"Ein ganz neuer Ozean"
Meereisphysiker Rüdiger Gerdes kann zwar "kein Datum nennen", aber ein eisfreier Nordpol werde auf lange Sicht kommen. Daraus ergäbe sich "eine einmalige Situation" mit Vor- und Nachteilen.
Dieter Kassel: Immer irgendwann Mitte September ist die Eisbedeckung des Arktischen Ozeans am geringsten. In ein paar Tagen wird es wieder soweit sein. Das ist alles grundsätzlich normal, nicht normal allerdings ist, wie gering diese Eisbedeckung inzwischen regelmäßig ist – aufgrund der am Nordpol besonders stark spürbaren Auswirkungen des Klimawandels, aber nicht nur deshalb. Über das voraussichtliche Minimum der Eisbedeckung in diesem Jahr informieren genau jetzt – um 14 Uhr hat die entsprechende Pressekonferenz begonnen – gemeinsam der KlimaCampus der Universität Hamburg und das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven.
Ich habe deshalb kurz vor dieser Sendung schon mit Professor Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut telefoniert und ihn schon mal vorneweg gefragt, was die eigentlich alles jetzt verraten wollen, nämlich wie viel Eis es noch geben wird, wie das Gebiet denn am Tag des Minimums in diesem Jahr wohl sein wird, wie groß?
Rüdiger Gerdes: Ich schätze, dass es fünf Millionen Quadratkilometer sein werden, da sind wir jetzt auch schon mehr oder weniger. Jetzt um diese Zeit ändert sich nicht mehr viel.
Kassel: Um das in eine Relation zu setzen, was haben wir im Moment im Durchschnitt für eine Eisbedeckung im Winter?
Gerdes: Das hängt ein bisschen davon ab, was Sie als Arktis definieren. Aber so in etwa zwölf Millionen Quadratkilometer. Dazu gehören dann die Barentssee und Hudson Bay und auch noch die Beringsee.
Kassel: Sie haben gerade gesprochen von gut fünf Millionen Quadratkilometern, beim diesjährigen Minimum. 2007 war das mal deutlich weniger, da waren es glaube ich 4,3 Millionen. Wenn wir nun drei Jahre später beim Minimum doch eine etwas größere Bedeckung haben, ist das jetzt ein positives Zeichen?
Gerdes: Nein, das sehe ich nicht so. Also wir sind ja immer noch sehr nahe an diesem Minimum von 2007. Nicht, ob das jetzt 4,3 Millionen Quadratkilometer oder fünf Millionen Quadratkilometer sind, das macht nicht so den großen Unterschied. Was bemerkenswert ist, ist, dass wir vier Jahre in Folge hatten, in denen die Eisbedeckung so niedrig war. Das sind ja immerhin mindestens zwei Millionen Quadratkilometer weniger als in den Jahren sagen wir vor 2000 der Fall war.
Kassel: Ist denn das nun tatsächlich eine eindeutig direkte Folge des Klimawandels, der Erderwärmung?
Gerdes: Es kommen zwei Sachen zusammen: Das eine ist der Klimawandel, die langsame Erwärmung der Luft; das andere ist, dass wir uns gerade finden in einer warmen Phase, in einer natürlichen Klimaschwankung. Nicht, es gibt insbesondere im atlantischen Bereich eine multidekadische Oszillation, die hat Perioden von 60 bis 70 Jahren. Es gab in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine warme Periode im Bereich der Arktis. Und das bedeutet also, wenn Sie diese 60-, 70-Jahre-Periode ernst nehmen, dass wir jetzt im Moment auch gerade in einer warmen Phase dieser natürlichen Klimafluktuation sind.
Kassel: Das würde aber auch bedeuten, dass – jetzt zwingen Sie mich zum Kopfrechnen – so ungefähr ab 2030 es wieder in die andere Richtung gehen müsste, und das würde dann auch bedeuten, dass das Gebiet, das von Eis bedeckt ist, im Sommer wie im Winter wieder größer wird?
Gerdes: Genau, das ist die entscheidende Frage: Wie schnell gehen wir jetzt von einer warmen in eine kalte Phase über, denn das ist nicht so klar definiert. Es ist ja keine reguläre Oszillation mit einer bestimmten Periode, sondern die Warmphasen können mehr oder weniger lang sein. Also wie schnell gehen wir jetzt in eine kalte Phase über, wieweit wird dann schon der anthropogene Temperaturanstieg gediehen sein?
Kassel: Also wie stark ist der Mensch schuld an der Entwicklung?
