Ein Gestrüpp bizarrer Einfälle
Auch in seinem neuen Roman finden sich die großen Walser-Themen: Lüge und Wahrheit, Verbergen und Entblößen, Glauben und Wissen. Das Ergebnis ist ein abgründiges und kraftvolles Lebens-, Liebes- und Glaubensbuch.
Martin Walser spricht in Bezug auf seine Romane gerne von Tonarten, in denen bestimmte Stimmungen spürbar werden. "Muttersohn" wäre dann wohl seine 10. Symphonie in zerrissenem Cis-Moll mit einer Tendenz zum lichten D-Dur, ein Werk voll mitreißender Melodien und bewegender Motive. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Musik, genauer: Chormusik, noch genauer: Gesang als reinste Ausdruckskraft und Wirkungsmächtigkeit, in diesem Roman eine zentrale Rolle spielt. Das gab es zuvor in Walsers Werk trotz seiner Affinität zur Musik noch nicht. Eine andere Leerstelle, die er in "Muttersohn" ausschreibt, ist der Glaube. Glaube nicht als kirchlicher Imperativ, sondern als ein Talent, das man entwickelt, wie das der Musikalität.
Aus vier Kapiteln oder Sätzen oder Evangelien ist der Roman aufgebaut. Zunächst geht es um Percy Anton Schlugen, dessen Mutter behauptet, zu seiner Zeugung sei kein Mann nötig gewesen. Er ist die messianische Hauptfigur: Ein Vatersucher wie Jesus, einer, dessen Existenz das Wunder voraussetzt und der seine Gläubigkeit an dieser Mitteilung erprobt. Nach zweijähriger Abwesenheit kehrt er, der wie ein Wanderprediger durchs Land zieht, in die psychiatrische Landesklinik Scherblingen in der Bodenseeregion zurück. Die Patienten erwarten ihn sehnlich, denn Percy, ausgebildeter Pfleger, ist kein Arzt, sondern einer, der ihnen zuhört und sie ganz einfach ernst nimmt. Das ist schon fast seine ganze Methode.
Percys schwierigster Patient ist Ewald Kainz, ein Mann, der schweigend und schwer vernarbt auf dem Bett liegt, nachdem er versucht hat, sich auf der Couch einer Analytikerin zu verbrennen. Wenn Zuhören wie in diesem Fall nicht hilft, erzählt Percy selbst. Seine Reden gehorchen ganz dem Augenblick und gehen nahtlos in Texte von Augustinus, Seuse oder Jakob Böhme über. Glauben statt Wissen, Zustimmung statt Kritik – das sind Tendenzen, die bei Walser schon seit einigen Jahren stark geworden sind. Jetzt ist daraus das Hohelied der Zustimmungskunst geworden. Dass er sein Glaubensexperiment in der Psychiatrie ansiedelt, die wiederum in einem alten Klostergebäude steckt, ist seine Probe aufs Exempel. Jeder Glaube ist ein Wahn.
Die ersten drei Kapitel mit der Geschichte Percys und seiner Mutter, mit der Geschichte von Ewald Kainz (der in seiner Zerrissenheit zwischen der geliebten Frau und einer unverzichtbaren Geliebten keinen Ausweg sieht, wie schon so viele Walser-Helden vor ihm) und der Novelle "Mein Jenseits" (die bereits im Vorjahr als Auskopplung publiziert wurden und die das Thema von Glaube, Liebe, Hoffnung als heiteren Walzer variiert), könnten jeweils für sich stehen, bevor Walser im vierten Teil versucht, alle Motive in einer großen Reprise zusammenzuführen. Dieser Schluss ist rasender Untergang und Erlösungsvision zugleich. Da wird gestorben, und zwar gleich reihenweise, wie es in Walser-Romanen sonst nicht üblich ist. Aber es entsteht auch eine "Akademie für Unvollendete", ein Ort der Erlösung durch Musik.
Es ist unmöglich, das Gestrüpp von bizarren Einfällen und Erzählsträngen ganz zu entwirren. Doch es kommt auch gar nicht so sehr auf die Handlung und schon gar nicht auf Stringenz an, als auf einzelne, leuchtende Sätze und auf die großen Walser-Themen: Lüge und Wahrheit, Verbergen und Entblößen, Zustimmung und Kritik, Glaube und Wissen, Liebe und Vergeblichkeit.
