"Ein ganz einmaliges Ereignis"

Thomas Bremer im Gespräch mit Thorsten Jabs |
In einer Erklärung haben der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz und das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche einen Neubeginn in den Beziehungen vereinbart. Das sei "historisch" und ein Schritt zur Aussöhnung, sagt Thomas Bremer, Professor für Ökumenik an der Universität Münster.
Thorsten Jabs: "Wir appellieren an die Gläubigen, einander alles Leid und Unrecht und zu vergeben. Jeder Pole sollte in jedem Russen und jeder Russe in jedem Polen einen Bruder und Freund sehen."

So steht es in der gemeinsamen Erklärung, die der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, Michalik, und Patriarch Kyrill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, vor acht Tagen in Warschau unterzeichnet haben.

Vertrauen und Versöhnung, ohne die Vergangenheit zu vergessen, so könnte man Ziele und Hoffnungen zusammenfassen. Wir wollen den sogenannten Neubeginn jetzt noch einmal einordnen.

Zu uns ins Studio ist dafür Thomas Bremer gekommen. Er ist Professor für Ökumenik und Friedensforschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Guten Tag, Herr Bremer!

Thomas Bremer: Guten Tag!

Jabs: Herr Bremer, in fast allen Meldungen und Berichten über die gemeinsame Botschaft ist von einem historischen Versöhnungsappell die Rede. Inwiefern haben wir es tatsächlich mit einem geschichtsträchtigen Ereignis zu tun?

Bremer: Historisch kann man das Ereignis schon insofern nennen, als es zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte ist, dass ein Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche nach Polen gereist ist.

Es ist also ein ganz einmaliges und erstmaliges Ereignis. Historisch ist es aber auch deswegen, weil die Beziehungen zwischen den beiden Nationen und auch die Beziehungen zwischen den beiden Kirchen in dieser speziellen Ausprägung, also der katholischen Kirche bei den Polen und der orthodoxen Kirche in Russland, seit langen Jahrhunderten, kann man schon sagen, belastet sind durch schwierige Beziehungen, die es gegeben hat.

Und es sieht so aus, als würde durch diese gemeinsame Erklärung jetzt ein Neuanfang in den Beziehungen gemacht werden.

Jabs: Die Geschichte der beiden Völker ist natürlich geprägt von Krieg und Unterdrückung. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Polen und Russland im Jahr 2012 beschreiben?

Bremer: Wir sind im Jahr 2012 insofern in einer völlig neuen Situation, als Polen ja Mitglied in der Europäischen Union ist und die politischen Konstellationen ganz andere sind als noch vor 30 Jahren, als den Ostblock gab und den Westen, zu dem sich Polen geistesgeschichtlich immer zugehörig gefühlt hat, aber eben nicht politisch.

Und Russland zum einen ein Interesse hat an Beziehungen zu den Staaten der näheren Nachbarschaft und auch zur Europäischen Union, und da ein bisschen vielleicht auch der Versuch, die gemeinsame, auch schwierige Geschichte zum Guten zu wenden, das kann man vielleicht so verstehen.

Jabs: Sie haben ja eben die Kirchen auch schon angesprochen. Welche Rolle haben die Kirchen in der Vergangenheit bei dem brisanten Verhältnis beider Länder gespielt?

Bremer: Wenn man die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet, dann ist das ganz unterschiedlich einfach aufgrund der Tatsache, dass in beiden Ländern ja kommunistische Regimes waren, die den Kirchen gegenüber negativ eingestellt waren.

In Polen, das ist bekannt, hat es die große Bedeutung der katholischen Kirche für die Solidarnosc-, für die Gewerkschaftsbewegung gegeben. Und man muss das auch im Kontext, im weiteren Kontext dessen sehen, dass die katholische Kirche für die Polen auch im 19. Jahrhundert, als es keinen polnischen Staat gab, sondern Polen aufgeteilt war zwischen Preußen, Österreich und Russland, dass die polnische katholische Kirche in dieser Zeit eben das einigende Band für die Polen gewesen ist. Also eine ganz enge und starke Beziehung zwischen polnischer Nation und polnischem Katholizismus. Und jeder, der mal in Polen war, weiß das und hat das schon miterlebt.

In Russland ist es etwas anders. Die Kirche war über viele Jahrhunderte sehr eng mit dem Staat verbunden. Es gab eben einen Staat, einen mächtigen Staat, also, der von den Zaren geleitet wurde. Das änderte sich 1917 durch die Oktoberrevolution. Es kam ein religionsfeindliches Regime an die Macht, dass die Kirche sehr stark verfolgt hat, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg gab es so eine Art von Modus vivendi, die Kirche konnte in sehr engen Grenzen innerhalb des kommunistischen Regimes agieren.

Nach dem Ende der Sowjetunion, nach 1991 oder vielleicht schon etwas früher im Zusammenhang mit der Perestroika, die Möglichkeit für die orthodoxe Kirche, zu versuchen, wieder neu sozusagen die alten Positionen, die sie früher einmal innehatte, einzunehmen.

