"Ein Gesamtkunstwerk auf zwei Beinen"
Schon vor der Eröffnung wurden 50.000 Tickets für die Retrospektive über den Sänger und Künstler David Bowie verkauft, die im Londoner Victoria & Albert Museum gezeigt wird. Der Direktor des Museums, Martin Roth, führt die Resonanz auf die Persönlichkeit des Künstlers zurück. Für die Menschen sei er eine Projektionsfläche geworden.
Matthias Hanselmann: "The next Day", so heißt die erste handfeste Überraschung im Musikbusiness des Jahres 2013. "The next Day" ist David Bowies neues Album, das erste Album von Bowie seit zehn Jahren und das 24. Studioalbum des mittlerweile 66-jährigen Stars. Man hat den Eindruck, dass Bowie sein Comeback minutiös geplant hat – genau an seinem 66. gab er die Veröffentlichung des Albums bekannt, dann war es eine Zeit lang kostenlos als Stream im Internet zu hören, und jetzt, am Freitagabend genau, eröffnet im Londoner Victoria and Albert Museum auch noch die erste umfangreiche Retrospektive über David Bowie.
Diese Ausstellung zeigt über 300 Ausstellungsstücke, handgeschriebene Liedtexte, Tagebucheinträge, Originalkostüme, Bühnenentwürfe, Videos, Fotos und Instrumente. Bowies Bühnenoutfits und sein Alter Ego, oder seine Alter Egos besser gesagt, aus den rund 50 Jahren seiner Karriere werden im Zusammenhang mit dem Medien, der Mode und der Musik ihrer jeweiligen Zeit in Kontext gesetzt. Diese Ausstellung hat einen überraschenden Titel, nämlich "David Bowie is". Wir sprechen mit dem Direktor des Londoner Victoria and Albert Museums, es ist der deutsche Kulturwissenschaftler Martin Roth. Guten Tag, Herr Roth, nach London!
Martin Roth: Guten Tag, Herr Hanselmann!
Hanselmann: Gehört Ihre Schau wirklich zu einer Bowie-Comeback-Inszenierung, so als flankierende Maßnahme zum neuen Album sozusagen?
Roth: Nein, es ist ganz anders, wir haben die Platte beauftragt, und die … nein, ganz im Ernst, das alles sind eher entweder Zufälle oder er ist tatsächlich durch die Ausstellung drauf aufmerksam geworden, dass da doch ein größeres Interesse gegeben sein könnte, aber das ist alles so ein bisschen wie im Kaffeesatz Lesen, weil wir eine Ausstellung machen, und nicht eine Präsentationsfläche für einen bekannten Star sind. Das heißt, wir haben seit drei Jahren intensiv an dieser Ausstellung gearbeitet.
Freundlicherweise hat sein Archiv alles für uns zugänglich gemacht in New York, das hat die Arbeit extrem erleichtert, und wir alle waren in zwei Punkten extrem überrascht: Die erste Überraschung war letzten September, als wir zum ersten mal in der Öffentlichkeit sagten, dass wir die Ausstellung machen werden. Ich habe noch nie ein solches Echo erlebt, und ich habe wirklich das Glück gehabt, schon an vielen schönen Ausstellungen beteiligt gewesen zu sein. Aber dieses Medieninteresse und auch das persönliche Interesse von vielen war gigantisch, und das Zweite war, als er kurz vor Weihnachten dann seine erste Platte herausgebracht hat und dann das Album angekündigt hat. Und dass das dann auch noch über Berlin ging oder im Berlin-Zusammenhang dargestellt worden ist, war umso interessanter natürlich.
Hanselmann: Wie haben Sie es denn überhaupt geschafft, ihn davon zu überzeugen, seine ganzen Schätze rauszutun?
Roth: Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass man da überhaupt irgendjemand überzeugen musste. Da war schon eine große Bereitschaft da gewesen, und das erlebe ich nicht nur bei ihm derzeit, sondern auch bei anderen. Wir haben vor anderthalb Jahren eine kleine, sehr, sehr schöne Ausstellung mit Annie Lennox gehabt, und auch Annie Lennox war sofort bereit, das zu öffnen. Das sind – ich weiß nicht, ob das mit der Herkunft von vielen zu tun hat, aber das sind viele berühmte Persönlichkeiten darunter, die wirklich alles aufgehoben haben in ihrem Leben, und so auch David Bowie, der seine ersten Liedtexte, tatsächlich noch in seinem Archiv hat, die er als 15-, 16-Jähriger aufgeschrieben hat.
