Ein erfülltes Leben
Die 82-jährige Publizistin Inge Jens charakterisiert ihr Leben als eine "Fülle der Glücksfälle" - vor allem ihre ebenbürtige Ehe mit Walter Jens. Im Interview spricht sie über ihre nun veröffentlichten Memoiren.
Susanne Führer: "Unvollständige Erinnerungen" hat Inge Jens ihre Lebenserinnerungen genannt, schon im Titel ein Understatement, eine Autobiografie war nicht beabsichtigt. Aber das Buch schlägt doch einen Bogen von 1927, dem Geburtsjahr, bis heute und schildert die jüngste Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland aus der Warte einer Frau, die jahrzehntelang als "Frau an seiner Seite", also an der Seite von Walter Jens, wahrgenommen wurde. Nun erzählt sie zum ersten Mal ausführlich von ihrem Leben. Guten Tag, Frau Jens!
Inge Jens: Guten Tag, Frau Führer!
Führer: Ein reiches und, ja, nimmt man alles in allem auch ein glückliches Leben, ein privilegiertes Leben voller glücklicher Zufälle, wie Sie schreiben. Ist Ihnen das eigentlich immer präsent gewesen oder erst beim Schreiben dieser Erinnerungen bewusst geworden?
Jens: Die Systematik und die Fülle der Glücksfälle in meinem Leben, die ist mir natürlich erst im Rückblick bewusst geworden. Ich habe schätzungsweise mal jeden einzelnen Glücksfall genossen, ich habe versucht, mich ihm gerecht zu verhalten, ich habe die Chancen, die sich boten, wahrgenommen und vielleicht ermöglicht mir das alles zusammen diese insgesamt ja doch sehr beglückte und positive Rückschau auf mein Leben.
Führer: Lassen Sie uns mal über ein paar Stationen Ihres Lebens sprechen. Sie sind Jahrgang 1927. Ihre Schulzeit, schreiben Sie selbst, ist von Anfang bis Ende mit der Zeit des Nationalsozialismus identisch.
Jens: Ja, ich kam 1933 zur Schule und hätte noch '45 das Abitur machen sollen, mit 18 Jahren.
Führer: Das mussten Sie dann noch danach …
Jens: Das habe ich dann später gemacht durch die Kriegseinsätze.
Führer: Genau. Und trotzdem schreiben Sie, das fand ich sehr verwunderlich, Sie seien nicht politisch indoktriniert worden – weil Sie auf der anderen Seite im weiteren Verlauf des Buchs doch auch immer wieder über Denkhaltungen aus der NS-Zeit doch kritisch reflektieren.
Jens: Ja, aber ich habe erst nach 1945 angefangen, kritisch zu reflektieren. Vor 1945 hätten mir alle Werkzeuge, auch alle Denkvoraussetzungen gefehlt, und – das allerdings als Wichtigstes – auch alle Informationen, mit denen ich mich hätte auseinandersetzen sollen. Vielleicht war das der erste Glücksfall meines Lebens: Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die nicht anti das Hitlerregime eingestellt war, aber der es eben neben dem, was so normal weiterlief und was von Staats wegen zu erledigen war – also BDM-Dienst für mich, HJ-Dienst für meinen Bruder, SS-Dienst für meinen Vater –, gab es doch sehr viele andere Dinge. Wir haben sehr viel Musik gemacht, ich durfte lesen. NS stand nicht im Vordergrund, sondern es war die, wenn ich mal so sagen soll, unreflektierte, umgebende Normalität für mich, über die ich nie besonders nachgedacht habe, sondern erst in dem Augenblick, als ich erfuhr, was es mit dieser unreflektiert gelebten Realität für andere Menschen sehr wohl auf sich gehabt hat.
