher kennen zu lernen."
Eigentlich wollten mehr als 500 Menschen "die Geheimnisse des eigenen Körpers kennen lernen". So viele hatten sich in der Medizinischen Hochschule Hannover angemeldet. Die Uni-Leitung jedoch beschränkte die Teilnehmerzahl von vornherein auf das Fassungsvermögen von "Hörsaal F". Es sollte nur einen Kurs geben, um erste Erfahrungen zu sammeln. Als Heike Paral den Raum betritt, zehn Minuten vor Beginn der Vorlesung, sind nur noch ganz unten, direkt vor dem Rednerpult, ein paar Plätze frei:
"Ganz generell: Medizin interessiert mich schon seit Kindertagen. Zum Zweiten ist der Grund, meine Tochter macht sich jetzt selbstständig mit einer Arztpraxis und ja, da werde ich wohl irgendwie mit eingespannt werden, denke ich mal, und das ist so die Motivation, da noch ein bisschen stärker einzusteigen."
Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben die Pensionsgrenze längst erreicht. Nur wenige sind unter 40. Michael Völcher lebt im 30 Kilometer entfernten Celle.
"Einmal wollte ich mich im Rahmen meiner Pensionierung mit irgendwas anderem noch beschäftigen. Da ich selber nicht ganz gesund bin und auch einige Krankheitsfälle in der Familie habe, fand ich dieses Angebot, das ich über das Internet festgestellt habe, recht interessant."
Insgesamt zehn Veranstaltungen stehen auf dem Programm. Es geht um Bypass- und Klappenchirurgie, um Wechselwirkungen zwischen körperlichen und seelischen Schmerzen, um diagnostische Verfahren in der hausärztlichen Praxis. Heute referiert Prof. Dirk Stichtenoth, Leiter der Abteilung Klinische Pharmakologie, über "Medikamente – Charakteristika, Wirkungen und Nebenwirkungen":
"Klinische Pharmakologie, da werden Sie sich fragen, was ist das?"
Eine Stunde lang spricht der Hochschullehrer über das langjährige Zulassungsverfahren von neuen Medikamenten, vom Tierversuch bis zur klinischen Studie. Er spricht über Risiken und Nebenwirkungen, Dosierungen und Darreichungsformen.
"Unabhängige Patientenberatung – Regionale Beratungsstelle Hannover – Gravert, Guten Tag ..."
Elke Gravert ist Ansprechpartnerin für Gesundheitsfragen bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland - Beratungsstelle Hannover. Auch hier steht die "Patientenkompetenz" ganz oben. Rund 30 Anfragen pro Tag beantwortet die Beraterin – meist am Telefon.
"... ja genau, da haben Sie auch schon gehört, dass es jetzt aufgrund der Gesundheitsreform die Möglichkeit gibt, dass wenn Sie vorher gesetzlich versichert waren oder auch privat versichert waren ..."
Seit wenigen Monaten sind alle Patientenberatungsstellen in Deutschland über eine Hotline zu erreichen. Elke Gravert, die den anspruchsvollen Job seit fünf Jahren macht, spricht von einem "Klimawandel" im Arzt-Patienten-Verhältnis.
"Ich denke, es hat sich so ein bisschen verändert, dass Patienten infrage stellen, was sie zum Beispiel verordnet bekommen. Also, es gibt mehr Fragen dazu. Es gibt mehr Fragen auch zu Alternativen dazu. Und ein kompetenter Patient versucht sich natürlich auch in diesem Dschungel etwas besser zurecht zu finden, es er es bisher war. Und hat mittlerweile natürlich auch ein anderes Bild bekommen – von dem, was ärztliche Kompetenz auch ausmacht."
E-Mail, Internet und die medizinischen Recherchemöglichkeiten in Datenbanken, bei Fachverlagen, Ärztegesellschaften und Selbsthilfegruppen haben nach Ansicht der Beraterin dazu geführt, dass Patientinnen und Patienten heute viel mehr wissen als in früheren Jahren. Und es sind vor allem junge Menschen, die diese Quellen nutzen. Informationsdefizite herrschen dagegen häufig in Finanzierungsfragen: Welche Krankenkasse bezahlt das? Welche Anträge müssen gestellt werden? Welche Richtlinien sind zu beachten?
"Also grundsätzlich, glaube ich, dass die größten Sorgen der Patienten sind, dass das, was in Zukunft auf sie zukommt, an noch weniger Qualität und Leistung, dass sie das nicht in irgendeiner Form mit beeinflussen können. Also auf der einen Seite wird sehr viel Souveränität und Mündigkeit erwartet, und auf der anderen Seite fühlen sich Patienten doch recht hilflos, da mitzusteuern. Das sind so die größten Sorgen: Was kommt noch auf uns zu? Wird es immer teurer? Bekommen wir immer weniger? Das sind so die häufigsten Fragen!"
