Ein ironisches Krankenbild

Von Frieder Reininghaus |
Das Publikum in Basel zeigte sich bei Uraufführung von Andrea Lorenzo Scartazzinis Oper "Der Sandmann" zunächst ein wenig irritiert und war am Ende des Stücks, geschrieben nach einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann, begeistert.
Die zweite Oper von Andrea Lorenzo Scartazzini stützt sich auf ein relativ bekanntes Stück Literatur. Die Erzählung "Der Sandmann" eröffnete 1816 E.T.A. Hoffmanns Novellen-Sammlung "Nachtstücke".

Dafür, dass das Projekt keine "Literaturoper" in herkömmlichem Sinn abgibt, sorgte Thomas Jonigk. Der Librettist destillierte neun Szenen und einen Epilog aus Hoffmanns Text. Das Resultat geriet ganz in dessen Sinn zu einer teilweise wunderbar ironischen Spielvorlage für ein Problemstück zum Thema "Wahnsinn und Genie".

Bei dem nun in Basel vorgestellten musikdramatischen Werk - einem Kammerspiel für fünf Sänger, allerdings aufgerüstet mit Chor und großem Orchester - handelt es sich zugleich um eine Beziehungsfarce. Diese entfernt sich stellenweise weit vom literarischen Ausgangstext, kehrt am Ende aber wieder bei ihm ein.

Der Titel "Sandmann" erinnert an Kindheit und Idylle. Mit beidem hat die Hoffmannsche Novelle - wie auch die neue Arbeit auf der großen Bühne des Theaters Basel - zu tun, mehr aber noch mit Abgründen, die sich dahinter auftun. Tatsächlich geht es da um finstere Nächte im Leben wie in der Seele:

Um den hochsensiblen Schriftsteller Nathanael, der ein Kindheitstrauma abbekommen hat, weil der Vater, ein Leichenbestatter, des nachts mit seinem sinisteren Compagnon Coppelius finstere Versuche unternahm und dabei auch auf schauderhafte Weise zu Tode kam. Nathanael, den der tote Vater und Coppelius immer wieder heimsuchen, verlässt nach und nach die Koordinaten seiner vertrauten Welt. Er verschreibt sich obsessiv seiner Arbeit an einem Roman, dem Roman seines kurzen angsterfüllten Lebens.

Die Gemütsschwankungen des Protagonisten zeichnet Ryan McKinny mit seinem geschmeidigen Bariton vorzüglich nach. Er vergisst in seiner Selbstbezogenheit die Liebe zu seiner klarsichtigen Verlobten Clara, einer Basler Bankbeamtentochter, die nicht nur an seinem literarischen Talent zweifelt, sondern - nicht ganz grundlos - auch an seinem Geisteszustand. Und er erliegt dann wie im Wahn der vollkommen schön erscheinenden mediterranen Clarissa. Die aber entpuppt sich mit ihrer willkommenen permanenten Ja-Sagerei und überzogenen Willigkeit als chipgesteuertes Kunstprodukt. Die Sängerdarstellerin dieser "Puppe" - Agneta Eichenholz - ist dieselbe wie die der treu-rechtschaffenen Clara und in beiden Partien virtuos.

Die Auftritte der beiden alten Herren - Thomas Piefka und Hans Schöpflin - akzentuieren komödiantische Aspekte im Grauen. Unentschieden bleibt in Basel, ob Nathanael tatsächlich seinen Roman zu Papier bringt und den ruhmreichen Augenblick der ersten Dichterlesung nicht auch nur träumt. Jedenfalls überlebt er die Heimsuchungen aus dem Reich der dunklen Ängste nicht.

Clara, die sich durch den (imaginären?) Text düpiert fühlt (und insbesondere durch den als Höhe der Gefühle gepriesenen Sex mit einer Toten), ist sichtbar erleichtert, wenn Nathanael im frühen Grabe liegt und sie dieses Kapitel des Lebens abhaken kann. Christof Loy inszeniert die Pointen treffsicher.

Das Basler Publikum zeigte sich am Ende recht begeistert vom neuen Stück, das sie wohl zunächst ziemlich irritierte.

Links auf dradio.de:

- Ein letztes Miserere - Christoph Marthalers "Lo Stimolatore Cardiaco" am Theater Basel
- Aus Marthalers Fantasie-Fundus - "Meine faire Dame - Ein Sprachlabor"am Theater Basel