Hanselmann: Super! Wie haben Ihre Kuratoren denn ausgewählt, nach welchen Kriterien wurde die Ausstellung dann letztlich zusammengestellt?
Roth: Also erstens mal, die Ausstellung muss man wirklich sehen und hören – alles, was man hier in einem Telefoninterview wiedergibt, ist nur harmlos. Wir haben sehr viel aus dem Bereich der Mode, wir haben sehr viel aus dem Bereich des Designs, des Stils, also Style generell spielt eine große Rolle, aber natürlich auch der Kunst, Zitate, die er aus seiner Kunst immer wieder entliehen hat, und natürlich das, was unser großes Theater- und Performance-Department hergibt. Und wir haben das Glück gehabt, dass wir mit Sennheiser eine Firma hatten, die sich auf die akustische Präsentation eingelassen hat und was gemacht hat, was man hier in England bespoke nennen würde, also sozusagen ein Extraprogramm entwickelt hat nur für die Musik. Das heißt, wenn Sie dort in die Ausstellung gehen, haben Sie auch das Gefühl, sie gehen durch Konzerte, und das ist schon beeindruckend.
Hanselmann: Sie haben eben gesagt, Sie geben auch einen Einblick in Bowies Tagebücher, die zeigen, wie Bowie seine Ideen entwickelt hat. Haben Sie vielleicht ein, zwei Beispiele?
Roth: Nein, was wir zeigen vor allen Dingen, sind erste Scribbles, erste Ideen und auch ganz frühe Filmaufnahmen, die er gemacht hat. Man sieht wirklich frühe Versuche, wo er auch damals schon sehr intensiv mit seinem Körper arbeitet, seinen Körper einsetzt, mit seinem Körper spielt, mit seinem Aussehen spielt. Sein Körper war immer eine gewissen Präsentationsfläche.
Hanselmann: David Bowie lebt heute in New York, ist aber in London aufgewachsen und dort auch berühmt geworden. Welche Bedeutung hat David Bowie aus Ihrer Sicht heute noch für London? Die Beatles sind ja nun für jeden Touristen allgegenwärtig – wie ist das mit ihm?
Roth: Ich glaube nicht, dass es um London geht. Also dieser immense Andrang, den wir heute schon haben von Ihren Kollegen – die Ausstellung ist komplett überfüllt heute Morgen mit Journalisten, die aus der ganzen Welt hier angereist sind. Ich glaube eher, dass er – und da gibt es dann doch eine Verbindung zu London, pardon … also London ist meines Erachtens tatsächlich momentan so die einzige Stadt, die die Welt abbildet, im Positiven, wie durchaus auch im Negativen.
Und Bowie ist ein Künstler, der das ebenfalls repräsentiert. Dazu kommt noch, dass aufgrund der Tatsache, dass man ihn nie richtig fassen konnte, dass er immer einen Stil gepflegt hat und dann plötzlich wieder was ganz anderes gemacht hat, dass er nie richtig in der Öffentlichkeit sich gezeigt hat, und dann doch plötzlich wieder auftrat. Es gab Gerüchte um ihn in den letzten paar Monaten, die waren unbeschreiblich: dass er krank sei, dass er entstellt sei, dass … was weiß ich, was alles! Und plötzlich kommt er in diesem Video mit Tilda Swinton und sieht besser aus denn je.
Ich glaube, es gibt in uns allen sozusagen ganz viele kleine Bowies, die immer wieder das auf ihn projizieren, was wir gerne von ihm erwarten würden, oder was wir von der Musik, von der Kultur erwarten, und da ist er genial drin, dieses Spiel mit Öffentlichkeit und nicht Öffentlichkeit, das kann kaum einer so gut wie er. Und das merkt man natürlich auch an diesem gigantischen Interesse. Also wirklich, das ist jetzt nicht, um jetzt noch mal das Superlativ hier reinzubringen, aber wir haben bis gestern Abend 50.000 Tickets im Vorfeld verkauft, das gab es noch nie bei irgendeiner Ausstellung.