Drinnen – im Hörsaal F der Patientenuniversität – behandelt Prof. Stichtenoth gerade die komplizierten Angaben auf Beipackzetteln. Es sind nur noch wenige Minuten bis zum Ende der Vorlesung. Draußen - im Foyer der Medizinischen Hochschule - bereitet Gesine Picksak zusammen mit Mitarbeiterinnen der Zentralapotheke so genannte "Lernstationen" vor, damit auch die Praxis nicht zu kurz kommt. Fachkräfte zeigen verschiedene Exponate und führen kleine Experimente durch. Gesinde Picksack, Mitarbeiterin der Zentralapotheke, füllt gerade Tabletten und bunte Kapseln in Schälchen.
"Hier sollen die Patienten lernen, ganz speziell Kapseln, Tabletten – welche Überzüge sie haben – wie demonstrieren hier mit einem Glas Wasser, wie schnell sich die Kapseln auflösen. Patienten können die Kapseln anfassen, sie können sie öffnen: Wir haben gefüllte Kapseln da mit nur Füllstoff, also gar nicht gefährlich. Ja, ich denke, eine sehr interessante Station."
16 Lernstationen sind es insgesamt. Ein paar Meter von den bunten Pillen entfernt – am Tisch gegenüber - werden gerade Blumentöpfe mit Kräutern aufgebaut. Außerdem: Zahlreiche Porzellanschalen mit den Teilen getrockneter Pflanzen. Es duftet nach Kamille und Salbei:
"Ja, wir sehen heute hier Drogen. Keine Angst, so schlimm ist es nicht, als Drogen bezeichnet man im Grunde nur getrocknete Pflanzen oder Pflanzenteile – also es sind getrocknete Wurzeln, getrocknete Blätter und Blüten, die alle einen pharmazeutischen Nutzen haben ..."
... und bisweilen alles andere als harmlos sind, erklärt Nicola Schröter von der Zentralapotheke, man denke nur an den roten Fingerhut und an die Herbstzeitlose.
Limpinsel: "Also, zu unserem neuen Migränevertrag müssten wir uns jetzt mal Fragen überlegen, die die Versicherten stellen können, dass wir dann eine Arbeitshilfe an unser Service-Center geben können, um die Beantwortung der Fragen leichter zu machen."
Schwarz: "Das finde ich gut. Das lass uns doch mal in den Versicherten hineinversetzen ..."
Christine Limpinsel und Ina Schwarz entwickeln bei der KKH – nur einen Steinwurf von der Medizinischen Hochschule entfernt - Informationsblätter für Versicherte mit Migräne und Kopfschmerzen. Gesetzlich versicherte Patienten sollen für die Teilnahme an speziellen "Behandlungsmodellen" gewonnen werden. Als die beiden Sozialversicherungsfachangestellten von der Patientenuniversität erfuhren, gehörten sie mit zu den ersten, die sich einschrieben. Christine Limpinsel:
"Also, es ist sehr viel medizinisches Wissen, sehr viel medizinischer Hintergrund, den wir so natürlich nicht an unsere Versicherten, an unsere Patienten weiter geben. Das dürfen wir auch gar nicht. Wir sind ja medizinische Laien und dürfen keine medizinische Fachberatung vornehmen. Was uns weiter hilft, ist natürlich das Hintergrundwissen. Zum Beispiel bei der Lunge wurden sehr viele Krankheiten erklärt wie zum Beispiel die Asthmaerkrankung. Auch wir haben hier nicht nur spezielle Migräneverträge, sondern wir haben auch spezielle Asthmaverträge, die wir geschlossen haben, wo dann so ein medizinisches Hintergrundwissen natürlich sehr viel erleichtert beim Vertrag lesen, beim Vertrag verstehen und dann natürlich auch die Inhalte weiter zu geben."
Viele KKH-Versicherte, mit der die 29-jährige Krankenkassenmitarbeiterin telefoniert, treten sehr versiert auf und wissen, was sie wollen. Die Patientenuniversität ist eine wichtige Erfahrung für die Sozialversicherungsfachangestellte, zu wissen, was Krankheit bei den Kunden der Kasse überhaupt bedeutet.
Wieder einmal sitzt Horst Kaßauer vor seinem Computer daheim und schreibt E-Mails. Der dritte Vorsitzende des Deutschen Diabetiker Bundes – Landesverband Niedersachsen möchte, dass der Regionspräsident ein Grußwort anlässlich einer Diabetikertagung im Herbst an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer richtet. Der 66-Jährige, seit 25 Jahren selbst Diabetiker, geht ebenfalls zur "Patientenuniversität", um für sich zu lernen, aber auch die Vereinsarbeit zu bereichern:
"Also, ich denke schon, dass man auch über den Tellerrand hinausgucken muss und nicht, so wie wir, sich nur mit Diabetes beschäftigen darf. Es gibt ja auch viele Folgeerkrankungen, die in dieser Vortragsreihe auch mit vorkommen. Und insofern natürlich hochinteressant, und man kriegt ja so was auch nicht in der Qualität wie es die MHH, die Patientenuniversität macht, geboten."
