Die internationale Wirkung der Ereignisse vom 6. Januar 2021 beschäftigt auch Martin Bialecki, Chefredakteur der Zeitschrift „Internationale Politik“. Den Akteuren sei es dabei um den Erhalt der amerikanischen Ausnahmestellung in der Welt gegangen, sagt er im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. Erreicht haben sie damit aber wohl eher das Gegenteil. Denn jetzt fragten andere Länder mit Recht: „Wie wollt ihr denn der Welt ein Beispiel sein für Menschenrechte, Demokratie etc.?“ Das gesamte Interview mit Martin Bialecki hier zum Nachhören .
Sturm aufs Kapitol vor einem Jahr
6. Januar 2021: Die Vorgänge haben das Sinnbild der Vereinigten Staaten als Zitadelle der Demokratie ins Wanken gebracht, findet Stephan-Götz Richter. © AFP / Getty Images North America / Spencer Platt
Wenn der Mob die USA beherrscht
Ein Jahr ist es her: Angestachelt von Donald Trump erstürmte eine wütende Menge das Kapitol. Die US-Politik hat sich damit grundlegend verändert, meint der Journalist Stephan-Götz Richter. Die Europäer müssten sich an ein anderes Amerika gewöhnen.
James Madison, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika, hatte in den 1780er-Jahren große Angst vor der Herrschaft des Pöbels. Knapp 240 Jahre später scheint sein Albtraum zur Wirklichkeit zu werden.
Denn mit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021, hat sich die amerikanische Politik grundlegend geändert.
Kollektiver Akt der Realitätsverweigerung
Der amerikanische Straßenmob wurde von Donald Trump, dem damals noch amtierenden, aber bereits abgewählten US-Präsidenten, systematisch aufgeputscht. Er behauptete, ihm sei die Wiederwahl gestohlen worden.
Und Trump behauptet das bis heute – ebenso wie seine Anhängerschar. Beide verharren bis heute in einem kollektiven Akt der Realitätsverweigerung. Diese Vorgänge haben das Sinnbild der Vereinigten Staaten als Zitadelle der Demokratie ins Wanken gebracht.
Die Videos vom gewalttätigen Eindringen der Meute von Trump-Anhängern in das US-Kapitol erinnern an die Erstürmung des Winterpalastes in St. Petersburg im Oktober 1917 – mit einem großen Unterschied: Der republikanische Straßenmob wollte seinen "Zaren", Donald Trump, im Amt behalten.
Wir Deutsche und wir Europäer müssen uns daher wohl an ein anderes Amerika gewöhnen.
Republikaner auf dem Weg zur "Mafia-Partei"
Ein Land, in dem die Republikanische Partei, der einstige Inbegriff des US-Establishments, dabei ist, sich in das politische Äquivalent einer Mafia-Partei zu verwandeln.
Gewiss tobt der Mob in den Vereinigten Staaten von heute nicht immer von rechts. Im Sommer 2020 machte auch ein linker Mob weltweit Schlagzeilen. Dieser verwandelte legitime Proteste gegen Polizeibrutalität in verschiedenen US-Städten in ein gewalttätiges Happening.
Es gibt aber einen elementaren Unterschied, wie Demokraten und Republikanern auf die Ausschreitungen reagieren. Die Demokratische Partei hat die linksextremen Exzesse verurteilt. Unterdessen instrumentalisieren die Republikaner den Mob kontinuierlich für ihre eigenen Machtzwecke.
In der Bereitschaft, die Putschisten nicht nur zu schützen, sondern zu feiern, erinnern die Republikaner nun fatal an die leninistischen Machtprinzipien aus den dunklen Tagen der Sowjetunion.
Ein Abdriften der USA droht
Was folgt daraus? In den USA läuft nun das von James Madison und den anderen Verfassungsvätern geschaffene System der Gewaltenteilung aktuell Gefahr, aus den Angeln gehoben zu werden.
Der Trumpismus – ob in Form des orangehaarigen Siegfried oder eines Trump-Nachahmers unter den republikanischen Gouverneuren wie Ron de Santis aus Florida – kann das schaffen. In Washington munkelt man schon davon, dass Trumps Sturmtruppen Joe Biden, Nancy Pelosi und andere Demokraten nach der Wiederwahl Trumps 2024 vor ein Tribunal stellen wollen.
Die politische Selbstzerstörung in ihrem Innern lassen ein Abdriften der USA als verantwortungsvolle internationale Macht befürchten. Dass die langjährige Vormacht des Westens unter ihrer Führung nun aus den Fugen gerät, nutzt vor allem Russland und China.
Wie souverän ist Europa?
All das unterstreicht, wie gefährlich das nach wie vor weitgehend inhaltsleere Gesäusel von der „strategischen Souveränität“ Europas wirklich ist. Jenseits der Rhetorik ist da bisher wenig zu vermelden. Siehe zum Beispiel eine Bundeswehr mit rund 184.000 Soldat:innen (inklusive den freiwillig Wehrdienstleistenden), samt der chronischen Unterinvestition und systemischen Inkompetenz bei den Sachanschaffungen.
Unterdessen haben die Russen mal eben 100.000 ihrer Soldaten allein an der Grenze zur Ukraine positioniert.
Angesichts der bisherigen Inhaltsleere unseres in Sonntagsreden immer wieder postulierten Souveränitätsverständnisses stellt das einen echten Risikofaktor für uns Europäer dar.