Hanselmann: All die beschriebenen Ideen Bowies, die haben ja nicht nur den Zeitgeist widergespiegelt, sondern auch Maler, Künstler, Modemacher und so weiter beeinflusst. Was würden Sie sagen, wie nachhaltig – denn die 70er und 80er waren ja eigentlich seine große Zeit?
Roth: Ja, die Frage ist wirklich berechtigt, und wenn Sie durch die Ausstellung gehen erst recht. Also vieles von dem, was sie da sehen, haben Sie den Eindruck – und wir haben eine sehr junges Publikum hier –, das ist schon, das sind solche Stilikonen, die sich durchgezogen haben. Also Ziggy Stardust oder Yamamoto und so, das sind Objekte, die wir alle kennen. Das andere ist die Musik, die weiterlebt in vielen anderen Liedern. Ich hatte kürzlich das nette Erlebnis hier, dass ich eine Schulklasse begrüßt habe, die hier einen Tag lang im Museum uns besucht hat und auch eine eigene kleine Ausstellung gemacht hat.
Und einer davon arbeitet über David Bowie, und ich war ganz begeistert und fragte den jungen Mann, der ursprünglich aus Indien kam, woher er denn David Bowie kennen würde. Und er sagte, er kennt ihn eigentlich nicht, sondern er wisse nur, dass er Lady Gaga sehr beeinflusst hätte. Also dieses, er als sozusagen ein Rohmodell für viele andere, das spielt bis heute eine große Rolle, also ich glaube, man hat ihn extrem oft kopiert. Was ihn halt anders macht, ist das, dass er sicherlich auch kommerziell gedacht hat, aber das waren Zeiten, in denen nicht alles sofort quasi dem Verkauf anheimgestellt wurde, sofort weggegeben wurde, sofort für die Vermarktung gemacht worden ist. Er ist sicherlich so was wie ein Gesamtkunstwerk auf zwei Beinen.
Hanselmann: Vor allen Dingen seine Selbstinszenierungen haben ihn ja zur Ikone werden lassen – wir haben es erwähnt oder Sie haben es erwähnt, 1972 hat er Ziggy Stardust erfunden, dieses androgyne Wesen, das andere dazu inspiriert hat, eine eigene Identität zu entwickeln, und er hat ja das vorweggenommen, was heute fast selbstverständlich scheint: Sei, wer du bist, lebe deine Sexualität. War er damit wirklich Avantgarde, oder wie ist das zu erklären?
Roth: Ich glaube nicht, dass er Avantgarde war. Das hatten wir auch in den 20er-Jahren, und das ist wahrscheinlich, wenn Sie so wollen, auch ein Kind der Aufklärung. Aber es war in dieser dumpfen Nachkriegszeit sicherlich eine absolute Erleichterung, diesen Satz aussprechen zu dürfen, also diesen Satz zu hören. Ich bin 1955 geboren, wenn ich jetzt so was am Telefon erzähle, dann komme ich mir vor, wie wenn ich so einen Seniorenbericht abgeben würde, aber in dieser dumpfen, bleiernen zeit der 70er- und frühen 80er-Jahre war er schon so was wie ein … Messias ist übertrieben, aber er hat uns schon was gezeigt, was wir bis zu dem Zeitpunkt nicht kannten, und ich muss ehrlich sagen – man hört es an meinem schwäbischen Unterton, wo ich herkomme –, er war mir regelrecht unheimlich in meinem schwäbischen Dorf.
Ich mochte seine Musik, aber ich habe am Anfang nicht viel damit anfangen können, wie er sich gegeben hat. Erst mit der Zeit habe ich das kapiert, was das soll, und es war natürlich dann schon auch ein Vorläufer der Punkbewegung, dieses jeder kann alles machen und jeder darf alles machen. Ich denke schon, dass er uns – oder zumindest mir – viel geholfen hat im Alltag zu sagen, wenn ich anders bin, ist das auch okay. Ich mochte dieses Lied "Changes", das – ich weiß nicht mehr – 1970 oder 71 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Das ist so für mich, jetzt für viele andere auch, so was wie beinahe ein Lebensprogramm geworden, dass man einfach mal Veränderungen akzeptiert, was bis zu dem Zeitpunkt, glaube ich, nicht unbedingt zur Lebensperspektive unserer Eltern in der Nachkriegszeit gehört hat.
