"Ein erneuter Schlag ins Gesicht der Angehörigen"

Peer Stolle im Gespräch mit Susanne Führer |
Bei seinen Mandanten herrschten Entsetzen, Wut und Enttäuschung, sagt Rechtsanwalt Peer Stolle, der eine der Opferfamilien im NSU-Prozess vertritt. Bei der Entscheidung, den Prozess zu verschieben, sei auf die Angehörigen keinerlei Rücksicht genommen worden.
Susanne Führer: Am 4. April 2006 wird Mehmet Kubasic in seinem Kiosk in Dortmund erschossen. Erst fünf Jahre später stellt sich heraus, dass die Rechtsterroristen vom NSU hinter diesem und noch neun weiteren Morden stecken. Morgen hätte der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte beginnen sollen, er wurde aber gestern vom Oberlandesgericht München auf den Mai verschoben. Peer Stolle ist Rechtsanwalt, er vertritt die Angehörigen von Mehmet Kubasic als Nebenkläger vor Gericht und ist jetzt hier bei uns im Studio. Guten Morgen, Herr Stolle!

Peer Stolle: Schönen guten Morgen!

Führer: Ja, wie hat denn die Familie Kubasic reagiert, als sie von der Verschiebung erfahren hat, gestern?

Stolle: Da war natürlich sehr viel Entsetzen dabei, es war sehr viel Enttäuschung, aber auch wieder Wut. Wut, die auch schon damals, am 4. November 2011 hochkam, als festgestellt worden ist, dass es doch eine rechtsextremistische Motivation gewesen ist, die hinter den Taten gesteckt hatte. Die Familie hatte sich vorbereitet auf diesen Tag, ihr ganzes Leben danach ausgerichtet, dass jetzt dieser Prozess endlich anfing. Das war natürlich eine enorme Anspannung dort. Dass jetzt dieser Prozess um drei Wochen verschoben wird, ist natürlich ein erneuter Schlag ins Gesicht der Angehörigen nicht nur von Mehmet Kubasic, von unseren Mandanten, sondern bestimmt auch von allen anderen Angehörigen von den Mordopfern des NSU.

Führer: Warum ist das ein Schlag ins Gesicht?

Stolle: Weil sie wurden ja jahrelang selber verdächtigt, die Familien, dass irgendwo in der Familie der Grund liegt für diese Taten, dass da irgendwelche mafiöse Verbindungen existieren, dass da organisierte Kriminalität dahintersteckt, Betäubungsmittelhandel. Sie wurden mit enormem Misstrauen seitens der staatlichen Behörden begegnet. Es wurde im Umfeld ermittelt. Dann hat sich herausgestellt, es war, wie sie auch immer gesagt haben – es lag nicht an den Opfern, an den Erschossenen, sondern da liegt eine rechtsextremistische, rassistische Motivation dahinter.

Die staatlichen Behörden haben da versagt, und jetzt, wo man das Gefühl hatte, jetzt fängt der Prozess an, jetzt fängt die Aufklärung an, jetzt werden die Leute zur Verantwortung gezogen, die diese Taten begangen haben. Man hat sich darauf vorbereitet, man dachte, jetzt geht es irgendwie los. Und sie mussten jetzt erfahren, dass der Staat überhaupt keine Rücksicht nimmt auf die Angehörigen, die sich darauf vorbereitet haben, sondern einfach das Verfahren aussetzt, um drei Wochen verschiebt, unabhängig davon, wie eigentlich die anderen Prozessbeteiligten und die Betroffenen dieser Taten das sehen.

Führer: Na ja, nun gab es ja die Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht am Freitag, insofern musste das Gericht ja, könnte man auch sagen, das jetzt verschieben, um diese Akkreditierung, also nicht die Akkreditierung, sondern die Platzvergabe an die Journalisten neu zu regeln.

