Ein Idealfall kulturgeschichtlicher Betrachtung
Der Schriftsteller Günter de Bruyn, der sich auch als Chronist des Kulturlebens im historischen Preußen einen Namen gemacht hat, legt mit "Die Zeit der schweren Not" den Nachfolgeband seines Großessays "Als Poesie gut" aus 2006 vor.
Der Schriftsteller Günter de Bruyn, der sich auch als Chronist des Kulturlebens im historischen Preußen einen Namen gemacht hat, legt mit "Die Zeit der schweren Not" jetzt den Nachfolgeband seines leichthändig geschriebenen, aber hochfundierten Großessays "Als Poesie gut" aus dem Jahr 2006 vor. Da, wo dieser endete, mit dem Jahr 1807, der Zeit der großen Demütigung Preußens durch Napoleon, beginnt der neue Band: Es geht um die Phase zwischen 1807 bis 1815, von der katastrophalen Niederlage bis zu den sogenannten "Befreiungskriegen" und dem Sieg über Napoleon 1815.
Es ist eine relativ kurze Zeitspanne, in der aber grundlegende Weichenstellungen für die im 19. Jahrhundert dominierende Großmacht Preußen vorgenommen wurden, es schienen in dieser chaotischen Umbruchszeit mehrere Optionen möglich für den sich aus Sand und Soldaten definierenden Staat. Die Unterwerfung durch Napoleon war die Chance für eine Öffnung, für längst überfällige innenpolitische Reformen, die politischen Konsequenzen dieser Reformen wurden jedoch durch den nationalistischen Schub der Befreiungskriege gekappt, und der alte Militär- und Ständestaat erstand fast wieder so, als ob nichts gewesen wäre.
De Bruyn zeigt die widersprüchlichen Tendenzen dieser Jahre in souveräner Manier. Er legt das Augenmerk auf die wichtigsten Persönlichkeiten und begrenzt sich nicht nur auf die im engeren Sinn im kulturellen Milieu Anzusiedelnden: Berlin war vergleichsweise klein, die unterschiedlichen Sphären berührten sich ständig. Die Dichter wohnten auf den Gütern und Schlössern der Adligen, die Militärs lasen die Dichter, und im Salon der Jüdin Rahel Levin trafen sich Politiker und Künstler. Clausewitz, Gneisenau und Scharnhorst, Führungsfiguren der Armee, spielen in de Bruyns Bilder- und Skizzenfolge eine genauso große Rolle wie Kleist und Chamisso, Humboldt und Schleiermacher, Schinkel und Rauch.
Es ist verblüffend, wie elegant de Bruyn in einer Abfolge kurzer Szenen das gesamte gesellschaftliche Panorama und die zeitgeschichtliche Entwicklung erfasst. Eine Person tritt immer in den Vordergrund, sie kann in anderen Szenen wiederum als Nebenfigur auftauchen und hat dadurch Teil an der Gesamtatmosphäre. Der Titel ist, wie schon bei "Als Poesie gut", sehr doppelbödig und zeigt die Widersprüche und gegenläufigen Tendenzen der Zeit. Jenes Zitat war vom König Friedrich Wilhelm III., es war seine Reaktion auf eine politisch-radikale Denkschrift Gneisenaus. "Die Zeit der schweren Not" nun ist keineswegs ein Ausruf der geknechteten preußisch-nationalen Seele dieser Jahre, sondern ein Vers von Adalbert von Chamisso, eines zum Preußen gewordenen Franzosen, der das kriegsbegeisterte Berlin des Jahres 1813 verließ, weil er sich als der einzige Nüchterne unter patriotisch Berauschten vorkam. De Bruyns Buch ist ein Idealfall kulturgeschichtlicher Betrachtung.
Besprochen von Helmut Böttiger
Günter de Bruyn: Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 - 1815
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2010
430 Seiten, 24,95 Euro
Es ist eine relativ kurze Zeitspanne, in der aber grundlegende Weichenstellungen für die im 19. Jahrhundert dominierende Großmacht Preußen vorgenommen wurden, es schienen in dieser chaotischen Umbruchszeit mehrere Optionen möglich für den sich aus Sand und Soldaten definierenden Staat. Die Unterwerfung durch Napoleon war die Chance für eine Öffnung, für längst überfällige innenpolitische Reformen, die politischen Konsequenzen dieser Reformen wurden jedoch durch den nationalistischen Schub der Befreiungskriege gekappt, und der alte Militär- und Ständestaat erstand fast wieder so, als ob nichts gewesen wäre.
De Bruyn zeigt die widersprüchlichen Tendenzen dieser Jahre in souveräner Manier. Er legt das Augenmerk auf die wichtigsten Persönlichkeiten und begrenzt sich nicht nur auf die im engeren Sinn im kulturellen Milieu Anzusiedelnden: Berlin war vergleichsweise klein, die unterschiedlichen Sphären berührten sich ständig. Die Dichter wohnten auf den Gütern und Schlössern der Adligen, die Militärs lasen die Dichter, und im Salon der Jüdin Rahel Levin trafen sich Politiker und Künstler. Clausewitz, Gneisenau und Scharnhorst, Führungsfiguren der Armee, spielen in de Bruyns Bilder- und Skizzenfolge eine genauso große Rolle wie Kleist und Chamisso, Humboldt und Schleiermacher, Schinkel und Rauch.
Es ist verblüffend, wie elegant de Bruyn in einer Abfolge kurzer Szenen das gesamte gesellschaftliche Panorama und die zeitgeschichtliche Entwicklung erfasst. Eine Person tritt immer in den Vordergrund, sie kann in anderen Szenen wiederum als Nebenfigur auftauchen und hat dadurch Teil an der Gesamtatmosphäre. Der Titel ist, wie schon bei "Als Poesie gut", sehr doppelbödig und zeigt die Widersprüche und gegenläufigen Tendenzen der Zeit. Jenes Zitat war vom König Friedrich Wilhelm III., es war seine Reaktion auf eine politisch-radikale Denkschrift Gneisenaus. "Die Zeit der schweren Not" nun ist keineswegs ein Ausruf der geknechteten preußisch-nationalen Seele dieser Jahre, sondern ein Vers von Adalbert von Chamisso, eines zum Preußen gewordenen Franzosen, der das kriegsbegeisterte Berlin des Jahres 1813 verließ, weil er sich als der einzige Nüchterne unter patriotisch Berauschten vorkam. De Bruyns Buch ist ein Idealfall kulturgeschichtlicher Betrachtung.
Besprochen von Helmut Böttiger
Günter de Bruyn: Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 - 1815
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2010
430 Seiten, 24,95 Euro