Jabs: Wir konstatieren, Kommunismus ist natürlich a.D. Sie haben eben schon gesagt, Polen jetzt in der Europäischen Union. In Russland haben wir, sagen wir mal, ein autokratisches System. Wie stehen die beiden Kirchen momentan in ihren Ländern da?

Bremer: Es gibt einen gemeinsamen Zug, den man vielleicht bei beiden Kirchen erkennen kann, und das ist eine gewisse kritische Haltung gegenüber dem, was man so ganz allgemein als den Westen bezeichnen könnte. Ein bisschen davon kommt auch in dieser gemeinsamen Erklärung vor. Also da spricht man sich aus gegen Konsumismus und gegen gewisse Tendenzen, die einfach mit der Moderne verbunden sind.

In Polen ist es so, dass nach wie vor natürlich die Religiosität der Bevölkerung eine der höchsten in ganz Europa ist, obwohl man beobachten kann, dass das in den letzten Jahren langsam, nicht viel, aber doch etwas zurückgegangen ist und dass das Ansehen der Kirche sehr stark gewesen ist, solange der Papst, Johannes Paul II. noch lebte, aber dass auch gerade bei jüngeren Leuten, etwa in Fragen von Sexualethik die Vorgaben der katholischen Kirche nicht mehr unbedingt beachtet werden.

In Russland haben wir ein anderes Phänomen. Dort dient das Bekenntnis zur Orthodoxie einer Selbstidentifizierung, so kann man das vielleicht sagen. Es gibt viele Umfragen, die zeigen, dass Menschen sich etwa als orthodox bekennen, wenn man sie fragt, aber dann zum Beispiel schon die Frage, ob sie an Gott glauben, nicht mehr bejahen würden. Das heißt, sie sagen, ich bin orthodox, um eine Identität als Russe oder als Russin auszudrücken, aber es hat nicht so stark eine religiöse Bedeutung.

Und die Kirche versucht gerade, sozusagen in Russland dieses, ja, Vakuum, das entstanden ist, zu füllen und diesen Platz zu besetzen, aber sie verhält sich dabei nicht immer geschickt, wie man in den letzten Tagen natürlich sehen konnte im Zusammenhang mit diesem Prozess gegen die Punkbank Pussy Riot, der ja so viel Aufsehen erregt hat.

Jabs: Wenn wir jetzt mal von diesem Punkt, den Sie eben geschildert haben, ausgehen: Welche Unterschiede machen eine Versöhnung zwischen Russisch-orthodoxen und Katholiken besonders schwer?

Bremer: Es gibt eine theologische Dimension, die grundsätzlich für die katholische Kirche und die Orthodoxie gilt, und das ist vor allem die Rolle des römischen Papstes, also die Frage nach dem Primat des Papstes.

Das spielt in dem Fall aber keine besonders große Rolle, und es ist natürlich auch kein Thema, das auf polnisch-russischer Ebene gelöst werden könnte, sondern das ist ja etwas, was die Gesamtorthodoxie und den Gesamtkatholizismus umfasst. Hier ist es tatsächlich, wie Sie das ja schon angesprochen haben, die Belastung durch die historischen Ereignisse, die zum Teil sehr weit zurückgehen, und die gegenseitige Wahrnehmung, dass man sich gerne, viele Leute sowohl in Polen als auch in Russland sich selbst sozusagen als Verlierer, als moralischer Sieger sozusagen, aber als faktischer Verlierer in den historischen Auseinandersetzungen sieht und dass man gern die Schuld außen sucht.

Und dann ist natürlich der Nachbar jeweils sozusagen derjenige, den man dann schnell finden kann. Das gibt natürlich auch historische Belege dafür, es gibt auch Ungerechtigkeit und Unrecht, das geschehen ist, aber es ist doch sinnvoll und vernünftig, wie das jetzt geschehen ist, mehr die Augen auf die Zukunft zu wenden, ohne die Geschichte zu vergessen.

Jabs: Ist das Thema Missionierung dabei ein brisantes Thema?

Bremer: Ja, das spielt eine gewisse Rolle, und zwar in der Form, dass die russische orthodoxe Kirche der katholischen Kirche grundsätzlich, nicht nur der polnischen Kirche den Vorwurf gemacht hatte, sie würde sogenannten Proselytismus betreiben, also sie würde missionieren in Russland nach dem Ende des Kommunismus, die katholische Kirche hätte eben mehr Möglichkeiten, mehr Personal, mehr Geld, und würde das einsetzen, um suchende Menschen in Russland für den Katholizismus zu gewinnen und von der eigentlich traditionellen Form der Orthodoxie abzubringen.

Es hat natürlich tatsächlich intensive Bemühungen der Evangelisierung der katholischen Kirche in Russland gegeben und viele der Akteure, die es damals gab, kamen tatsächlich aus Polen. Es waren viele polnische Priester und Ordensleute, und das hat ein bisschen mit dazu beigetragen, dass man eben die polnische Kirche als eine aufgefasst hat, die versucht, wenn man das etwas übertrieben sagen kann, Russland katholisch zu machen.