Gerdes: Ja, also Sie müssen immer an diese Überlagerung dieser beiden Effekte denken. Nicht, wenn jetzt die natürliche Fluktuation in eine kalte Phase übergeht, dann haben wir natürlich im Hintergrund immer noch den anthropogenen Temperaturanstieg.
Kassel: Hat man denn überhaupt Vergleichszahlen, wenn man nun das Jahr 1950 als die, oder die 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts als den letzten Zeitpunkt nehmen, als es diese natürliche Erwärmung des Polargebiets das letzte Mal gab. Gibt es denn vernünftige Zahlen darüber, einen Vergleich, wie groß das von Eis bedeckte Gebiet damals war und wie groß es heute ist?
Gerdes: Ja, 50er-Jahre hat man zwar noch keine Satellitenbeobachtung, aber man hat schon andere Beobachtungen von Schiffen, von Land aus, man kann also schon sagen in etwa, wie die Eisbedeckung zu der Zeit war. Und sie war tatsächlich nicht so gering wie heute.
Kassel: Das heißt in etwa, wenn wir nun heute, oder wenn wir von bisher das Geringste, im Jahr 2007 von 4,3 Millionen ausgehen, was war das Geringste in den 50er-Jahren?
Gerdes: Es unterschied sich nicht wesentlich von dem, was wir jetzt sagen wir 1980 oder so hatten, also so sieben bis acht Millionen Quadratkilometer, die im Sommer da von Eis bedeckt waren. Und der Grund dafür, dass wir in dieser letzten warmen Periode der natürlichen Schwankung nicht diesen drastischen Eisrückgang gesehen haben, der liegt meiner Meinung nach darin, dass inzwischen das Eisvolumen, also die Dicke des Eises erheblich abgenommen hat.
Nicht, das ist so ein langsamer, schleichender Prozess und unsere Modellrechnungen zeigen, dass wir jetzt vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts etwa 11.000 Kubikkilometer Eis verloren haben, ein gutes Drittel von dem, was am Anfang da war. Und die Eisausdehnung, die reagiert jetzt sehr empfindlich darauf, wie dick das Eis ist. Wenn die Eisdicke unter einen bestimmten Wert fällt, dann schmilzt das Eis im Sommer komplett weg.
Kassel: Wir reden mit Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Der Anlass ist das zu erwartende Minimum der Eisbedeckung im Nordmeer. Wir wollen aber ein bisschen auch über die Folgen reden, mehr als ein bisschen vielleicht sogar, Herr Gerdes. Schon vor fünf Jahren gab es mindestens einen Menschen auf der Welt, wahrscheinlich war er nicht alleine, der das Ganze positiv sah, das war damals, 2005, der Transportminister der kanadischen Provinz Manitoba, der hat gesagt, ich zitiere ihn jetzt wörtlich: Das Schmelzen des arktischen Eises ist wohl die einzig positive Seite der Klimaerwärmung.
Dem werden Sie ja als Wissenschaftler ziemlich sicher nicht zustimmen, aber was er meinte, waren zum einen neue Schifffahrtsrouten und dann der Zugang zu Bodenschätzen. Ist denn damit nun in nächster Zeit zu rechnen, dass man zumindest im Sommer ganz andere Schifffahrtsrouten haben wird durch diese Entwicklung?
Gerdes: Ja das ist auch eine schwierige Frage. Also im Moment sieht man das Potenzial, dass Schifffahrtswege frei werden, und dass damit auch der Zugang zu Rohstoffen erleichtert wird, dass auch zum Beispiel der Abtransport der Rohstoffe erleichtert wird. Es ist jetzt noch nicht wirklich machbar, jetzt zum Beispiel transarktische Schifffahrtslinien sinnvoll zu betreiben, weil die Zeit, in der die Schifffahrtsrouten offen sind, die ist kurz, das sind vielleicht zwei Monate oder drei, wenn es hoch kommt. Und man weiß nun nicht mit Sicherheit von Jahr zu Jahr, wird es wirklich frei sein?
Das wird sich vermutlich ändern, mit ziemlicher Sicherheit wird es sich ändern, das Eis wird weiter zurückgehen. Wann, ist eine offene Frage, aber auf lange Sicht wird es zurückgehen. Und damit haben wir ja wirklich eine einmalige Situation, dass ein ganz neuer Ozean sich öffnet für kommerzielle Nutzung. Ob man das jetzt gut findet oder nicht, aber die Möglichkeit besteht, Schifffahrtsrouten, kürzere Schifffahrtsrouten zu finden – nach Asien zum Beispiel – und Rohstoffe auszubeuten, die bisher nicht zugänglich waren.
Kassel: Nun gibt es natürlich ein paar politische Probleme, die Länder streiten sich schon darüber, wem gehört da was am Pol. Aber gibt es nicht auch andere Probleme: Wenn jetzt tatsächlich die Ausbeutung von zum Beispiel Gas- und Ölvorräten bisher unterm Eis, dann vielleicht im Sommer nicht mehr unterm Eis beginnt, ist denn das überhaupt absehbar, was das für die Natur bedeuten kann?
Gerdes: Das ist natürlich immer problematisch, das ist auch dort problematisch, wo wir das jetzt tun. Im Nordpolarmeer ist es vermutlich noch problematischer, weil wir in einer Region sind, wo die Temperaturen niedrig sind, wo Abbauprozesse wesentlich länger brauchen als meinetwegen im Golf von Mexiko. Nicht, das heißt, wenn es hier zu einem Unfall kommen würde – sei es an einer Bohrplattform oder durch ein Schiffsunglück – und Erdöl würde freigesetzt, dann würde das sehr viel länger dort im System bleiben und nicht so schnell verschwinden.
Kassel: Nun reden wir darüber, dass es einerseits diese Entwicklung gibt, es wird wärmer aus diesen beiden von Ihnen schon erklärten Gründen, einerseits hat es höchstwahrscheinlich was mit dem Klimawandel zu tun, dann gibt es diese alle 60, 70 Jahre wiederkommende natürlichen Phänomene – Seite A –, und die würde es vielleicht möglich machen, da neue Schifffahrtswege zu haben und Rohstoffe wirklich zu erkunden und dann auch abzubauen. Beeinflusst sich das auch gegenseitig? Wenn wir uns jetzt ein Polarmeer, ein Nordmeer vorstellen, in dem viel mehr Schiffe unterwegs sind als bisher, langsam geht es schon los zu die Zugänglichkeit, dass der Tourismus zum Beispiel auch zunimmt, dann haben wir mehr Menschen, die da leben, weil sie zum Beispiel Arbeit finden aufgrund dieser Rohstoffe. – Hätte auch das eine Auswirkung auf das Klima?
Gerdes: Das ist durchaus denkbar. Es gibt Stimmen, die sagen, dass allein das Befahren durch Schiffe die Eisausdehnung reduziert, und dann gibt es natürlich die Abgase der Schiffe, die dann als Ruß zum Beispiel sich auf dem Eis niederlegen und damit auch das Rückstrahlvermögen des Eises verändern. Also es sind durchaus Klimaeffekte durch diese stärkere kommerzielle Nutzung denkbar. Es gibt ein neues Projekt, das durch die EU gefördert wird, das sich gerade mit solchen Wechselwirkungen beschäftigen wird, das startet vermutlich Anfang nächsten Jahres, also nicht nur der Einfluss der Klimaänderung auf diese kommerziellen Gebiete, sondern auch die Rückwirkung der kommerziellen Nutzung auf das Klima.
Kassel: Nun haben wir über die Entwicklung der Eisdecke rund um den Nordpol herum gesprochen. Berühmte Frage ist natürlich immer, wie lange wird es denn dauern, bis wirklich zumindest im Sommer der Nordpol eisfrei ist? Kann man darauf eine wissenschaftlich seriöse Antwort geben?
Gerdes: Ich kann Ihnen kein Datum nennen. Was wir haben, sind halt die Szenarienrechnungen mit den Klimamodellen, und die sagen Eisfreiheit voraus irgendwann von 2040 bis irgendwann im 22. Jahrhundert. Nun sind da aber große Unsicherheiten. Die Szenarien selbst sind unsicher. Die basieren ja auf Annahmen darüber, wie der Treibhausgasgehalt in der Atmosphäre sich ändern wird, wie die Industrie sich entwickeln wird, wie sich die Bevölkerung entwickeln wird. Lauter Dinge, die mit vielen Unsicherheiten behaftet sind.
Die Modelle selbst sind natürlich nicht perfekt. Sie werden ständig verbessert, aber natürlich sind sie keine exakten Abbildungen der Realität. Und wenn man jetzt die Eisausdehnung, die aus diesen Modellrechnungen herauskommt, vergleicht mit den Beobachtungen, wie wir sie jetzt haben, insbesondere den starken Rückgang 2007 und in den folgenden Jahren, dann scheint es so, dass diese Modelle da hinterherhinken. Dass also die Änderung in der Natur sehr viel schneller geht und sehr viel früher einsetzt, als es in den Modellrechnungen herauskommt.
Kassel: Das Gespräch mit Rüdiger Gerdes, dem Leiter der Sektion Meereseisphysik am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet, weil in Bremerhaven just in dieser Minute die Pressekonferenz zum diesjährigen Eisbedeckungsminimum im Nordmeer stattfindet.
Ich habe deshalb kurz vor dieser Sendung schon mit Professor Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut telefoniert und ihn schon mal vorneweg gefragt, was die eigentlich alles jetzt verraten wollen, nämlich wie viel Eis es noch geben wird, wie das Gebiet denn am Tag des Minimums in diesem Jahr wohl sein wird, wie groß?
Rüdiger Gerdes: Ich schätze, dass es fünf Millionen Quadratkilometer sein werden, da sind wir jetzt auch schon mehr oder weniger. Jetzt um diese Zeit ändert sich nicht mehr viel.
Kassel: Um das in eine Relation zu setzen, was haben wir im Moment im Durchschnitt für eine Eisbedeckung im Winter?
Gerdes: Das hängt ein bisschen davon ab, was Sie als Arktis definieren. Aber so in etwa zwölf Millionen Quadratkilometer. Dazu gehören dann die Barentssee und Hudson Bay und auch noch die Beringsee.
Kassel: Sie haben gerade gesprochen von gut fünf Millionen Quadratkilometern, beim diesjährigen Minimum. 2007 war das mal deutlich weniger, da waren es glaube ich 4,3 Millionen. Wenn wir nun drei Jahre später beim Minimum doch eine etwas größere Bedeckung haben, ist das jetzt ein positives Zeichen?
Gerdes: Nein, das sehe ich nicht so. Also wir sind ja immer noch sehr nahe an diesem Minimum von 2007. Nicht, ob das jetzt 4,3 Millionen Quadratkilometer oder fünf Millionen Quadratkilometer sind, das macht nicht so den großen Unterschied. Was bemerkenswert ist, ist, dass wir vier Jahre in Folge hatten, in denen die Eisbedeckung so niedrig war. Das sind ja immerhin mindestens zwei Millionen Quadratkilometer weniger als in den Jahren sagen wir vor 2000 der Fall war.
Kassel: Ist denn das nun tatsächlich eine eindeutig direkte Folge des Klimawandels, der Erderwärmung?
Gerdes: Es kommen zwei Sachen zusammen: Das eine ist der Klimawandel, die langsame Erwärmung der Luft; das andere ist, dass wir uns gerade finden in einer warmen Phase, in einer natürlichen Klimaschwankung. Nicht, es gibt insbesondere im atlantischen Bereich eine multidekadische Oszillation, die hat Perioden von 60 bis 70 Jahren. Es gab in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine warme Periode im Bereich der Arktis. Und das bedeutet also, wenn Sie diese 60-, 70-Jahre-Periode ernst nehmen, dass wir jetzt im Moment auch gerade in einer warmen Phase dieser natürlichen Klimafluktuation sind.
Kassel: Das würde aber auch bedeuten, dass – jetzt zwingen Sie mich zum Kopfrechnen – so ungefähr ab 2030 es wieder in die andere Richtung gehen müsste, und das würde dann auch bedeuten, dass das Gebiet, das von Eis bedeckt ist, im Sommer wie im Winter wieder größer wird?
Gerdes: Genau, das ist die entscheidende Frage: Wie schnell gehen wir jetzt von einer warmen in eine kalte Phase über, denn das ist nicht so klar definiert. Es ist ja keine reguläre Oszillation mit einer bestimmten Periode, sondern die Warmphasen können mehr oder weniger lang sein. Also wie schnell gehen wir jetzt in eine kalte Phase über, wieweit wird dann schon der anthropogene Temperaturanstieg gediehen sein?
Kassel: Also wie stark ist der Mensch schuld an der Entwicklung?
Gerdes: Ja, also Sie müssen immer an diese Überlagerung dieser beiden Effekte denken. Nicht, wenn jetzt die natürliche Fluktuation in eine kalte Phase übergeht, dann haben wir natürlich im Hintergrund immer noch den anthropogenen Temperaturanstieg.
