Ein hochkomplexes ökonomisches Bedrohungsszenario
Mit "Gier" liefert Arne Dahl einen technisch brillanten, streckenweise erschreckend realistischen Thriller. Eine Einheit unter dem Dach von Europol ermittelt nach einem Zwischenfall in London. Nach und nach verdichten sich Hinweise auf ein groß angelegtes Wirtschaftsverbrechen.
London, ein eiskalter Tag im Februar. Die Mächtigen der Welt diskutieren auf dem G-20-Treffen die Folgen der Finanzkrise. Wütende Demonstranten ziehen durch die Straßen. Da taucht bei Twitter das Gerücht auf, dass der amerikanische Präsident sich der Menge stellen will. Als Obamas Limousine vorfährt, schiebt sich ein asiatisch aussehender Mann unter der Absperrung hindurch, rennt auf die Straße und wird von einer Zivilstreife erfasst. Ein Beamter von Europol ist als erster am Unfallort. Bevor der Mann, der in den Akten "der Chinese" heißen wird, in den Armen des Polizisten stirbt, flüstert er ihm noch ein paar unverständliche Worte zu. Eine Botschaft?
Endlich ein neuer Roman des schwedischen Schriftstellers Arne Dahl. Und was für einer: "Gier" ist ein technisch brillanter Thriller, der mit Twitter-Feeds und grob gepixelten Fernsehbildern aus London auf Nachrichtenaktualität setzt – und gleichzeitig mit vertrauten Gesichtern aufwartet.
Der "Beamte von Europol" ist Arto Söderstedt, Ex-Mitglied der "A-Gruppe", um die herum Arne Dahl eine extrem erfolgreiche Serie gebaut hatte. "Gier" ist ein "spin off," ein Neustart mit einem Teil der Protagonisten: Söderstedts Kollege Paul Hjelm – "leicht grau geworden" – leitet in Den Haag die OPCOP-Gruppe, eine gerade erst gegründete Einheit von Ermittlern aus den europäischen Staaten unter dem Dach von Europol. Jetzt haben sie ihren ersten Fall. Der "Chinese" ist zunächst noch eine Randfigur. Doch als in London die Leiche einer jungen Finanzanalytikern entdeckt wird, verdichten sich die Hinweise auf ein groß angelegtes Wirtschaftsverbrechen. Die Spuren führen unter anderem zur kalabrischen Mafia ´Ndrangheta, ins Baltikum und nach China.
"Gier" ist in Skandinavien sofort in die Bestsellerlisten geschossen. Nach den Turbulenzen auf den Finanzmärkten boomt Kapitalismuskritik auch in den Krimiabteilungen der Buchhandlungen. Dahl – das zeichnet seinen neuen Thriller aus - entwirft ein hochkomplexes ökonomisches Bedrohungsszenario.
Hand in Hand mit rücksichtslosen chinesischen Investoren bereitet die ´Ndrangheta eine Valutaspekulation gegen Lettland vor. Das kleine Land soll mit chinesischem Geld aufgekauft werden, um Riga zum wichtigsten Umschlaghafen für Heroin und illegale Waffen zu machen, alles abgesichert durch Transaktionen auf den internationalen Finanzmärkten.
"Gier" ist ein zutiefst pessimistischer Pageturner. Doch Dahl entwirft nicht nur die Vision einer grenzübergreifenden Wirtschaftskriminalität. Er zeichnet auch ein bedrohliches Bild von der Polizeiarbeit im 21. Jahrhundert. Damit wird es richtig interessant: "Um wenigstens eine geringe Chance gegen die organisierte Kriminalität zu haben, die sich ja nie auf nur ein Land beschränkt, muss die Polizei ebenfalls international aufgestellt sein", referiert der Paul Hjelm auf den ersten Seiten im Tonfall eines engagierten Sicherheitspolitikers.
Es ist der erste Hinweis darauf, dass Dahls OPCOP-Gruppe mehr als eine fiktive, filmreif gecastete Einheit von europäischen Superpolizisten ist, die mit der Dienstwaffe im Handgepäck nach Riga, Rom oder London jetten. "Gier" ist streckenweise erschreckend realistisch: Vieles spricht dafür, dass Europol auf dem Weg ist, zu einem Art europäischen FBI zu werden. Die EU-Kommission hat in den letzten Jahren den Tätigkeitsbereich der europäischen Polizeibehörde unauffällig ausgeweitet – auch mit Blick auf länderübergreifende Ermittlungsteams und "operative" Kompetenz.
Vor allem aber ist der Informationsaustausch zwischen den nationalen Datenbanken deutlich erweitert worden. Kritiker sprechen von einer "Datenkrake" oder einer "europäischen Geheimpolizei" – eine Position, die auch unter den auf perfekte Spannung polierten Oberflächen von "Gier" durchschimmert.