Hanselmann: Vielen Dank an Martin Roth, Direktor des VNA, des Victoria and Albert Museums in London. "David Bowie is" läuft noch bis 11. August, aber Sie haben es gehört, der Andrang ist gigantisch, Sie müssen sich rechtzeitig anstellen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Diese Ausstellung zeigt über 300 Ausstellungsstücke, handgeschriebene Liedtexte, Tagebucheinträge, Originalkostüme, Bühnenentwürfe, Videos, Fotos und Instrumente. Bowies Bühnenoutfits und sein Alter Ego, oder seine Alter Egos besser gesagt, aus den rund 50 Jahren seiner Karriere werden im Zusammenhang mit dem Medien, der Mode und der Musik ihrer jeweiligen Zeit in Kontext gesetzt. Diese Ausstellung hat einen überraschenden Titel, nämlich "David Bowie is". Wir sprechen mit dem Direktor des Londoner Victoria and Albert Museums, es ist der deutsche Kulturwissenschaftler Martin Roth. Guten Tag, Herr Roth, nach London!
Martin Roth: Guten Tag, Herr Hanselmann!
Hanselmann: Gehört Ihre Schau wirklich zu einer Bowie-Comeback-Inszenierung, so als flankierende Maßnahme zum neuen Album sozusagen?
Roth: Nein, es ist ganz anders, wir haben die Platte beauftragt, und die … nein, ganz im Ernst, das alles sind eher entweder Zufälle oder er ist tatsächlich durch die Ausstellung drauf aufmerksam geworden, dass da doch ein größeres Interesse gegeben sein könnte, aber das ist alles so ein bisschen wie im Kaffeesatz Lesen, weil wir eine Ausstellung machen, und nicht eine Präsentationsfläche für einen bekannten Star sind. Das heißt, wir haben seit drei Jahren intensiv an dieser Ausstellung gearbeitet.
Freundlicherweise hat sein Archiv alles für uns zugänglich gemacht in New York, das hat die Arbeit extrem erleichtert, und wir alle waren in zwei Punkten extrem überrascht: Die erste Überraschung war letzten September, als wir zum ersten mal in der Öffentlichkeit sagten, dass wir die Ausstellung machen werden. Ich habe noch nie ein solches Echo erlebt, und ich habe wirklich das Glück gehabt, schon an vielen schönen Ausstellungen beteiligt gewesen zu sein. Aber dieses Medieninteresse und auch das persönliche Interesse von vielen war gigantisch, und das Zweite war, als er kurz vor Weihnachten dann seine erste Platte herausgebracht hat und dann das Album angekündigt hat. Und dass das dann auch noch über Berlin ging oder im Berlin-Zusammenhang dargestellt worden ist, war umso interessanter natürlich.
Hanselmann: Wie haben Sie es denn überhaupt geschafft, ihn davon zu überzeugen, seine ganzen Schätze rauszutun?
Roth: Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass man da überhaupt irgendjemand überzeugen musste. Da war schon eine große Bereitschaft da gewesen, und das erlebe ich nicht nur bei ihm derzeit, sondern auch bei anderen. Wir haben vor anderthalb Jahren eine kleine, sehr, sehr schöne Ausstellung mit Annie Lennox gehabt, und auch Annie Lennox war sofort bereit, das zu öffnen. Das sind – ich weiß nicht, ob das mit der Herkunft von vielen zu tun hat, aber das sind viele berühmte Persönlichkeiten darunter, die wirklich alles aufgehoben haben in ihrem Leben, und so auch David Bowie, der seine ersten Liedtexte, tatsächlich noch in seinem Archiv hat, die er als 15-, 16-Jähriger aufgeschrieben hat.
Hanselmann: Super! Wie haben Ihre Kuratoren denn ausgewählt, nach welchen Kriterien wurde die Ausstellung dann letztlich zusammengestellt?