Kassel: Hat man denn überhaupt Vergleichszahlen, wenn man nun das Jahr 1950 als die, oder die 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts als den letzten Zeitpunkt nehmen, als es diese natürliche Erwärmung des Polargebiets das letzte Mal gab. Gibt es denn vernünftige Zahlen darüber, einen Vergleich, wie groß das von Eis bedeckte Gebiet damals war und wie groß es heute ist?
Gerdes: Ja, 50er-Jahre hat man zwar noch keine Satellitenbeobachtung, aber man hat schon andere Beobachtungen von Schiffen, von Land aus, man kann also schon sagen in etwa, wie die Eisbedeckung zu der Zeit war. Und sie war tatsächlich nicht so gering wie heute.
Kassel: Das heißt in etwa, wenn wir nun heute, oder wenn wir von bisher das Geringste, im Jahr 2007 von 4,3 Millionen ausgehen, was war das Geringste in den 50er-Jahren?
Gerdes: Es unterschied sich nicht wesentlich von dem, was wir jetzt sagen wir 1980 oder so hatten, also so sieben bis acht Millionen Quadratkilometer, die im Sommer da von Eis bedeckt waren. Und der Grund dafür, dass wir in dieser letzten warmen Periode der natürlichen Schwankung nicht diesen drastischen Eisrückgang gesehen haben, der liegt meiner Meinung nach darin, dass inzwischen das Eisvolumen, also die Dicke des Eises erheblich abgenommen hat.
Nicht, das ist so ein langsamer, schleichender Prozess und unsere Modellrechnungen zeigen, dass wir jetzt vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts etwa 11.000 Kubikkilometer Eis verloren haben, ein gutes Drittel von dem, was am Anfang da war. Und die Eisausdehnung, die reagiert jetzt sehr empfindlich darauf, wie dick das Eis ist. Wenn die Eisdicke unter einen bestimmten Wert fällt, dann schmilzt das Eis im Sommer komplett weg.
Kassel: Wir reden mit Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Der Anlass ist das zu erwartende Minimum der Eisbedeckung im Nordmeer. Wir wollen aber ein bisschen auch über die Folgen reden, mehr als ein bisschen vielleicht sogar, Herr Gerdes. Schon vor fünf Jahren gab es mindestens einen Menschen auf der Welt, wahrscheinlich war er nicht alleine, der das Ganze positiv sah, das war damals, 2005, der Transportminister der kanadischen Provinz Manitoba, der hat gesagt, ich zitiere ihn jetzt wörtlich: Das Schmelzen des arktischen Eises ist wohl die einzig positive Seite der Klimaerwärmung.
Dem werden Sie ja als Wissenschaftler ziemlich sicher nicht zustimmen, aber was er meinte, waren zum einen neue Schifffahrtsrouten und dann der Zugang zu Bodenschätzen. Ist denn damit nun in nächster Zeit zu rechnen, dass man zumindest im Sommer ganz andere Schifffahrtsrouten haben wird durch diese Entwicklung?
Gerdes: Ja das ist auch eine schwierige Frage. Also im Moment sieht man das Potenzial, dass Schifffahrtswege frei werden, und dass damit auch der Zugang zu Rohstoffen erleichtert wird, dass auch zum Beispiel der Abtransport der Rohstoffe erleichtert wird. Es ist jetzt noch nicht wirklich machbar, jetzt zum Beispiel transarktische Schifffahrtslinien sinnvoll zu betreiben, weil die Zeit, in der die Schifffahrtsrouten offen sind, die ist kurz, das sind vielleicht zwei Monate oder drei, wenn es hoch kommt. Und man weiß nun nicht mit Sicherheit von Jahr zu Jahr, wird es wirklich frei sein?
Das wird sich vermutlich ändern, mit ziemlicher Sicherheit wird es sich ändern, das Eis wird weiter zurückgehen. Wann, ist eine offene Frage, aber auf lange Sicht wird es zurückgehen. Und damit haben wir ja wirklich eine einmalige Situation, dass ein ganz neuer Ozean sich öffnet für kommerzielle Nutzung. Ob man das jetzt gut findet oder nicht, aber die Möglichkeit besteht, Schifffahrtsrouten, kürzere Schifffahrtsrouten zu finden – nach Asien zum Beispiel – und Rohstoffe auszubeuten, die bisher nicht zugänglich waren.
Kassel: Nun gibt es natürlich ein paar politische Probleme, die Länder streiten sich schon darüber, wem gehört da was am Pol. Aber gibt es nicht auch andere Probleme: Wenn jetzt tatsächlich die Ausbeutung von zum Beispiel Gas- und Ölvorräten bisher unterm Eis, dann vielleicht im Sommer nicht mehr unterm Eis beginnt, ist denn das überhaupt absehbar, was das für die Natur bedeuten kann?