Es geht nicht um Form, sondern um Haltung. Nicht um Logik oder gar Realismus, sondern darum, das Dargestellte zusammen mit dem Autor für möglich halten zu wollen. An "Muttersohn" beeindruckt die Rücksichtslosigkeit gegenüber Konventionen, mit der Walser seinen Ausdrucksnotwendigkeiten nachgeht. Walser weitet den Roman bei Bedarf zum Drama und endet mit einem wunderschönen Gedicht, das Percy zuzuschreiben ist: "Die Gräser singen im Chor, sobald ich erscheine, weil ich der Fürst der Freundlichkeit bin." "Muttersohn" ist – was für ein Segen! – keine lauwarme Konfektionsware der Literatursaison, sondern ein abgründiges, kraftvolles, widerspenstiges Lebens-, Liebes- und Glaubensbuch. Eine Bibel zu schreiben – das fehlte ja noch.
Besprochen von Jörg Magenau
Martin Walser: Muttersohn
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011
506 Seiten, 24,95 Euro
Aus vier Kapiteln oder Sätzen oder Evangelien ist der Roman aufgebaut. Zunächst geht es um Percy Anton Schlugen, dessen Mutter behauptet, zu seiner Zeugung sei kein Mann nötig gewesen. Er ist die messianische Hauptfigur: Ein Vatersucher wie Jesus, einer, dessen Existenz das Wunder voraussetzt und der seine Gläubigkeit an dieser Mitteilung erprobt. Nach zweijähriger Abwesenheit kehrt er, der wie ein Wanderprediger durchs Land zieht, in die psychiatrische Landesklinik Scherblingen in der Bodenseeregion zurück. Die Patienten erwarten ihn sehnlich, denn Percy, ausgebildeter Pfleger, ist kein Arzt, sondern einer, der ihnen zuhört und sie ganz einfach ernst nimmt. Das ist schon fast seine ganze Methode.
Percys schwierigster Patient ist Ewald Kainz, ein Mann, der schweigend und schwer vernarbt auf dem Bett liegt, nachdem er versucht hat, sich auf der Couch einer Analytikerin zu verbrennen. Wenn Zuhören wie in diesem Fall nicht hilft, erzählt Percy selbst. Seine Reden gehorchen ganz dem Augenblick und gehen nahtlos in Texte von Augustinus, Seuse oder Jakob Böhme über. Glauben statt Wissen, Zustimmung statt Kritik – das sind Tendenzen, die bei Walser schon seit einigen Jahren stark geworden sind. Jetzt ist daraus das Hohelied der Zustimmungskunst geworden. Dass er sein Glaubensexperiment in der Psychiatrie ansiedelt, die wiederum in einem alten Klostergebäude steckt, ist seine Probe aufs Exempel. Jeder Glaube ist ein Wahn.
Die ersten drei Kapitel mit der Geschichte Percys und seiner Mutter, mit der Geschichte von Ewald Kainz (der in seiner Zerrissenheit zwischen der geliebten Frau und einer unverzichtbaren Geliebten keinen Ausweg sieht, wie schon so viele Walser-Helden vor ihm) und der Novelle "Mein Jenseits" (die bereits im Vorjahr als Auskopplung publiziert wurden und die das Thema von Glaube, Liebe, Hoffnung als heiteren Walzer variiert), könnten jeweils für sich stehen, bevor Walser im vierten Teil versucht, alle Motive in einer großen Reprise zusammenzuführen. Dieser Schluss ist rasender Untergang und Erlösungsvision zugleich. Da wird gestorben, und zwar gleich reihenweise, wie es in Walser-Romanen sonst nicht üblich ist. Aber es entsteht auch eine "Akademie für Unvollendete", ein Ort der Erlösung durch Musik.
Es ist unmöglich, das Gestrüpp von bizarren Einfällen und Erzählsträngen ganz zu entwirren. Doch es kommt auch gar nicht so sehr auf die Handlung und schon gar nicht auf Stringenz an, als auf einzelne, leuchtende Sätze und auf die großen Walser-Themen: Lüge und Wahrheit, Verbergen und Entblößen, Zustimmung und Kritik, Glaube und Wissen, Liebe und Vergeblichkeit.
Es geht nicht um Form, sondern um Haltung. Nicht um Logik oder gar Realismus, sondern darum, das Dargestellte zusammen mit dem Autor für möglich halten zu wollen. An "Muttersohn" beeindruckt die Rücksichtslosigkeit gegenüber Konventionen, mit der Walser seinen Ausdrucksnotwendigkeiten nachgeht. Walser weitet den Roman bei Bedarf zum Drama und endet mit einem wunderschönen Gedicht, das Percy zuzuschreiben ist: "Die Gräser singen im Chor, sobald ich erscheine, weil ich der Fürst der Freundlichkeit bin." "Muttersohn" ist – was für ein Segen! – keine lauwarme Konfektionsware der Literatursaison, sondern ein abgründiges, kraftvolles, widerspenstiges Lebens-, Liebes- und Glaubensbuch. Eine Bibel zu schreiben – das fehlte ja noch.
Besprochen von Jörg Magenau
Martin Walser: Muttersohn
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011
506 Seiten, 24,95 Euro