Roth: Also erstens mal, die Ausstellung muss man wirklich sehen und hören – alles, was man hier in einem Telefoninterview wiedergibt, ist nur harmlos. Wir haben sehr viel aus dem Bereich der Mode, wir haben sehr viel aus dem Bereich des Designs, des Stils, also Style generell spielt eine große Rolle, aber natürlich auch der Kunst, Zitate, die er aus seiner Kunst immer wieder entliehen hat, und natürlich das, was unser großes Theater- und Performance-Department hergibt. Und wir haben das Glück gehabt, dass wir mit Sennheiser eine Firma hatten, die sich auf die akustische Präsentation eingelassen hat und was gemacht hat, was man hier in England bespoke nennen würde, also sozusagen ein Extraprogramm entwickelt hat nur für die Musik. Das heißt, wenn Sie dort in die Ausstellung gehen, haben Sie auch das Gefühl, sie gehen durch Konzerte, und das ist schon beeindruckend.
Hanselmann: Sie haben eben gesagt, Sie geben auch einen Einblick in Bowies Tagebücher, die zeigen, wie Bowie seine Ideen entwickelt hat. Haben Sie vielleicht ein, zwei Beispiele?
Roth: Nein, was wir zeigen vor allen Dingen, sind erste Scribbles, erste Ideen und auch ganz frühe Filmaufnahmen, die er gemacht hat. Man sieht wirklich frühe Versuche, wo er auch damals schon sehr intensiv mit seinem Körper arbeitet, seinen Körper einsetzt, mit seinem Körper spielt, mit seinem Aussehen spielt. Sein Körper war immer eine gewissen Präsentationsfläche.
Hanselmann: David Bowie lebt heute in New York, ist aber in London aufgewachsen und dort auch berühmt geworden. Welche Bedeutung hat David Bowie aus Ihrer Sicht heute noch für London? Die Beatles sind ja nun für jeden Touristen allgegenwärtig – wie ist das mit ihm?
Roth: Ich glaube nicht, dass es um London geht. Also dieser immense Andrang, den wir heute schon haben von Ihren Kollegen – die Ausstellung ist komplett überfüllt heute Morgen mit Journalisten, die aus der ganzen Welt hier angereist sind. Ich glaube eher, dass er – und da gibt es dann doch eine Verbindung zu London, pardon … also London ist meines Erachtens tatsächlich momentan so die einzige Stadt, die die Welt abbildet, im Positiven, wie durchaus auch im Negativen.
Und Bowie ist ein Künstler, der das ebenfalls repräsentiert. Dazu kommt noch, dass aufgrund der Tatsache, dass man ihn nie richtig fassen konnte, dass er immer einen Stil gepflegt hat und dann plötzlich wieder was ganz anderes gemacht hat, dass er nie richtig in der Öffentlichkeit sich gezeigt hat, und dann doch plötzlich wieder auftrat. Es gab Gerüchte um ihn in den letzten paar Monaten, die waren unbeschreiblich: dass er krank sei, dass er entstellt sei, dass … was weiß ich, was alles! Und plötzlich kommt er in diesem Video mit Tilda Swinton und sieht besser aus denn je.
Ich glaube, es gibt in uns allen sozusagen ganz viele kleine Bowies, die immer wieder das auf ihn projizieren, was wir gerne von ihm erwarten würden, oder was wir von der Musik, von der Kultur erwarten, und da ist er genial drin, dieses Spiel mit Öffentlichkeit und nicht Öffentlichkeit, das kann kaum einer so gut wie er. Und das merkt man natürlich auch an diesem gigantischen Interesse. Also wirklich, das ist jetzt nicht, um jetzt noch mal das Superlativ hier reinzubringen, aber wir haben bis gestern Abend 50.000 Tickets im Vorfeld verkauft, das gab es noch nie bei irgendeiner Ausstellung.
Hanselmann: All die beschriebenen Ideen Bowies, die haben ja nicht nur den Zeitgeist widergespiegelt, sondern auch Maler, Künstler, Modemacher und so weiter beeinflusst. Was würden Sie sagen, wie nachhaltig – denn die 70er und 80er waren ja eigentlich seine große Zeit?