Die Patientenuniversität ist in den Augen von Horst Kaßauer lediglich eine Ergänzung. Selbsthilfegruppen wie der Deutsche Diabetiker-Bund leisten darüber hinaus sehr viel mehr: Diabetiker-Schulungen, Patienteninformationstage, Informationsaustausch unter Betroffenen. Das sieht Dieter Borgmann, Sozialberater bei der Rheuma-Liga Niedersachsen – genauso. "Patientenkompetenz" steht bei den Selbsthilfegruppen seit jeher im Vordergrund.
"... und auch mal kontra geben können, auch halt eben seine eigene Meinung gegenüber dem Arzt deutlich machen können und auch sagen können, nein, mit der Behandlung bin ich im Augenblick noch nicht einverstanden, ich möchte auch noch mal einen anderen Behandlungsweg vorher probieren."
Es ist 19.00 Uhr. Die Vorlesung neigt sich dem Ende entgegen. Jetzt strömen die Studierenden der Patientenuniversität in das Foyer, um sich an den einzelnen Lernstationen zu informieren. Anneliese Kehrberg fand die Vorlesung zwar trocken, aber interessant.
"Es ist nicht so ganz einfach, aber ich denke mal, was wichtig war, ist so die Wirkung von den Medikamenten, also Beispiel 'Herz': Der Betablocker, das Adrenalin, was gestoppt wird. Und ich finde, so was Plastisches dann zu zeigen und auch zu erklären, finde ich für mich persönlich sehr gut."
Die "Patientenuniversität" soll sich von herkömmlichen Patienteninformationsveranstaltungen deutlich abheben. Deshalb: Kein Fokus auf individuelle Erkrankungen, statt dessen steht die medizinische Allgemeinbildung im Vordergrund. Denn das Angebot richtet sich auch an Gesunde. Prof. Marie-Luise Dierks von der Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung begleitet das Projekt wissenschaftlich ...
"... weil wir erst mal schauen wollen, welche Menschen erreichen wir überhaupt mit diesem Angebot. Wer kommt dahin? Aus welchen Bevölkerungsgruppen kommen diese Personen? Und wir fragen auch, profitieren die Menschen davon, haben sie etwas Neues hier gelernt?"
Zum Abschluss des Semesters – nach zehn Abenden - winkt das Zertifikat "Teilnehmer der Patientenuniversität". Informierte Menschen sind die besseren Patienten, urteilt Prof. Dieter Bitter-Suermann, Präsident der Medizinischen Hochschule Hannover, überzeugt davon, dass auch andere Hochschulen die Idee aufgreifen.
"Der Mediziner muss sich heute damit abfinden, und das tun die Mediziner auch, dass ihre Patienten nicht mehr unwissend sind, sondern dass sie sich immer mindestens eine zweite Meinung einholen und dass sie über alle möglichen Schulungsquellen informiert sind. Und das ist etwas, was eine gute Entwicklung ist, darauf muss sich ein Arzt einstellen."
Ärztekammer Niedersachsen. Hier – in einem achtgeschossigen, blauverglasten Büroturm in Hannover – kennt man auch die Kehrseite des "kompetenten Patienten". Immer mehr Menschen beschweren sich über ärztliche Behandlungsfehler, klagen auf Schadenersatz. Rund 4000 Anträge im Jahr werden allein bei der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammern gestellt, Tendenz steigend. Hinzu kommen Tausende von Patientenbeschwerden, die Dr. Cornelia Goesmann bearbeitet.
"Der Großteil bezieht sich auf Unzufriedenheit im Verhalten von Ärztinnen und Ärzten. Also dass offensichtlich die Arzt-Patienten-Beziehung nicht geklappt hat. Und wir versuchen dann eher bei diesen zwischenmenschlichen Dingen irgendwo zu intervenieren, und natürlich auch bei Ärztinnen und Ärzten, wo wir das Gefühl haben, die haben wirklich mal im Ton daneben gegriffen, sie auch dann dazu zu bringen, dass sie sich entschuldigen, und man kann sich wieder vertragen."
Ärzte, die sich entschuldigen, die zur Rechenschaft gezogen werden, die ihre Behandlungsstrategie begründen müssen – das ist neu in der vielzitierten "Arzt-Patienten-Beziehung". Der Mediziner als väterlicher "Halbgott in Weiß" hat zweifellos ausgedient, weil sich viele Patienten informieren – durch Internet, Selbsthilfe-Organisationen und Patientenuniversität. Gleichwohl: Ein schwieriger Prozess – besonders für Ärzte:
"Ich arbeite schon gerne mit sehr informierten Patientinnen und Patienten, wo man wirklich die Therapieoptionen, die es gibt, diskutieren kann. Und am liebsten habe ich aber dann, wenn am Ende, wenn ich alles vorgestellt habe, der Patient oder die Patientin sagt: 'Passen Sie auf, tun Sie so, als wenn ich Ihre Mutter oder Ihre Schwester wäre, und entscheiden Sie dann für mich, weil Sie sind die Fachfrau.'"