Die Szenen in Arne Dahls Roman, in denen die OPCOP-Ermittler an ihren Schreibtischen in Den Haag in kürzester Zeit Profile von EU-Bürgern zusammenklicken, sind keine Referenz an amerikanische High-Tech-Thriller. "Gier" wirft einen Blick in die Zukunft von Europol – und führt uns eine monströse Sicherheitsbehörde vor, die tatsächlich keine Grenzen mehr kennt.
Besprochen von Kolja Mensing
Arne Dahl: "Gier"
Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg
Piper, München 2012
512 Seiten, 16,99 Euro
Endlich ein neuer Roman des schwedischen Schriftstellers Arne Dahl. Und was für einer: "Gier" ist ein technisch brillanter Thriller, der mit Twitter-Feeds und grob gepixelten Fernsehbildern aus London auf Nachrichtenaktualität setzt – und gleichzeitig mit vertrauten Gesichtern aufwartet.
Der "Beamte von Europol" ist Arto Söderstedt, Ex-Mitglied der "A-Gruppe", um die herum Arne Dahl eine extrem erfolgreiche Serie gebaut hatte. "Gier" ist ein "spin off," ein Neustart mit einem Teil der Protagonisten: Söderstedts Kollege Paul Hjelm – "leicht grau geworden" – leitet in Den Haag die OPCOP-Gruppe, eine gerade erst gegründete Einheit von Ermittlern aus den europäischen Staaten unter dem Dach von Europol. Jetzt haben sie ihren ersten Fall. Der "Chinese" ist zunächst noch eine Randfigur. Doch als in London die Leiche einer jungen Finanzanalytikern entdeckt wird, verdichten sich die Hinweise auf ein groß angelegtes Wirtschaftsverbrechen. Die Spuren führen unter anderem zur kalabrischen Mafia ´Ndrangheta, ins Baltikum und nach China.
"Gier" ist in Skandinavien sofort in die Bestsellerlisten geschossen. Nach den Turbulenzen auf den Finanzmärkten boomt Kapitalismuskritik auch in den Krimiabteilungen der Buchhandlungen. Dahl – das zeichnet seinen neuen Thriller aus - entwirft ein hochkomplexes ökonomisches Bedrohungsszenario.
Hand in Hand mit rücksichtslosen chinesischen Investoren bereitet die ´Ndrangheta eine Valutaspekulation gegen Lettland vor. Das kleine Land soll mit chinesischem Geld aufgekauft werden, um Riga zum wichtigsten Umschlaghafen für Heroin und illegale Waffen zu machen, alles abgesichert durch Transaktionen auf den internationalen Finanzmärkten.
"Gier" ist ein zutiefst pessimistischer Pageturner. Doch Dahl entwirft nicht nur die Vision einer grenzübergreifenden Wirtschaftskriminalität. Er zeichnet auch ein bedrohliches Bild von der Polizeiarbeit im 21. Jahrhundert. Damit wird es richtig interessant: "Um wenigstens eine geringe Chance gegen die organisierte Kriminalität zu haben, die sich ja nie auf nur ein Land beschränkt, muss die Polizei ebenfalls international aufgestellt sein", referiert der Paul Hjelm auf den ersten Seiten im Tonfall eines engagierten Sicherheitspolitikers.
Es ist der erste Hinweis darauf, dass Dahls OPCOP-Gruppe mehr als eine fiktive, filmreif gecastete Einheit von europäischen Superpolizisten ist, die mit der Dienstwaffe im Handgepäck nach Riga, Rom oder London jetten. "Gier" ist streckenweise erschreckend realistisch: Vieles spricht dafür, dass Europol auf dem Weg ist, zu einem Art europäischen FBI zu werden. Die EU-Kommission hat in den letzten Jahren den Tätigkeitsbereich der europäischen Polizeibehörde unauffällig ausgeweitet – auch mit Blick auf länderübergreifende Ermittlungsteams und "operative" Kompetenz.
Vor allem aber ist der Informationsaustausch zwischen den nationalen Datenbanken deutlich erweitert worden. Kritiker sprechen von einer "Datenkrake" oder einer "europäischen Geheimpolizei" – eine Position, die auch unter den auf perfekte Spannung polierten Oberflächen von "Gier" durchschimmert.
Die Szenen in Arne Dahls Roman, in denen die OPCOP-Ermittler an ihren Schreibtischen in Den Haag in kürzester Zeit Profile von EU-Bürgern zusammenklicken, sind keine Referenz an amerikanische High-Tech-Thriller. "Gier" wirft einen Blick in die Zukunft von Europol – und führt uns eine monströse Sicherheitsbehörde vor, die tatsächlich keine Grenzen mehr kennt.
Besprochen von Kolja Mensing
Arne Dahl: "Gier"
Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg
Piper, München 2012
512 Seiten, 16,99 Euro