Stolle: Aber dass es Fehler gab bei diesem Akkreditierungsverfahren, das ist ja nicht erst seit Freitag bekannt, sondern seitdem dieses Akkreditierungsverfahren begonnen hat. Und das war ja auch dem Senat bekannt, der hat ja selber dieses Akkreditierungsverfahren durchgeführt. Und die Fehler lagen ja nicht nur darin, dass ausländischen Medien kein eigenes Kontingent zugesprochen worden ist, sondern die Fehler lagen ja auch schon darin, dass einzelne Medienvertreter schon vorab Kenntnis erlangt haben, wann dieses Verfahren beginnt. Dass einige später informiert worden sind, dass die Informationen auf der Homepage später kamen, das wusste ja alles der Senat des Oberlandesgerichts München, insofern wäre es was Einfaches gewesen, dieses Akkreditierungsverfahren gleich, nachdem es begonnen hat, wieder auszusetzen, ein neues anzufangen, das auch wirklich nach vernünftigen Regeln durchgeführt wird, dann hätte es nicht zu dieser Verzögerung kommen müssen und man hätte auch gar nicht darauf warten müssen, dass das Bundesverfassungsgericht darüber entscheidet.

Führer: Apropos informiert werden: Wie ist denn die Familie gestern von der Verschiebung informiert worden? Vor den Medien?

Stolle: Wir haben eine SMS bekommen von Kollegen, wisst ihr schon, Termin aufgehoben. Dann sind wir ins Internet gegangen bei "Spiegel online", haben das gelesen, Eilmeldung, haben dann die Mandanten informiert, angerufen, die wussten nichts. Und ich glaube, zirka eine Stunde später kam dann auch das Fax vom Oberlandesgericht. Also wir haben es aus der Presse erfahren, und unsere Mandanten haben es dann von uns erfahren, und das ist natürlich ein Umgang, der überhaupt nicht geht, über diese Wege dann erfahren, dass dieser Prozess ausgesetzt worden ist.

Führer: Nun kann man ja sagen, das sind vielleicht alles Ungeschicklichkeiten des Oberlandesgerichts München. Meinen Sie, dass damit auch schon die Autorität des Gerichts beschädigt ist für den Prozess? Das wäre ja dramatisch, eigentlich.

Stolle: Das werden wir sehen. Natürlich ist es kein guter Anfang, wenn gleich, bevor der Prozess eigentlich angefangen hat, vom Bundesverfassungsgericht sozusagen die ersten Verfahrensschritte schon als möglicherweise verfassungswidrig eingestuft worden sind. Das wirft kein gutes Licht auf den Anfang. Wir müssen jetzt gucken, wie es am 6. Mai weitergeht, wie jetzt das Akkreditierungsverfahren läuft und was dann am 6. Mai tatsächlich passieren wird.

Führer: Rechtsanwalt Peer Stolle ist im Deutschlandradio Kultur zu Gast. Er vertritt die Familie Kubasic im NSU-Prozess. Herr Stolle, wie sind Sie eigentlich an dieses Mandat gekommen? Sie sind ja eigentlich Strafverteidiger vor allem.

Stolle: Das lief so, die Familie suchte, nachdem irgendwann klar war, es wird dazu ein Verfahren geben und es wird ein großes Verfahren geben, suchten die natürlich anwaltliche Vertretung und kamen dann über Bekannte zu unserer Kanzlei. Dazu muss man wissen, in unserer Kanzlei ist auch Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der schon jahrelang zu Menschenrechtsverbrechen sozusagen Aufklärung betreibt und dort tätig ist als Rechtsanwalt und sich für die Einhaltung der Menschenrechte auf juristischem Weg einsetzt. Und darüber wurde unsere Kanzlei empfohlen, und da ist die Familie dann zu uns gekommen und hat angefragt und wir haben gesagt, klar, das machen wir.

Führer: Gab es für Sie eigentlich auch persönliche Gründe, das anzunehmen, oder gehören Sie zu den Anwälten, die sagen, ich vertrete jeden, jeder hat Anspruch auf ein anständiges Verfahren und eine gute anwaltliche Vertretung?

Stolle: Ja, ich habe das selber erlebt Anfang der 90er-Jahre, diese rechtsextremistische, rassistische Gewaltwelle und vor allen Dingen, wie sich so rechtsextremistische Einstellungen und Handlungsweisen so in der Gesellschaft etablieren konnten, und habe auch miterlebt, wie der Staat dabei vorwiegend weggesehen hat, wie das verharmlost worden ist. Damals, wo fast täglich Flüchtlingsheime gebrannt haben oder Unterkünfte von Migrantinnen und Migranten. Ich mache selber gelegentlich – also nicht nur ich, sondern auch mein Kollege, Rechtsanwalt Sebastian Scharmer aus meiner Kanzlei, wir machen oft Nebenklage in Verfahren wegen rechtsextremistischer, rassistischer Gewalt und müssen dort erleben, dass diese Motivation der Taten, also der Rassismus und der Rechtsextremismus, die Ideologie oft von den Strafverfolgungsbehörden ausgeblendet wird und es schwierig ist, das überhaupt im Strafverfahren dann zu thematisieren, und dass das für die Betroffenen enorm wichtig ist, das auch klarzustellen, also, warum hat eigentlich dieser Angriff stattgefunden, warum hat dieser Brandanschlag, dieser Übergriff stattgefunden. Das passiert ja nicht einfach so, ohne Motivation.