Das war vor allem vor etwa zehn und zwölf Jahren ein großes Thema, und es gab hitzige Diskussionen in dieser Frage. Ich habe den Eindruck, dass das jetzt, in den letzten Jahren, etwas nachgelassen hat und etwas besser geworden ist.

Jabs: In der gemeinsamen Botschaft ist von einer Jahrhunderte alten Nachbarschaft und einem reichlichen christlichen Erbe des Ostens und Westens die Rede. Sie haben ja eben auch schon ein bisschen darüber gesprochen. Wo sehen Sie denn heutzutage die größten Gemeinsamkeiten, gerade, was die Werte angeht?

Bremer: Es gibt natürlich ein Set christlicher Werte, die ganz allgemein für jede christliche Kirche gelten und auf die man sich berufen kann und auch berufen soll und die man natürlich auch vertreten soll.

Was die russische orthodoxe Kirche und die katholische Kirche in Polen betrifft, so sieht man, dass einige Themen ganz besonders wichtig sind, die auch in diesem Papier angesprochen sind, also da kommen so Dinge wie Schutz der Familie, Schutz des Lebens - das sind natürlich Werte, die auch für die Kirchen insgesamt gelten, nicht nur in diesen beiden Ländern, aber eine gewissen Reserve und Zurückhaltung gegenüber Entwicklungen der Moderne scheint mir doch ein bisschen auch aus diesem Papier zu sprechen und scheint mir auch den beiden Kirchen gemeinsam zu sein.

Jabs: Es wird auch auf gemeinsame Herausforderungen in einer säkularen Gesellschaft hingewiesen. Das ist ja genau das, was Sie ansprechen. "Eine Welt ohne Gott liegt in Dunkelheit", heißt es da in der Erklärung. Angesichts dieses konservativen Kurses der beiden Kirchen dürften aber wohl viele Kritiker im Westen eher diese Dunkelheit im Osten fürchten. Wie groß sind da die Vorbehalte, aus Ihrer Sicht?

Bremer: Das hat zwei Aspekte. Zum einen würde ich doch an erster Stelle sagen, ich finde es gut und wichtig und richtig, dass es diesen Akt gegeben hat, dass es die Versöhnung gegeben hat, dass die beiden Oberhäupter der Kirchen das erklärt haben.

Und das wirkt auf mich alles sehr gut und sehr ehrlich auch, und ich glauben und hoffe, dass das auch Wirkungen hat auf die anderen Bischöfe in beiden Ländern, auf die Priester und auf die Gläubigen. Also zunächst würde ich mal die positive Seite herausstreichen.

Eine Frage, die grundsätzlich jede christliche Kirche wahrscheinlich heutzutage in der Welt betrifft, und nicht nur diese beiden Kirchen, ist natürlich die Haltung zur säkularen Welt, die Rolle von Religion und die Autonomie der säkularen Welt und wie man eben damit umgeht. Und ich glaube, man ist nicht gut beraten, das scheint vielleicht ein bisschen aus diesem Papier herauszuklingen, wenn man die Welt eben nur als böse und dunkel, als feindlich sieht.

Sondern man muss natürlich, wie das immer in der Kirchengeschichte der Fall gewesen ist, versuchen, den eigenen Glauben in den jeweils konkreten Umständen, in denen man lebt und in die man gestellt ist, umzusetzen.

Jabs: Welche Gefahren sehen Sie da?

Bremer: Ich würde nicht von Gefahren sprechen, aber was natürlich grundsätzlich sein kann, ist, wenn man sich zu sehr zurückzieht auf eine bewahrende Haltung, die Entwicklungen der Zeit und der Geschichte und eben ja auch die Entwicklungen der eigenen Nation, des eigenen Landes nicht mitbekommt und nicht realisiert und nicht versucht, darauf einzugehen, dass man sich dann etwas sozusagen in der Vergangenheit einigelt. Das sehe ich hier jetzt noch nicht so gegeben, aber im Prinzip ist das natürlich die Gefahr, die im Hintergrund einer solchen Position stehen könnte.

Jabs: Und welche positiven Wirkungen, die Sie erwähnt haben, würden Sie sich erhoffen?

Bremer: Ich erhoffe mir, wie ich das schon gesagt habe, dass die Erklärung weitere Verbreitung findet in den beiden Kirchen, dass es sich also nicht nur auf die Kirchenleitungen bezieht, sondern auch in den Gemeinden.

Das kann man ja auch machen, man kann die ja verteilen, in Kirchenzeitungen publizieren, in Predigten erwähnen und so weiter. Also, dass das einfach weiter Fuß findet und dass die Vorurteile, die es doch auf beiden Seiten gegen die jeweils andere Nation gibt und auch gegen die jeweils andere Kirche gibt, dass die langsam ins Wanken geraten und langsam zu bröckeln beginnen. Das wäre, glaube ich, eine sehr gute Konsequenz dieser Erklärung.

Jabs: Herr Bremer, vielen Dank für das Gespräch und für den Besuch hier im Studio!

Bremer: Bitte.

Jabs: Einschätzungen von Thomas Bremer, Professor für Ökumenik und Friedensforschung an der Uni Münster zur historischen Versöhnung zwischen Russisch-Orthodoxen und polnischen Katholiken.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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