"Ein glanzvoller, kulturrevolutionärer Sieg"

Dieter Bott im Gespräch mit Dieter Kassel |
Soziologe Dieter Bott, Beatles-Fan der ersten Stunde, freut sich noch heute, "dass wir die Friseure besiegt haben." Er trug - inspiriert von Bert Brecht - einen Pilzkopf ohne den "elenden Scheitel" der Spießer, bevor er die Band selbst überhaupt kannte.
Dieter Kassel: Es war der 17. August 1960, es war in Hamburg, es war in einem Club namens Indra, dort ist es passiert: An einem Abend, an dem die meisten Besucher im Club gar nicht ahnten, dass sie einem historischen Ereignis beiwohnten. Aber genau das haben sie getan, muss man ein halbes Jahrhundert später feststellen, denn an diesem Abend in Hamburg St. Pauli traten die Beatles – damals noch zu fünft und nicht so komplett – mit der Musik, für die sie später berühmt werden sollten, traten die Beatles unter auch diesem Namen das allererste mal auf.

Wir nehmen das heute zum Anlass, um natürlich viel Musik dieser Band zu spielen, aber auch mit Menschen zu reden, deren Leben die Beatles begleitet und durchaus auch beeinflusst haben. Einer davon ist Dieter Bott, er ist heute Soziologe in Düsseldorf, war damals ein junger Mann in Frankfurt und wäre vielleicht ganz anders geworden, hätte es John Lennon, Paul McCartney und Co. nie gegeben. Schönen guten Tag, Herr Bott!

Dieter Bott: Ja, guten Tag!

Kassel: Was haben Sie eigentlich damals für Musik gehört, bevor Sie die Beatles und andere Beatbands kennengelernt haben?

Bott: Ja, ein berühmter Kollege von Ihnen, Mister Pumpernickel, Chris Howland, bediente NDR, WDR, die Hitparade. Und da schlich ich mich nachts ans Radio, und ganz leise hörte ich dann die Top Ten sozusagen. Und da war ich schon instinktiv abonniert auf so Gruppen wie Four Seasons mit hohen Stimmen, Everly Brothers' "Cathy's Clown", hohe Stimmen – also ich hatte schon so ein Gefühl für Unmännlichkeit, die dann später in den Beatles realisiert wurde mit ihren langen Haaren.

Kassel: Die Beatles waren also aus Ihrer Sicht unmännlich?

Bott: Nicht aus meiner nur, da konnte man ja, wenn man da hinter denen herging, gar nicht mehr erkennen, ist das ein Junge oder ein Mädchen, wenn sie noch Jeans getragen haben. Also Sie können sich nicht vorstellen, wie damals der Zeitgeist vor diesen, wie es dann heute heißt, harmlosen Jungs. Von wegen harmlose Jungs: Lange Haare, das war eine Provokation ohne Ende, denn der elende Scheitel war besiegt.

Stellen Sie sich vor, gucken Sie sich die Politiker an, die immer noch Scheitel tragen aus meiner Generation: Joschka Fischer, Herr Schröder, alle Angepassten haben dieses Wundmal, was uns Kindern geschlagen wurde. Wissen Sie, wie das Kopfkissen auf dem Spießersofa mit der Handkante mitten rein, so wurde uns der Scheitel reingejagt in den Kopf.

Und nun kamen unsere strubbeligen langen Haare, die das endlich besiegten, den Scheitel – bei mir in der Übergangsphase. Ich sah Bilder vom jungen Bert Brecht, der sprach mich an, der hatte so Fransen ins Gesicht. Und als ich 1964 mit meinem Freund Volkhard Mosler in London war – und er hatte eine Freundin da und wir haben die besucht –, da rannte ein kleines Mädchen auf uns zu und fragte auf mich deutend irgendwas, und die lachte. Und ich dachte: "Was hat die gewollt?" Die wollte wissen, ob ich einer von den Beatles bin. Da sage ich: Wer sind denn die Beatles? Und da sagt die Jenny: Au, ich dreh heute Abend mal das Radio laut. Sie können sich vorstellen, dass ich ein besonderes Verhältnis zu den Beatles entwickelt habe.

Kassel: Sind Sie denn dann, Sie sahen ja offenbar aus wie einer, als Sie die noch gar nicht kannten, sind Sie denn dann, nachdem Sie die wirklich kennengelernt haben, denen noch ähnlicher geworden, vielleicht auch was die Haare angeht ein bisschen weniger Brecht, ein bisschen mehr Lennon?