Führer: Ja, und es scheint auch mehr, also politische Indoktrination sagen Sie, nein, aber Denkhaltungen haben Sie da doch erworben. Sie schreiben selbst vom rüden Schema, von Führer und Gefolgschaft, was auch Sie geprägt habe, oder dass Sie die Möglichkeit eines friedlichen Austragens zum Beispiel in Form ziviler Diskurse, dass das außerhalb Ihrer Erfahrung gelegen habe.
Jens: Ja.
Führer: Und es wirkt so, als wären Sie sozusagen über Schriftsteller, über Künstler, über die Literatur eigentlich geistig, wenn man das so sagen darf, entnazifiziert worden.
Jens: Sicherlich hat die Literatur eine große Rolle dabei gespielt. In erster Linie würde ich aber sagen: Es sind die Menschen gewesen, die mich mit dieser Literatur in Verbindung gebracht haben, also Freunde, die ich in Hamburg hatte, eine wesentliche Rolle haben die Diskussionen in der Studentengemeinde in Hamburg gehabt, und dann nach 1949, als ich dann für ein Semester nach Tübingen kam, natürlich die Belehrungen von und die Auseinandersetzungen mit meinem Hausgenossen, gleichfalls Hamburger, Walter Jens.
Führer: Machen wir einen Sprung, Frau Jens, in das Jahr 1959. Da beginnen Sie Ihre erste Editionsarbeit – viele weitere werden dann folgen –, das war der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und dem Germanisten Ernst Bertram, und Sie schreiben da: "Hier im Edieren hatte ich meine Arbeit gefunden", und an anderer Stelle schreiben Sie noch einmal von den so sehr geliebten Archivarbeiten. Was ist das eigentlich, was Sie daran so lieben?
Jens: Im Archiv haben Sie es mit Quellen zu tun, mit unmittelbaren Äußerungen von Menschen, die im Allgemeinen längst tot sind und die doch noch einmal direkt zu Ihnen reden. Das heißt, Sie haben die Möglichkeit, Erfahrungen vergangener Jahre – vielleicht sogar Jahrhunderte – noch einmal so zu erleben, als wären Sie als Zeitgenosse dabei gewesen, natürlich immer gebrochen durch das Medium, dessen Dokumente Sie in dem Augenblick in der Hand haben. Das ist ein für mich sehr wunderbarer Einstieg in konkrete Schicksale, die mich dann natürlich, wenn ich es mit Editionen, durch Editionen beauftragt war, schon notwendig machten, mich auch mit anderen Dokumenten dieser Zeit zu befassen – zum Teil mit Originaldokumenten, wenn es also wie bei mir so um die Jahrhundertwende, vielleicht ein bisschen weiter zurück, etwas auf Weimarer Republik ist, dann mit Gegenbriefen, mit Äußerungen anderer Menschen aus dem Kreis, mit dem Sie sich gerade befassen. Sie haben historische Analysen zu lesen. Es rundet sich dann erst allmählich … Mir hat dieser Einstieg mithilfe konkreter Schicksale von Anfang an ungemein gut gefallen, ja, er hat mich fasziniert, er hat mich unmittelbar betroffen und ich hatte immer etwas, was mich direkt anging und von dem aus ich dann versuchen konnte, objektive Aussagen über die Zeit, über die subjektive Interpretation hinaus, zu machen.
Führer: Inge Jens im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. Frau Jens, eine ganz andere Tätigkeit bekommt in Ihren Erinnerungen auch einen herausgehobenen Platz, nämlich Ihr Engagement in der Friedensbewegung. Ich hatte so den Eindruck, als wenn bei Ihnen, wenn man das Wort Mutlangen sagt, sofort die Augen zu leuchten beginnen.
Jens: Vielleicht, weil Mutlangen für mich für die Möglichkeit steht, die Erfahrung, die entscheidenden Erfahrungen meiner Jugend, nämlich, nie wieder Krieg, produktiv zu machen, weiterzugeben. Und das ist natürlich etwas, was mir gefallen hat. Ich habe …
Führer: Wir sollten schon kurz einführen, dass da die US-Raketen stationiert werden sollten und dann schließlich auch wurden und Sie an Sitzblockaden dagegen teilgenommen haben.