Roth: Ja, die Frage ist wirklich berechtigt, und wenn Sie durch die Ausstellung gehen erst recht. Also vieles von dem, was sie da sehen, haben Sie den Eindruck – und wir haben eine sehr junges Publikum hier –, das ist schon, das sind solche Stilikonen, die sich durchgezogen haben. Also Ziggy Stardust oder Yamamoto und so, das sind Objekte, die wir alle kennen. Das andere ist die Musik, die weiterlebt in vielen anderen Liedern. Ich hatte kürzlich das nette Erlebnis hier, dass ich eine Schulklasse begrüßt habe, die hier einen Tag lang im Museum uns besucht hat und auch eine eigene kleine Ausstellung gemacht hat.
Und einer davon arbeitet über David Bowie, und ich war ganz begeistert und fragte den jungen Mann, der ursprünglich aus Indien kam, woher er denn David Bowie kennen würde. Und er sagte, er kennt ihn eigentlich nicht, sondern er wisse nur, dass er Lady Gaga sehr beeinflusst hätte. Also dieses, er als sozusagen ein Rohmodell für viele andere, das spielt bis heute eine große Rolle, also ich glaube, man hat ihn extrem oft kopiert. Was ihn halt anders macht, ist das, dass er sicherlich auch kommerziell gedacht hat, aber das waren Zeiten, in denen nicht alles sofort quasi dem Verkauf anheimgestellt wurde, sofort weggegeben wurde, sofort für die Vermarktung gemacht worden ist. Er ist sicherlich so was wie ein Gesamtkunstwerk auf zwei Beinen.
Hanselmann: Vor allen Dingen seine Selbstinszenierungen haben ihn ja zur Ikone werden lassen – wir haben es erwähnt oder Sie haben es erwähnt, 1972 hat er Ziggy Stardust erfunden, dieses androgyne Wesen, das andere dazu inspiriert hat, eine eigene Identität zu entwickeln, und er hat ja das vorweggenommen, was heute fast selbstverständlich scheint: Sei, wer du bist, lebe deine Sexualität. War er damit wirklich Avantgarde, oder wie ist das zu erklären?
Roth: Ich glaube nicht, dass er Avantgarde war. Das hatten wir auch in den 20er-Jahren, und das ist wahrscheinlich, wenn Sie so wollen, auch ein Kind der Aufklärung. Aber es war in dieser dumpfen Nachkriegszeit sicherlich eine absolute Erleichterung, diesen Satz aussprechen zu dürfen, also diesen Satz zu hören. Ich bin 1955 geboren, wenn ich jetzt so was am Telefon erzähle, dann komme ich mir vor, wie wenn ich so einen Seniorenbericht abgeben würde, aber in dieser dumpfen, bleiernen zeit der 70er- und frühen 80er-Jahre war er schon so was wie ein … Messias ist übertrieben, aber er hat uns schon was gezeigt, was wir bis zu dem Zeitpunkt nicht kannten, und ich muss ehrlich sagen – man hört es an meinem schwäbischen Unterton, wo ich herkomme –, er war mir regelrecht unheimlich in meinem schwäbischen Dorf.
Ich mochte seine Musik, aber ich habe am Anfang nicht viel damit anfangen können, wie er sich gegeben hat. Erst mit der Zeit habe ich das kapiert, was das soll, und es war natürlich dann schon auch ein Vorläufer der Punkbewegung, dieses jeder kann alles machen und jeder darf alles machen. Ich denke schon, dass er uns – oder zumindest mir – viel geholfen hat im Alltag zu sagen, wenn ich anders bin, ist das auch okay. Ich mochte dieses Lied "Changes", das – ich weiß nicht mehr – 1970 oder 71 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Das ist so für mich, jetzt für viele andere auch, so was wie beinahe ein Lebensprogramm geworden, dass man einfach mal Veränderungen akzeptiert, was bis zu dem Zeitpunkt, glaube ich, nicht unbedingt zur Lebensperspektive unserer Eltern in der Nachkriegszeit gehört hat.
Hanselmann: Vielen Dank an Martin Roth, Direktor des VNA, des Victoria and Albert Museums in London. "David Bowie is" läuft noch bis 11. August, aber Sie haben es gehört, der Andrang ist gigantisch, Sie müssen sich rechtzeitig anstellen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.