Bott: Das war … die Brecht-Fransen wurden einfach ein bisschen länger, und wenn Sie die Pilzköpfe sich angucken, die hatten ja gar keine langen Haare. Das wurde nur vom Spießer so wahrgenommen. Der zwang uns ja die Kochtopffrisur auf. Dass wir die Friseure besiegt haben, dass wir dann nur von unseren Freundinnen haben die Haare schneiden lassen, das ist ein glanzvoller, kulturrevolutionärer Sieg, den wir auch – und jetzt kommt es – gegen Elvis davongetragen haben. Gucken Sie sich den mal an, den dicken, fetten oder auch den dünnen Elvis, mit seinem angeklatschten, Brisk haben unsere Eltern getragen, wie so eine Schmiere in die Haare, die haben sie sich angepappt.

Und dieser Elvis mit seiner Tolle, der ging natürlich zum Militär wie alle Angepassten. Also die angepasste Linie geht über Elvis, und die nicht angepasste politische Linie – besonders John Lennon markierte: kein Krieg mehr, keine Kochtopffrisuren mehr, Selbstbestimmung für die Haare und die Kleidung, "Peace for all" und so weiter, keine Volksmusik, keine Blasmusik, keine Deutschtümelei.

Kassel: Was Sie jetzt aber zum Beispiel, Herr Bott, über John Lennon gesagt haben, über dieses sich Einsetzen für den Frieden, Politischwerden, kam aber doch ein bisschen später, also zum Beispiel dieses Bed-in zusammen mit Yoko Ono in Amsterdam, das war 1969, auch die Reise nach Indien. Haben Sie denn die Beatles von Anfang an, also von Anfang für Sie, von dem Moment an, wo Sie sie kannten, 64/65, von Anfang an als politisch empfunden?

Bott: Es war ja, dass wir selber politisch waren. Also wir zweifelten, hatten die ersten Fragen und waren natürlich auch überhaupt nicht bereit, unsere jungen Körper in die stramme Bundeswehr einzubringen, also das war schon mal klar. Und so ähnliche Elemente spielten sich, also nicht weltweit unbedingt, aber auch in England bei John Lennon ab, dieser Affekt gegen alles militärisch Zackige, gegen diese herkömmliche Art von Musik, gegen die sonntags gebügelte Hose, alles das, dieses aufgezwungene Kleinbürgertum – das war überall präsent, also überall gab es da kleine John Lennons.

Und da ich leider vom Elternhaus keine Musiktradition habe, konnte ich das nicht mit der Band machen, das hätte ich unbedingt gerne gemacht. Aber gegen die Atomwaffen zu demonstrieren, gegen das Militärische, gegen die Gesetze, gegen Notstandsgesetze, das lief ja alles parallel – um es zusammenzufassen: gegen das Establishment. Und den John Lennon und seine Beatles fanden wir ganz genauso.

Kassel: Auch wenn Ihnen, wie Sie gerade gesagt haben, Ihre Eltern musikalisch nicht viel mitgegeben haben, was haben die denn – damals waren Sie schon volljährig, als Sie Ihre Liebe zu Beatles richtig entdeckt haben, aber trotzdem –, was haben denn Ihre Eltern dazu gesagt, dass Sie plötzlich dafür so sehr schwärmten und sich auch noch die Haare so relativ lang haben wachsen lassen?

Bott: Bei meiner Freundin heute, da war es interessant: Die Mutter hat nicht zugelassen, dass sie eine Beatles-Platte auf Englisch sich kaufte, die musste diese deutsche Fassung sich kaufen, es gab diesen Kult gegen alles Englische. Also die hatten kein Problem damit, dass ich da englisch die Beatles verehrte.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute an dem Tag, an dem die Beatles den 50. Geburtstag feiern oder feiern könnten, wenn es sie denn noch gäbe, mit Dieter Bott, der damals einer der ersten großen Fans war. Wie lang hat das denn angehalten, Herr Bott, was war denn 1970, als Paul McCartney gesagt hat, es gibt keine Beatles mehr? Hat Sie das beeindruckt?

Bott: Es gab ja schon 68 einen großen Fehler, den ich gemacht habe, der mir nachgesagt wird. Unser altes Gymnasium, wo der Direktor die Schülerzeitungen zensierte, da haben wir in Homberg (Efze), Nordhessen, ausgeholfen, und da stand am nächsten Morgen an der Schule sozusagen als Rachefeldzug, so ein alter, schlimmer Kasten, mit dem Ungeist und der Angst der alten Gymnasien verknüpft, John-Lennon-Schule stand da dick drauf. Also diesen kostbaren Namen, das konnte gar keine Aktion von mir gewesen sein, diesen kostbaren Namen hätten wir nie an diese Kiste da verschwendet, die da als Gymnasium in der Provinz die Schüler einschüchterte. Also den Fehler wollte ich auch noch mal einbekennen, weil er mir ja immer wieder nachgesagt wird.

Kassel: Das heißt, wir halten jetzt mal fest: Sie waren nicht der Mensch, der diese Schule umbenennen wollte in John-Lennon-Schule?

Bott: Dafür heben wir uns ein paradiesisches Schloss auf, was wir eines Tages danach benennen werden – wir Beatles-Fans.