Jens: In Mutlangen, ja. Das war für mich die Möglichkeit, sichtbar Protest in erster Linie natürlich gegen die atomare Wiederaufrüstung zu leisten, aber dann doch, damit untrennbar verbunden, meine Stimme laut gegen den Wahnsinn jeder Kriegsführung zu erheben, denn diese Überzeugung habe ich nun aus meiner Kindheit mitgenommen: Nie wieder Krieg! - ist für mich eine Lebensmaxime geworden spätestens 1943, als ich zu Hilfsdiensten nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg herangezogen worden bin.
Führer: Sie schildern in Ihrem Buch, Frau Jens, immer so en passant eigentlich immer wieder das Unzeitgemäße Ihrer Ehe: Sie studierten, Sie arbeiteten, Ihr Mann unterstützte Sie darin, das war ja für die Bundesrepublik der 50er-, 60er- und auch noch der 70er-Jahre, muss man sagen, nicht wirklich normal. Das Privileg, Lebensmöglichkeiten praktisch ausprobieren zu können, verdanken Sie Ihrer Ehe, haben Sie geschrieben. War Ihnen eigentlich immer bewusst, dass das ungewöhnlich war, Ihre Partnerschaft, die eine wirkliche Partnerschaft war?
Jens: Nein, das habe ich erst nach und nach begriffen, natürlich jetzt nicht im Rückblick von heute, sondern das merken Sie schon, während Sie diese Partnerschaft leben. Aber ich habe auch keine oder nur kaum Anfeindungen gegen diese Form des Lebens erfahren, und ich denke, auch das hätte mich wahrscheinlich nicht wesentlich beeinflusst. Ich war glücklich in dieser Ehe, die weit über eine Ehe hinaus eine geistige, vielleicht sogar eine seelische Partnerschaft war. Ich habe mit meinem Mann fast 60 Jahre lang alles besprechen können, was uns bewegte, von privatesten Problemen bis – und das, denke ich, ist entscheidend – zu allgemein politischen, sozialen, auch schriftstellerischen Problemen. Wir haben die ganze Skala miteinander, die ganze Skala dessen, was uns damals wichtig erschien und wofür wir uns engagierten, miteinander diskutieren können. Und dass das ein Privileg war, darüber war ich mir schon relativ schnell klar.
Führer: Dass Sie selbst in Ihrem Buch, Frau Jens, ganz offen über die Demenz Ihres Mannes schreiben, also die Entwicklung der Krankheit, sein Unglücklichsein, auch seine glücklichen Momente – darf ich Sie zum Schluss fragen, wie es ihm geht?
Jens: Die Frage kann ich Ihnen nicht eindeutig beantworten. Ich täte es gerne. Mein Mann kann nicht mehr sprechen, von lesen und schreiben ganz zu schweigen, ich kann nur aus seinen Reaktionen, aus seinem Sich-Geben seine Befindlichkeit ablesen, Befindlichkeiten, sollte ich vielleicht lieber sagen, denn sein Zustand wechselt sehr schnell. Die Äußerungen von Glück können jäh in Äußerungen, die Sie als Verzweiflung deuten müssen, umschlagen. Aber insgesamt, wenn Sie mich fragen, denke ich, die glücklichen Momente, vielleicht überwiegen sie die verzweifelten nicht, aber es gibt in seinem Leben glückliche Momente, so wie in dem Leben eines gesunden Menschen auch. Er ist kein Moribundus, die Demenz hat ihm nicht sein Menschsein geraubt und nein, er hat nie leben wollen, so, wie er jetzt leben muss, aber vor die Wahl gestellt, jetzt zu sterben oder so leben zu sollen, bin ich überzeugt, dass er das Leben in einer wie ich zugeben muss schönen und zum Teil auch lustigen und anregenden Atmosphäre dem Totsein, dem Sterben bei Weitem vorziehen wird. Er würde das nicht mehr formulieren können, aber wenn Sie mich bitten, es zu formulieren, denke ich, umschreibt es seinen Zustand ungefähr.