Und dass das oft ausgeblendet wird, und gerade hier, wo ja jahrelang auch weggeguckt worden ist und diese Spur überhaupt nicht verfolgt worden ist, obwohl es da immer Hinweise gegeben hat, dass vielleicht ein rassistisches Motiv dahintersteht. Und dass die Angehörigen im Dunkeln gelassen worden sind beziehungsweise selber verdächtigt worden sind, da finde ich es gerade wichtig, dass sie dann auch die anwaltliche Vertretung haben, dass ihre Interessen dann natürlich auch in den Verfahren vertreten werden.

Führer: Es gab ja viele, wie soll man es nennen, sagen wir mal Pannen, Fehler bei den Ermittlungen, auch jetzt kommt ja alle zwei Tage etwas Neues ans Licht vom Versagen von verschiedensten Verfassungsschutzbehörden und so weiter. Hat die Familie Kubasic vielleicht auch die Hoffnung, oder vielleicht auch Sie, Herr Stolle, dass auch in diesem Strafprozess jetzt darüber gesprochen wird, dass da auch eine Aufklärung erfolgt?

Stolle: Natürlich. Also die Hoffnungen und die Erwartungen sind enorm an diesen Prozess. Dass dort endlich mal auch Licht ins Dunkel gebracht wird. Weil also viele Sachen sind ja noch ungeklärt. Also die Frage ja allein, wie groß war eigentlich der NSU? Bestand der nur aus den drei Personen? Wer hat den noch unterstützt? Es gibt ja diese angebliche 129er-Liste vom Generalbundesanwalt, wer da vielleicht noch Kontaktperson oder auch Unterstützer oder vielleicht auch Mitglied gewesen ist. Was wussten die staatlichen Behörden …

Führer: Also 129er bezieht sich auf Paragraph 129?

Stolle: Nein, 129, Entschuldigung, das ist die Anzahl der möglichen Kontaktpersonen. Und man will natürlich wissen, warum gerade Mehmet, warum gerade Mehmet Kubasic? Warum wurden diese zehn Mordopfer ausgewählt, was war der Grund, was steckte dahinter, dass die ausgewählt worden sind? Und das sind natürlich alles Fragen, die unsere Mandantschaft beschäftigen und wo gehofft wird, dass das auch Aufklärung findet in dem Prozess. Es ist natürlich klar, so ein Prozess kann nicht alle Fragen klären, aber er ist natürlich ein wichtiger Teil dafür, um endlich mal Licht ins Dunkel zu bringen des NSU.

Führer: Aufklärung ist das eine. Meinen Sie, dass so ein Prozess auch zu einer Art, ja, wie soll ich sagen, inneren Befriedung beitragen kann?

Stolle: Ja, kann. Es kommt darauf an, wie dann das Verfahren läuft, wie die Erwartungen sind und was am Ende herauskommt.

Führer: Also sowohl der Angehörigen der Opfer wie auch der Gesellschaft.

Stolle: Der Gesellschaft, das weiß ich nicht, also die Ursachen dafür, dass solche Taten begangen worden sind, die sind ja damit nicht weg. Also, rassistische Einstellungen in der Gesellschaft, das Phänomen rechtsextremistischer Gewalt, das wird ja damit nicht gelöst, oder das wird ja dadurch nicht weg, indem jetzt über fünf Angeklagte geurteilt worden ist, sondern diese Ursachen existieren ja weiter und es kann vielleicht einen Beitrag liefern für eine weitere gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, dieser Prozess, und vielleicht auch ein Urteil darüber, aber es wird jetzt nicht zu einer allgemeinen Befriedung oder Lösung des Problems führen.

Führer: Das sagt Rechtsanwalt Peer Stolle. Er vertritt die Familie Kubasic als Nebenkläger im sogenannten "NSU-Prozess", der nun am 6. Mai beginnen soll. Danke für Ihren Besuch, Herr Stolle!

Stolle: Gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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