Eine junge Türkin kämpft für Erdogan
Seit dem Putschversuch vor einem Jahr gilt in der Türkei der Ausnahmezustand. Es gibt Kritik, aber viele Türken stehen hinter ihrem Präsidenten. Besuch bei einer Familie, die Erdogan unterstützt.
Die Nachrichten über Verhaftungen, Entlassungen und Verurteilungen in der Türkei reißen nicht ab, seit vor knapp einem Jahr der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Fast immer sollen die Betroffenen am Putschversuch vom 15. Juli 2016 beteiligt gewesen sein. Oppositionelle Türken halten das längst für ein Totschlagargument, mit dem Präsident Erdogan versuche, jede Kritik im Land auszuschalten. Doch mindestens genauso viele Türken stehen hinter ihrem Präsidenten. Seine Politik halten sie für einen Kampf für die Demokratie, die die Putschisten aushebeln wollten. Luise Sammann hat eine Familie besucht, die genau so denkt:
"Als wir an diese Stelle hier kamen, riefen uns die Leute zu: Die schießen wahllos auf jeden! Alle paar Sekunden hörte man Schüsse und Schreie. Dann rannten Männer an uns vorbei, die Verletzte wegtrugen… Da habe ich kapiert, wie ernst die Lage ist."
Adviyye Ismailoglu – 15 Jahre alt, schmächtig, ein bisschen blass unter dem schwarzen Kopftuch – sieht nicht aus wie eine typische Heldin. Doch in den Augen vieler Türken ist sie genau das. Anstatt umzudrehen, liefen sie und ihre Familie in jener Nacht vor genau einem Jahr weiter. Den putschenden türkischen Soldaten genau in die Arme.
"Die Kugel durchbohrte meinen linken Arm und kam am Rücken wieder raus, wobei sie ein faustgroßes Loch riss. Weil auch meine Lunge verletzt war, füllte sich mein Mund mit Blut und ich brach zusammen. Mein Vater trug mich ins Krankenhaus – und ich dachte nur: Schade, dass ich nicht länger bleiben kann."
Vier Tage lag sie damals im Koma. Intensivstation und unzählige Arztbesuche folgten. Ob sie ihren Mut je bereut hat? Die 15-Jährige schüttelt entschieden mit dem Kopf.
"Unser Präsident hat uns damals aufgerufen, auf die Plätze zu strömen. Als er rief: "Diese Leute werden die Kraft meines Volkes zu spüren bekommen", da wusste ich, dass wir stark genug sind. Und dass es unser aller Pflicht war, uns den Putschisten entgegenzustellen."
Auf der Straße, über die Adviyye damals mit ihren Eltern und Nachbarn rannte, rasen heute die Autos vorbei. Ein Maisverkäufer schiebt seinen fahrenden Kochtopf über den Bürgersteig, ein paar Frauen mit Kopftuch sitzen mit ihren Kindern auf einem Rasenstück und picknicken. Putschversuch und Ausnahmezustand scheinen unendlich weit weg.
Das Schicksal als Märtyrerin ist ihr erspart geblieben
Wenige Minuten entfernt liegt die kleine Wohnung der Familie Ismailoglu. Eine türkise Sofagruppe, ein Flachbildfernseher an der Wand, daneben ein gerahmtes Foto von Adviyye und Präsident Erdogan. Mutter Sevim serviert türkischen Kaffee in zierlichen Porzellantassen.
"Manchmal fragen uns die Leute fast vorwurfsvoll: Was, wenn sie gestorben wäre? Ich antworte ihnen: Ihr wisst nicht, was es uns bedeutet, dass sie zur Veteranin geworden ist. Wir danken Gott dafür! Und wäre sie gestorben, also zur Märtyrerin geworden, dann wären wir sogar noch stolzer und dankbarer."
Die freundliche Frau mit den hellwachen Augen zieht eine Brille aus der Tasche ihres schwarzen Umhangs, schlägt ein Fotoalbum auf. Adviyyes Verletzung ist für sie der Beginn ihres Kampfes für die Demokratie von Präsident Erdogan, den die Familie über alle Maßen verehrt. Wegen seiner Ehrlichkeit, wie die Mutter sagt. Wer das anders sieht, muss ein Verräter sein. Ein Feind der Türkei…
In dem fein säuberlich geführten Album sieht man Mutter und Tochter hinter Rednerpulten und auf Bühnen stehen, mit Ministern posieren. Statt eines Kopftuchs bedeckt Adviyyes Haare auf den Bildern eine rote Türkei-Flagge.
"Ich spreche in Schulen, Universitäten und bei Veranstaltungen damit dieses Ereignis nicht vergessen wird. Manchmal bin ich sehr müde. Aber dann erinnert meine Mutter mich daran, warum ich an jenem Tag nur verwundet und nicht getötet wurde: Weil ich den Menschen erzählen muss, was passiert ist, damit es sich niemals wiederholt."
Am nächsten Morgen ist es wieder einmal soweit. Adviyye sitzt gemeinsam mit den anderen sogenannten "Helden des 15.Juli" in einer großen Istanbuler Universität. Gleich sollen sie vor mehreren Hundert Gästen sprechen. Adviyye schießt noch Fotos mit Menschen, die ihr dankbar die Hand schütteln, bevor sie die Bühne betritt.
"Viele Leute wissen, dass uns eine schreckliche Zukunft erwartet hätte, wenn wir nicht draußen gewesen wären in jener Nacht. Warum hätte es einen Putsch geben sollen, wo wir doch gerade erst die Demokratie gewonnen haben in diesem Land? Wo es uns gut geht wie nie? Ich bin froh, dass ich dagegen aufgestanden bin. Und ich würde es jederzeit wieder tun. Auch jetzt, wo ich weiß, was passieren kann."