Führer: Inge Jens, Ihre "Unvollständigen Erinnerungen", so heißt das Buch, sind soeben bei Rowohlt erschienen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch, Frau Jens!
Jens: Bitte.
Inge Jens: Guten Tag, Frau Führer!
Führer: Ein reiches und, ja, nimmt man alles in allem auch ein glückliches Leben, ein privilegiertes Leben voller glücklicher Zufälle, wie Sie schreiben. Ist Ihnen das eigentlich immer präsent gewesen oder erst beim Schreiben dieser Erinnerungen bewusst geworden?
Jens: Die Systematik und die Fülle der Glücksfälle in meinem Leben, die ist mir natürlich erst im Rückblick bewusst geworden. Ich habe schätzungsweise mal jeden einzelnen Glücksfall genossen, ich habe versucht, mich ihm gerecht zu verhalten, ich habe die Chancen, die sich boten, wahrgenommen und vielleicht ermöglicht mir das alles zusammen diese insgesamt ja doch sehr beglückte und positive Rückschau auf mein Leben.
Führer: Lassen Sie uns mal über ein paar Stationen Ihres Lebens sprechen. Sie sind Jahrgang 1927. Ihre Schulzeit, schreiben Sie selbst, ist von Anfang bis Ende mit der Zeit des Nationalsozialismus identisch.
Jens: Ja, ich kam 1933 zur Schule und hätte noch '45 das Abitur machen sollen, mit 18 Jahren.
Führer: Das mussten Sie dann noch danach …
Jens: Das habe ich dann später gemacht durch die Kriegseinsätze.
Führer: Genau. Und trotzdem schreiben Sie, das fand ich sehr verwunderlich, Sie seien nicht politisch indoktriniert worden – weil Sie auf der anderen Seite im weiteren Verlauf des Buchs doch auch immer wieder über Denkhaltungen aus der NS-Zeit doch kritisch reflektieren.
Jens: Ja, aber ich habe erst nach 1945 angefangen, kritisch zu reflektieren. Vor 1945 hätten mir alle Werkzeuge, auch alle Denkvoraussetzungen gefehlt, und – das allerdings als Wichtigstes – auch alle Informationen, mit denen ich mich hätte auseinandersetzen sollen. Vielleicht war das der erste Glücksfall meines Lebens: Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die nicht anti das Hitlerregime eingestellt war, aber der es eben neben dem, was so normal weiterlief und was von Staats wegen zu erledigen war – also BDM-Dienst für mich, HJ-Dienst für meinen Bruder, SS-Dienst für meinen Vater –, gab es doch sehr viele andere Dinge. Wir haben sehr viel Musik gemacht, ich durfte lesen. NS stand nicht im Vordergrund, sondern es war die, wenn ich mal so sagen soll, unreflektierte, umgebende Normalität für mich, über die ich nie besonders nachgedacht habe, sondern erst in dem Augenblick, als ich erfuhr, was es mit dieser unreflektiert gelebten Realität für andere Menschen sehr wohl auf sich gehabt hat.
Führer: Ja, und es scheint auch mehr, also politische Indoktrination sagen Sie, nein, aber Denkhaltungen haben Sie da doch erworben. Sie schreiben selbst vom rüden Schema, von Führer und Gefolgschaft, was auch Sie geprägt habe, oder dass Sie die Möglichkeit eines friedlichen Austragens zum Beispiel in Form ziviler Diskurse, dass das außerhalb Ihrer Erfahrung gelegen habe.
Jens: Ja.
Führer: Und es wirkt so, als wären Sie sozusagen über Schriftsteller, über Künstler, über die Literatur eigentlich geistig, wenn man das so sagen darf, entnazifiziert worden.