Kassel: Gut, aber trotzdem zurück zum Frühjahr 1970, als man endlich anfangen musste zu glauben, es ist nicht nur fast vorbei und für eine Weile vorbei, es ist endgültig vorbei mit den Beatles. Ging da auch für Sie persönlich eine Epoche zu Ende?

Bott: Nein, ich hatte Schwierigkeiten mit den Doors, die erschienen mir – ich bin mehr so ein Schattenparker, Frauenversteher, wissen Sie, so jemand. Die Doors schienen mir eine Spur zu hart. Heute finde ich die überhaupt nicht eine Spur zu hart. Also mit den Gruppen, die danach kamen, bis Hendrix gingen wir mit. Dass die Beatles dann ausfielen – sie hatten alles gegeben, was sie konnten –, das war traurig, und keineswegs war Yoko Ono schuld, das ist doch billiger Kram, die verantwortlich zu machen.

Kassel: Wann hat es denn aber bei Ihnen aufgehört? Sie haben auch schon erzählt, Sie haben ja dann zuerst eigentlich eher von Brecht inspiriert diese Haare gehabt, dann sind Sie ein bisschen eher in Richtung Beatles gegangen, als Sie die kennenlernten, wann war denn frisurentechnisch und auch in anderen Aspekten das plötzlich nicht mehr das Vorbild? Ich nehme einfach mal an, heute sehen Sie nicht mehr aus wie John Lennon.

Bott: Ja, man hat die Haare halt kürzer, ist klar. Aber wenn ich zum Beispiel "A Day in the Life" von John Lennon, das habe ich mal umgedichtet viel später, als ich in einer Krise war, als Vorlage, seinen wunderbaren Song, wie er da die Tageszeitung holt und tausend Löcher in Lancashire liest und seine Montagetechnik, seine Verspieltheit, das Kindliche, was die Stones überhaupt gar nicht in der Weise haben. Also das Kreative, das Lustige, das unendlich Positive – jetzt muss ich das mal sagen als Adorno-Schüler –, aber das unendlich Positive …

Und zu Adorno nur noch eine kleine Geschichte: Ein Mädchen aus unseren Reihen fragte ihn: Herr Professor, Sie haben einen Aufsatz gegen Jazz geschrieben, dürfen wir denn auf die Beatles tanzen? Da kriegt der Adorno beinahe einen roten Kopf und sagt: Selbstverständlich dürfen Sie auf die Beatles tanzen. Als er seinen Aufsatz gegen Jazz geschrieben hat, hat er ja gemeint die Überschätzung des Jazz als Musik der Freiheit.

Kassel: Wenn Sie jetzt im August 2010 noch mal zurückblicken zu dieser Zeit. Nehmen wir mal an, es wäre nicht passiert, Elvis Presley wäre allein geblieben, die Beatles wären nicht gekommen, die Stones vielleicht auch nicht, wäre Ihr Leben dann anders verlaufen?

Bott: Unser Leben war ziemlich selbstständig und wir sahen Übereinstimmungen mit den Beatles, wenn man so will, ja, also sozusagen unser Leben hat sich hier entwickelt im Widerstand. Die meisten meiner Generation sind dann übergegangen ins Establishment, sieht man auch ihren Gesichtern heute an. Nein, also nichts hätte sich geändert, und der Widerstand, das Anti und das Gegen, das muss aufrechterhalten werden. Und ich glaube auch, dass dann später Patti Smith zum Beispiel oder Musik, die dann später kam, das heute auch noch ganz gut ausdrückt. Es gibt eine Generation auch von jungen Leuten, auch musikalisch, die sich nicht mit dieser Gesellschaft versöhnen wollen, auch wenn die meisten meiner Generation sich es drin gut gehen lassen.

Kassel: Was halten Sie denn von Leuten, die, was weiß ich, im letzten Jahr die remasterten Beatles-CDs gekauft haben oder die auch aus altem Plattenbestand das heute hören und die eigentlich doch der Typus sind – ich finde, davon gibt es eine Menge –, die damals in den 60ern wahrscheinlich auch Leute mit langen Haaren zum Friseur geschickt hätten und sonst was gemacht. Heute würden doch die Beatles, Sie haben ja selber gesagt, Sachen, die man – Sie haben ja über die Doors da gesprochen – Sachen, die man früher hart fand, kommen einem heute teilweise ganz schön soft vor, heute werden doch die Beatles gern auch von Leuten gehört, die wahrscheinlich nicht mit jedem Ihrer Gedanken, Herr Bott, übereinstimmen?

Bott: Dann gönnen wir ihnen doch das Vergnügen. Wenn das ein Missverständnis ist, ist das ein sehr schönes Missverständnis.
Elvis Presley war für die DDR-Führung ein Ausdruck "westlicher Unkultur".
Elvis Presley war angepasst, frisurtechnisch und politisch, meint Bott.© AP
Mehr zum Thema