Gerdes: Das ist natürlich immer problematisch, das ist auch dort problematisch, wo wir das jetzt tun. Im Nordpolarmeer ist es vermutlich noch problematischer, weil wir in einer Region sind, wo die Temperaturen niedrig sind, wo Abbauprozesse wesentlich länger brauchen als meinetwegen im Golf von Mexiko. Nicht, das heißt, wenn es hier zu einem Unfall kommen würde – sei es an einer Bohrplattform oder durch ein Schiffsunglück – und Erdöl würde freigesetzt, dann würde das sehr viel länger dort im System bleiben und nicht so schnell verschwinden.
Kassel: Nun reden wir darüber, dass es einerseits diese Entwicklung gibt, es wird wärmer aus diesen beiden von Ihnen schon erklärten Gründen, einerseits hat es höchstwahrscheinlich was mit dem Klimawandel zu tun, dann gibt es diese alle 60, 70 Jahre wiederkommende natürlichen Phänomene – Seite A –, und die würde es vielleicht möglich machen, da neue Schifffahrtswege zu haben und Rohstoffe wirklich zu erkunden und dann auch abzubauen. Beeinflusst sich das auch gegenseitig? Wenn wir uns jetzt ein Polarmeer, ein Nordmeer vorstellen, in dem viel mehr Schiffe unterwegs sind als bisher, langsam geht es schon los zu die Zugänglichkeit, dass der Tourismus zum Beispiel auch zunimmt, dann haben wir mehr Menschen, die da leben, weil sie zum Beispiel Arbeit finden aufgrund dieser Rohstoffe. – Hätte auch das eine Auswirkung auf das Klima?
Gerdes: Das ist durchaus denkbar. Es gibt Stimmen, die sagen, dass allein das Befahren durch Schiffe die Eisausdehnung reduziert, und dann gibt es natürlich die Abgase der Schiffe, die dann als Ruß zum Beispiel sich auf dem Eis niederlegen und damit auch das Rückstrahlvermögen des Eises verändern. Also es sind durchaus Klimaeffekte durch diese stärkere kommerzielle Nutzung denkbar. Es gibt ein neues Projekt, das durch die EU gefördert wird, das sich gerade mit solchen Wechselwirkungen beschäftigen wird, das startet vermutlich Anfang nächsten Jahres, also nicht nur der Einfluss der Klimaänderung auf diese kommerziellen Gebiete, sondern auch die Rückwirkung der kommerziellen Nutzung auf das Klima.
Kassel: Nun haben wir über die Entwicklung der Eisdecke rund um den Nordpol herum gesprochen. Berühmte Frage ist natürlich immer, wie lange wird es denn dauern, bis wirklich zumindest im Sommer der Nordpol eisfrei ist? Kann man darauf eine wissenschaftlich seriöse Antwort geben?
Gerdes: Ich kann Ihnen kein Datum nennen. Was wir haben, sind halt die Szenarienrechnungen mit den Klimamodellen, und die sagen Eisfreiheit voraus irgendwann von 2040 bis irgendwann im 22. Jahrhundert. Nun sind da aber große Unsicherheiten. Die Szenarien selbst sind unsicher. Die basieren ja auf Annahmen darüber, wie der Treibhausgasgehalt in der Atmosphäre sich ändern wird, wie die Industrie sich entwickeln wird, wie sich die Bevölkerung entwickeln wird. Lauter Dinge, die mit vielen Unsicherheiten behaftet sind.
Die Modelle selbst sind natürlich nicht perfekt. Sie werden ständig verbessert, aber natürlich sind sie keine exakten Abbildungen der Realität. Und wenn man jetzt die Eisausdehnung, die aus diesen Modellrechnungen herauskommt, vergleicht mit den Beobachtungen, wie wir sie jetzt haben, insbesondere den starken Rückgang 2007 und in den folgenden Jahren, dann scheint es so, dass diese Modelle da hinterherhinken. Dass also die Änderung in der Natur sehr viel schneller geht und sehr viel früher einsetzt, als es in den Modellrechnungen herauskommt.
Kassel: Das Gespräch mit Rüdiger Gerdes, dem Leiter der Sektion Meereseisphysik am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet, weil in Bremerhaven just in dieser Minute die Pressekonferenz zum diesjährigen Eisbedeckungsminimum im Nordmeer stattfindet.