Jens: Sicherlich hat die Literatur eine große Rolle dabei gespielt. In erster Linie würde ich aber sagen: Es sind die Menschen gewesen, die mich mit dieser Literatur in Verbindung gebracht haben, also Freunde, die ich in Hamburg hatte, eine wesentliche Rolle haben die Diskussionen in der Studentengemeinde in Hamburg gehabt, und dann nach 1949, als ich dann für ein Semester nach Tübingen kam, natürlich die Belehrungen von und die Auseinandersetzungen mit meinem Hausgenossen, gleichfalls Hamburger, Walter Jens.
Führer: Machen wir einen Sprung, Frau Jens, in das Jahr 1959. Da beginnen Sie Ihre erste Editionsarbeit – viele weitere werden dann folgen –, das war der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und dem Germanisten Ernst Bertram, und Sie schreiben da: "Hier im Edieren hatte ich meine Arbeit gefunden", und an anderer Stelle schreiben Sie noch einmal von den so sehr geliebten Archivarbeiten. Was ist das eigentlich, was Sie daran so lieben?
Jens: Im Archiv haben Sie es mit Quellen zu tun, mit unmittelbaren Äußerungen von Menschen, die im Allgemeinen längst tot sind und die doch noch einmal direkt zu Ihnen reden. Das heißt, Sie haben die Möglichkeit, Erfahrungen vergangener Jahre – vielleicht sogar Jahrhunderte – noch einmal so zu erleben, als wären Sie als Zeitgenosse dabei gewesen, natürlich immer gebrochen durch das Medium, dessen Dokumente Sie in dem Augenblick in der Hand haben. Das ist ein für mich sehr wunderbarer Einstieg in konkrete Schicksale, die mich dann natürlich, wenn ich es mit Editionen, durch Editionen beauftragt war, schon notwendig machten, mich auch mit anderen Dokumenten dieser Zeit zu befassen – zum Teil mit Originaldokumenten, wenn es also wie bei mir so um die Jahrhundertwende, vielleicht ein bisschen weiter zurück, etwas auf Weimarer Republik ist, dann mit Gegenbriefen, mit Äußerungen anderer Menschen aus dem Kreis, mit dem Sie sich gerade befassen. Sie haben historische Analysen zu lesen. Es rundet sich dann erst allmählich … Mir hat dieser Einstieg mithilfe konkreter Schicksale von Anfang an ungemein gut gefallen, ja, er hat mich fasziniert, er hat mich unmittelbar betroffen und ich hatte immer etwas, was mich direkt anging und von dem aus ich dann versuchen konnte, objektive Aussagen über die Zeit, über die subjektive Interpretation hinaus, zu machen.
Führer: Inge Jens im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. Frau Jens, eine ganz andere Tätigkeit bekommt in Ihren Erinnerungen auch einen herausgehobenen Platz, nämlich Ihr Engagement in der Friedensbewegung. Ich hatte so den Eindruck, als wenn bei Ihnen, wenn man das Wort Mutlangen sagt, sofort die Augen zu leuchten beginnen.
Jens: Vielleicht, weil Mutlangen für mich für die Möglichkeit steht, die Erfahrung, die entscheidenden Erfahrungen meiner Jugend, nämlich, nie wieder Krieg, produktiv zu machen, weiterzugeben. Und das ist natürlich etwas, was mir gefallen hat. Ich habe …
Führer: Wir sollten schon kurz einführen, dass da die US-Raketen stationiert werden sollten und dann schließlich auch wurden und Sie an Sitzblockaden dagegen teilgenommen haben.
Jens: In Mutlangen, ja. Das war für mich die Möglichkeit, sichtbar Protest in erster Linie natürlich gegen die atomare Wiederaufrüstung zu leisten, aber dann doch, damit untrennbar verbunden, meine Stimme laut gegen den Wahnsinn jeder Kriegsführung zu erheben, denn diese Überzeugung habe ich nun aus meiner Kindheit mitgenommen: Nie wieder Krieg! - ist für mich eine Lebensmaxime geworden spätestens 1943, als ich zu Hilfsdiensten nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg herangezogen worden bin.
