Ein "Genießermuseum"

Von Carsten Probst |
Mit der Eröffnung der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin wird eine bisher in Deutschland einmalige Schau mit Kunst des Surrealismus präsentiert. Das Spektrum reicht von Giovanni Battista Piranesi und seiner berühmten "Carceri"-Kupferstiche bis hin zu bis zu Paul Klee, Salvador Dalí und René Magritte.
Kaum ist die Sammlung Scharf-Gerstenberg zu sehen, da erheben sich auch schon leise Klagen unter Journalisten. Wie wenig heiter doch diese Kunst sei, wie düster bisweilen, wie wenig passend zum schön hergerichteten östlichen Stülerbau mit seinem freundlichen Klassizismus. Schon das deutet darauf, dass den Staatlichen Museen Berlin hier etwas Großes gelungen ist.

Die Sammlung Scharf-Gerstenberg ist keine reine Surrealistensammlung, kein populistisch-surrealistisches Potpourri mit ein paar Dalís hier und ein paar Magrittes dort, sondern sie ist eine mit großer kunsthistorischer Kennerschaft vertiefte These zur Moderne. Sie greift aus bis in das 18. Jahrhundert eines Giovanni Battista Piranesi und seiner berühmten "Carceri"-Kupferstiche und zur Grafik Francisco Goyas; sie feiert einen von der Wissenschaft immer noch zu sehr vernachlässigten Hans Bellmer, der noch während der Nazizeit in Berlin seine auf Cindy Sherman vorausweisenden Frauenpuppen bastelte und fotografierte und dafür von den Pariser Surrealisten gefeiert wurde; und sie erlaubt es sich mit scharfsinnigem Blick, einen zeitgenössischen und eher rustikalen Berliner Bildhauer wie Hans Szymanski in die Tradition eines Giacometti oder Dubuffet zu stellen und damit gleichsam neu zu entdecken.

"Ich kann jetzt eigentlich als zusammenfassende Sache nur sagen, dass ich vollends zufrieden bin, vollends begeistert, ich denke, es wird jedem gefallen,"

sagt auch Julietta Scharf, die Tochter des Sammlers Dieter Scharf, die die Sammlung ihrerseits behutsam um immer neue Werke auch jüngerer Kunst ergänzt hat und als wesentliche Initiatorin des Museumsprojekts die Entscheidung für Berlin getroffen hat.

"Der Bau ist wunderbar, die Werke hängen, und selbst das Café ist fertig geworden. Wir werden heute Abend eine Eröffnungsfeier haben, und dann können wir nur hoffen, dass der Besucherstrom so kommt, wie wir uns das alle wünschen; dass das Museum Berggruen und unsere Sammlung zusammenarbeiten wird, dass es gemeinsame Projekte geben wird, dafür wünsch ich mir Personal und Mittel, denke ich, das ist ein großes Problem in dieser Stiftung Preußischer Kulturbesitz …"

Das Lob für die architektonische Lösung beim Umbau des Stülerbaus Ost vis à vis zur Sammlung Berggruen mit ihrem Schwerpunkt Picasso und zum Charlottenburger Schloss ist berechtigt. Dem Architektenehepaar Sunder-Plassmann ist eine ebenso elegante wie verblüffend selbstverständlich wirkende Zusammenfassung der Einzelbauten auf diesem Gelände gelungen. Der Hof des Stülerbaus Ost wurde für einen hohen pavillonartigen Anbau genutzt, der Café und Museumsshop enthält und nun eine lichte Fuge zwischen dem einstigen preußischen Kasernengebäude mit dem danebenliegen Marstall füllt. Die Besucher der Sammlung Scharf-Gerstenberg können dann entscheiden, ob sie sich zunächst nach links in den eigentlich Stülerbau wenden, wo die älteren Exponate der Sammlung von Goya über Max Klinger, einige Impressionisten, Odilon Redon bis Jacques Lipchitz hängen, oder nach rechts, wo die eigentlich surrealistischen Werke von Dalí über Max Ernst, Dubuffet bis hin zu Paul Klee und Gerhard Altenbourg zu sehen sind – insgesamt 240 Werke von 51 Künstlern.

"Wir wollten bei dieser Erstbespielung alles zeigen, den gesamten Bestand der Stiftung Sammlung Dieter Scharf zur Erinnerung an Otto Gerstenberg, das wird dann bei späteren Hängungen etwas reduziert werden, so dass man die Blätter auch aus konservatorischen Gründen austauscht …"

so Dieter Scholz, der Kurator der Berliner Nationalgalerie, der die Hängung vorgenommen hat und zugleich bekennt, dass er dieses Museum in erster Linie als "Genießermuseum" betrachtet.

"Wir haben bei Berggruen eigentlich konstant 100.000 Besucher pro Jahr, und viel mehr wären dort in diesem Haus auch gar nicht sinnvoll, weil man sich sonst auf den Füßen herumtritt und es zu eng wird. Denn der Charme liegt ja in diesen kleinen Räumen, in diesen kabinettartigen, privaten Wohngemächern, und die Formate der Bilder sind ja nun auch nicht für große Museumshallen gedacht, sondern kommen gerade in diesen intimen Räumen besonders zur Wirkung. Insofern denke ich, dass man nicht unbegrenzt das Wachstum steigern muss, sondern dass sich diese Zahl einpegeln wird, die Leute werden den Weg finden, da bin ich mir sicher, und die Qualität wird sie überzeugen, das hoffe ich sehr."

Mögen die Exponate der Sammlung Scharf-Gerstenberg der Moderne einen bisweilen dunklen Seelenspiegel vorhalten, so trifft dies für die Geschichte des Sammlungsteils von Otto Gerstenberg selbst hinsichtlich der jüngsten deutschen Geschichte ebenso zu.

"Sie kennen das Schicksal dieser großartigen Sammlung, die man, wenn man sie sehen will, heute in Moskau und/oder Sankt Petersburg bewundern muss – in unseren Außenstellen dort, wo man vieles andere auch besichtigen muss, was uns lieb und teuer und wertvoll ist,"

merkte denn auch Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hintersinnig mit Verweis auf die immer noch ungelöste Beutekunstdebatte zwischen Deutschland und Russland an. Große Teile der Sammlung von Otto Gerstenberg, des Berliner Gründers der Victoria-Versicherung, die vor allem Alte Meister und Impressionisten umfasste, wurden kurz nach Kriegsende von der Roten Armee in die Sowjetunion geschafft. Gerstenbergs Enkel Walter und Dieter Scharf übernahmen die Restbestände, die noch in Deutschland geblieben waren, und bauten die Sammlung nun mit surrealistischer Kunst neu auf. So erhielt sie ihre heutige Gestalt. Ob und wann eine Rückgabe der ursprünglichen Werke nach Deutschland erfolgt, ist weiterhin völlig offen.

Die Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin