Ein Gott wartet auf den Untergang

Der Wächtergott Heimdall sitzt auf dem Dach von Walhall, Wohnstätte der heldenhaft gefallenen Krieger, und wartet auf das Ende der Welt. In seinem Comic verwandelt der Illustrator Max Baitinger das nordische Götterepos in eine ausdrucksvolle Bildergeschichte.
Von der nordischen Mythologie über das Ende der Welt ließ sich bereits Richard Wagner für die Oper "Götterdämmerung" inspirieren. In seinem Comic-Debüt "Heimdall" bringt nun der Leipziger Zeichner Maximilian Baitinger die Apokalypse in einprägsame Schwarz-Weiß-Bilder und erzählt aus der Perspektive des titelgebenden Wächtergottes: Heimdall sitzt auf dem Dach von Walhall, Wohnstätte der heldenhaft gefallenen Krieger, und beobachtet die Sonne, die einst der "große Wolf" verschlingen wird. Dann wird er in sein Rufhorn blasen und die Götter und Krieger vor Ragnarök warnen, dem Untergang. Soweit sein Auftrag. Doch das Ende der Welt lässt auf sich warten und der Wächter hat eine Menge Zeit, sich Sorgen zu machen. So verwandelt sich das nordische Götterepos im Comic in eine ziemlich menschliche Reflexion über Versagensängste, Langeweile und Einsamkeit.

"Das Horn wurde für Ragnarök gemacht. Es wurde niemals benutzt. Ich weiß nicht, ob es funktioniert", stellt Heimdall eines Tages erschrocken fest. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn er im entscheidenden Moment keinen Warnton blasen kann! Oder was passiert, wenn ein starker Wind weht und seinen Klang verschluckt? Der Götterwächter wird von Zweifeln geplagt. Zudem verfolgen ihn halluzinatorische Tagträume: Er entdeckt die Sonne im Auge seines Vaters Odin, dem Schöpfer der Welt, sie spiegelt sich im Meer, auf den Helmen der Krieger, in ihren Waffen und ihrem Met. Auch der Wolf ist allgegenwärtig, in Heimdalls Fantasie verwandeln sich die Umrisse eines Schiffes oder eine Axt der Krieger in ein schreckliches Wolfsmaul.

Menschliche Reflexion über Versagensängste und Einsamkeit
Maximilian Baitinger erzählt die Apokalypse frei nach der Edda, der nordischen Mythensammlung. Durch die Geschichte führt der innere Monolog Heimdalls, der die Prophezeiung vom Ende der Welt in immer neuen Variationen durchdenkt. Die kryptische Handlung und die lakonische Sprache erinnern an Samuel Becketts "Warten auf Godot", in dem die Landstreicher Estragon und Wladimir vergeblich auf die Ankunft Gottes warten. In Heimdall wartet der Wächtergott auf das Ende der Welt, doch die zyklische Zeitvorstellung der nordischen Mythologie macht auch seinen Auftrag absurd: Nachdem der große Wolf die Sonne gefressen hat, wird sein Bruder Thor den Wolf töten und in dessen Körper die Sonne finden, die alles verbrennen wird. Aus dem Nichts wird der Weltenschöpfer Odin entstehen: "Odin wird die Welt erschaffen. Thor wird das Wetter machen. Ich werde über die Sonne wachen." Das Spiel beginnt von vorne.

Das Comic bezaubert mit ausdrucksvollen Zeichnungen, die immer unterschiedlich kadriert sind. Mal geht ein Bild über die ganze Seite, mal trennt Maximilian Baitinger einzelne Szenen mit seitenfüllenden Dreiecken voneinander ab, mal unterteilt er das Blatt in Comic-typische Kästchen.

Vor sechs Jahren haben drei Illustratoren Rotopolpress als Independent-Verlag gegründet mit dem Ziel, neben etablierten Zeichnern bislang unentdeckte Illustratoren zu verlegen, die mit einer "eigenen Handschrift" überzeugen. Das Comic-Debüt "Heimdall" ist ein tolles Beispiel dafür, welche eigenwilligen Bildergeschichten jenseits des Graphic Novel-Hypes der großen Verlage zu entdecken sind. Bravo, mehr davon!

Besprochen von Tabea Grzeszyk

Max Baitinger: Heimdall
Rotopolpress, Kassel 2013
48 Seiten, 15 Euro
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