Ein Gläubiger zwischen Tradition und Moderne

Von Bernd Sobolla |
Der Film "Takva - Gottesfurcht" wurde in der Türkei zu einem Riesenerfolg und handelt von Muharrem. Er ist ein Antiheld, ein Gutmütiger, einer, der wenig Bildung und noch weniger feine Kleidung besitzt, der aber bereit ist, alles in seinen Kräften Stehende so zu tun, wie Gott es ihm aufgetragen hat. "Takva" wurde von dem deutsch-türkischen Filmemacher Fatih Akin produziert und erscheint nun als DVD.
Ein Moschee in Istanbul, in der sich Gläubige zum Freitagsgebet versammelt haben. Wobei diese einem nicht näher definierten islamischen Orden angehören, einem traditionellen Kloster, in dem das Wort des Propheten nicht nur auswendig gelernt wird, sondern deren Mitglieder auch versuchen, in der Modernen Welt danach zu leben. Unter ihnen ist Muharrem. Der etwa 50-Jährige lebt in Demut und Gottesfurcht. Ein Hilfsarbeiter von einfachem Gemüt, der Säcke wiegt, bindet, ausliefert und seinem Chef den Tee serviert. Er wohnt allein in der Wohnung seiner verstorbenen Eltern und bewegt sich ausschließlich in seinem kleinen alten Stadtviertel. Das moderne Großstadtleben existiert für ihn nicht. Ein Gläubiger zwischen Tradition und Moderne, das hatte für Produzent Fatih Akin besondere Brisanz.

Akin: "Ich glaube, dass das Thema Religion und Religion im Staat sowieso ein Thema ist, was in der Türke noch mal einen ganz anderen Stellenwert hat als hier. In der Türkei ist dieser Dualismus noch viel präsenter, viel stärker. Das Osmanische Reich war ja 500 Jahre oder länger eine Monarchie. Und Atatürk hat das dann 1923 radikal verändert. Er hat dann Staat und Religion getrennt. Und seit dem gibt es diese Kluft, dieses Dilemma in der Türkei: Wie religiös darf die Politik sein?"

Oder im Umkehrschluss: Wie säkular darf das religiöse Leben sein? Diese Frage jedenfalls stellt sich bald für Muharrem. Denn der geistige Führer der Gemeinde wählt ausgerechnet ihn, die Ordensgeschäfte zu übernehmen. Eine Entscheidung, die auch die rechte Hand des Scheichs für gewagt hält. Zumal Muharrem nicht durch geistigen Scharfsinn glänzt. Doch der Meister sieht das anders.

"Muharrem kommt seit seiner Jugend zu uns ins Kloster. Er ist fromm. Er ist gutherzig. Nur versteht er unsere Lehre nicht. Aber Gott erschuf die Menschen verschieden. Jedes Geschöpf ist zu etwas nütze. Du zu etwas anderem als er. Er hat ein gutes Herz. Weltliche Geschäfte erfordern ein gutes Herz, keinen wachen Verstand. In einem wachen Verstand nistet sich leicht der Teufel ein. Du sollst Muharrem zur Seite stehen. Dein Verstand reicht für zwei."

Fortan muss Muharrem Mieten eintreiben, Rechnungen überweisen, Reparaturen in Auftrag geben. Die Aufgabe führt ihn plötzlich auch in die Geschäftswelt des modernen Istanbuls. Dazu ändert die Bruderschaft Muharrems Äußeres, schließlich repräsentiert er das Ansehen des Ordens: Er bekommt Handy, Uhr und edle Anzüge. Ja, sogar ein Auto mit Chauffeur. Dazu der Drehbuchautor und Co-Produzent Öndar Cakar:

"Und wenn du an eine Ideologie glaubst, die Ignoranz oder ein schlichtes Gemüt als Tugend ansieht, dann kommst du nicht sehr weit. Und Muharret lebt in einer Welt, die ganz klare Definitionen von Gut und Schlecht hat. Und die versucht er nun anzuwenden in der Welt, in der er lebt."

Den Hochglanz der Kaufhäuser und die leicht bekleideten Frauen nimmt er äußerlich gelassen auf. Aber sie verfolgen ihn bis in seine Träume. Außerdem plagen ihn Gewissensbisse: In der Bank muss er nicht mehr anstehen, zieht sich aber den Unmut der anderen Kunden zu. Dann kündigt Muharrem Mieter, die zwar regelmäßig dem Kloster die Miete zahlen, aber Alkohol trinken. Andererseits verzichtet er bei einer Familie auf die Miete, da sie mittellos, krank und arbeitslos ist. Doch der Orden braucht das Geld. Denn damit werden Menschen ernährt, unterrichtet und neue Stifte gegründet. Das Geld zu mehren, so lehrt ihn der Scheich, sei seine Aufgabe.

"Seit Adam und Eva gibt es arme und reiche Menschen. Aber heutzutage sind viele Menschen arm, die es nicht verdienen. Hunger und Armut sind eine Plage. Unsere Religion nimmt sich der Armen an. Dein erleuchtetes Herz spürt das. Das halte ich dir zugute. Wenn wir ihre Miete nicht brauchen, nimm sie nicht. Aber wenn wir einen Schüler wegschicken müssen, weil das Geld fehlt, dann such du ihn aus! Diese Sünde nehme ich nicht auf mich."

Takva gibt einen hoch interessanten Einblick in die Strukturen einer islamischen Bruderschaft und analysiert zugleich das Spannungsverhältnis von Religion und säkularer Welt, zeigt wie die Laster der westlichen Welt in Kauf genommen werden, sofern eigene Vorteile damit verbunden sind. Aber ohne dabei anzuklagen. Ein Drama, aber eines mit vielen subtilen komischen Momenten. Ein aufrüttelnder Film über das Aufeinanderprallen von fanatischem Glauben und westlicher Lebensweise im Islam. Und, ganz allgemein, über die Angst den Anforderungen des Lebens nicht zu genügen. Und wer will, kann auch schlussfolgern, dass das höchste Ziel religiöser Bildung nicht das Festhalten an Regeln sein kann, sondern das eigene Unterscheidungsvermögen zu schärfen: Das zu erkennen, was möglich ist und das, was wünschenswert wäre. Und sich selbst dazwischen zu positionieren. Gedreht wurde zum Teil mit versteckten Kameras an Originalschauplätzen wie der Fatih Moschee, wo die tranceartigen Gebetsrituale, die sonst äußerst selten zu sehen sind, beeindruckend festgehalten wurden.