Führer: Sie schildern in Ihrem Buch, Frau Jens, immer so en passant eigentlich immer wieder das Unzeitgemäße Ihrer Ehe: Sie studierten, Sie arbeiteten, Ihr Mann unterstützte Sie darin, das war ja für die Bundesrepublik der 50er-, 60er- und auch noch der 70er-Jahre, muss man sagen, nicht wirklich normal. Das Privileg, Lebensmöglichkeiten praktisch ausprobieren zu können, verdanken Sie Ihrer Ehe, haben Sie geschrieben. War Ihnen eigentlich immer bewusst, dass das ungewöhnlich war, Ihre Partnerschaft, die eine wirkliche Partnerschaft war?
Jens: Nein, das habe ich erst nach und nach begriffen, natürlich jetzt nicht im Rückblick von heute, sondern das merken Sie schon, während Sie diese Partnerschaft leben. Aber ich habe auch keine oder nur kaum Anfeindungen gegen diese Form des Lebens erfahren, und ich denke, auch das hätte mich wahrscheinlich nicht wesentlich beeinflusst. Ich war glücklich in dieser Ehe, die weit über eine Ehe hinaus eine geistige, vielleicht sogar eine seelische Partnerschaft war. Ich habe mit meinem Mann fast 60 Jahre lang alles besprechen können, was uns bewegte, von privatesten Problemen bis – und das, denke ich, ist entscheidend – zu allgemein politischen, sozialen, auch schriftstellerischen Problemen. Wir haben die ganze Skala miteinander, die ganze Skala dessen, was uns damals wichtig erschien und wofür wir uns engagierten, miteinander diskutieren können. Und dass das ein Privileg war, darüber war ich mir schon relativ schnell klar.
Führer: Dass Sie selbst in Ihrem Buch, Frau Jens, ganz offen über die Demenz Ihres Mannes schreiben, also die Entwicklung der Krankheit, sein Unglücklichsein, auch seine glücklichen Momente – darf ich Sie zum Schluss fragen, wie es ihm geht?
Jens: Die Frage kann ich Ihnen nicht eindeutig beantworten. Ich täte es gerne. Mein Mann kann nicht mehr sprechen, von lesen und schreiben ganz zu schweigen, ich kann nur aus seinen Reaktionen, aus seinem Sich-Geben seine Befindlichkeit ablesen, Befindlichkeiten, sollte ich vielleicht lieber sagen, denn sein Zustand wechselt sehr schnell. Die Äußerungen von Glück können jäh in Äußerungen, die Sie als Verzweiflung deuten müssen, umschlagen. Aber insgesamt, wenn Sie mich fragen, denke ich, die glücklichen Momente, vielleicht überwiegen sie die verzweifelten nicht, aber es gibt in seinem Leben glückliche Momente, so wie in dem Leben eines gesunden Menschen auch. Er ist kein Moribundus, die Demenz hat ihm nicht sein Menschsein geraubt und nein, er hat nie leben wollen, so, wie er jetzt leben muss, aber vor die Wahl gestellt, jetzt zu sterben oder so leben zu sollen, bin ich überzeugt, dass er das Leben in einer wie ich zugeben muss schönen und zum Teil auch lustigen und anregenden Atmosphäre dem Totsein, dem Sterben bei Weitem vorziehen wird. Er würde das nicht mehr formulieren können, aber wenn Sie mich bitten, es zu formulieren, denke ich, umschreibt es seinen Zustand ungefähr.
Führer: Inge Jens, Ihre "Unvollständigen Erinnerungen", so heißt das Buch, sind soeben bei Rowohlt erschienen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch, Frau Jens!
Jens: Bitte.