Ein Jahr nach dem Tsunami

Von Andreas Stummer |
Lalomanu an der Südküste Samoas ist ein Ort, der einem im Reisebüro als unberührtes Südsee-Paradies verkauft wird. Und das völlig zurecht. Es gibt Palmen, Sand, so weit das Auge reicht, türkisfarbenes, badewannenwarmes Wasser und freundliche Einheimische.
Daran hat auch der Tsunami nichts geändert. Doch nur wer dem Meer – buchstäblich - den Rücken zudreht, erfährt, welchen Schaden die acht Meter hohe Flutwelle vor einem Jahr wirklich ange-richtet hat. Materiell und spirituell.

Esmay Ah-Leung Seuala hat die Folgen des Tsunamis aus nächster Nähe gesehen. Unermüdlich hat die Ärztin damals Bergungstrupps organisiert und mitgeholfen, die Leichen zu identifizieren: 143 – auch sieben ihrer Verwandten. Nicht eine Träne hat sie damals geweint.

Ein Jahr später aber steht die junge Frau, 50 Meter vom Meer, vor einem leeren Grundstück – und kann nicht damit aufhören. Die Trümmer der elf Häuser ihres Clans, die früher hier standen, sind längst weggeräumt. Die Erinnerungen aber sind immer noch da. Esmay Ah-Leung Seuala

""Wir sind ein gleichmütiges, offenes Volk – Samoaner machen sich sonst über nichts Sorgen. Der Tsunami aber hat mich emotional tief getroffen. Ich rede sonst mit niemandem darüber. Als hätte ich eine Leere in mir, die darauf wartet ausgefüllt zu werden."

Samoa ist eine Insel in Zeitlupe, Gelassenheit ist eine Tugend. Die 180.000 Einheimischen leben im Rhythmus am Boden schleifender Badeschlappen. Noch mehr Samoaner aber wohnen im Ausland. "Alle sind Teil einer riesigen Großfamilie", erzählt Esmay, "jeder gibt für jeden."

Nur Stunden nach dem Tsunami waren Esmays Verwandte undTtausende andere Samoaner in Übersee schon dabei Geld zu sammeln. Esmay Ah-Leung Seuala:

"Sie machten mobil, organisierten Hilfe und schickten uns alles, was sie entbehren konnten. Ohne ihre Unterstützung hätten wir nicht wiederaufbauen können. Die meisten meiner Verwandten leben in Australien oder Neuseeland. Aber sie alle haben uns wieder auf die Beine geholfen."

Die Seualas sind wohlhabend. Esmay hat ihr neues Vierzimmer-Haus mit Terrasse und Aussicht gleich hinter der Kirche, in den Hügeln über Lalomanu gebaut. Auf Land, das die Flutwelle verschont hat. Doch nur zwei Kilometer weiter die Küstenstraße hinunter hat der Tsunami ganze Arbeit geleistet. Von der 200 Einwohner-Siedlung Saleapaga steht nur noch das Ortsschild.

Das Dorf ist verlassen, nur ein paar Hühner picken neugierig zwischen zwei rostigen Autowracks. Geknickte Bäume, eingestürzte Dächer, leere Ruinen: Jedes Anzeichen von Leben ist verschwunden.

Da wo früher Häuser und Versammlungshallen standen, sind nur noch nackte Betonfundamente. Zwei Touristinnen haben ihren Mietwagen am Straßenrand geparkt und machen Aufnahmen der halbverfallenen Kirche. Nur der Glockenturm steht noch, wie ein erhobener Zeigefinger, der daran erinnert, mit welcher Wucht der Tsunami vor einem Jahr die Küste getroffen hat. Etwas andere Urlaubsphotos.

"Wir haben uns darüber unterhalten, dass es einen unglaublichen Kontrast gibt, zwischen einer wunderschönen, paradiesischen Landschaft und – destruction. Die leben nebeneinander und das hat mich positiv wie negativ beeindruckt."

Studentin Stef Ferrucci aus Bonn hat lange überlegt: Sollte sie mit Freundin Giovanna nach Samoa kommen oder nicht? Neuseeland im Winter war beiden zu kalt. Aber wer kann schon – guten Gewissens – da baden gehen, wo vor einem Jahr mehr als 100 Leichen im Wasser trieben ? Stef Ferruci:

"Wir haben uns bewusst entschieden herzukommen, weil wir gesagt haben. (…) Vielleicht können wir ein wenig dazu beitragen, dass die Leute alles wieder aufbauen können (…). Und dafür gebe ich gerne mein Geld. Ganz ehrlich."

Wiederaufgebaut wird überall entlang der schmalen Küstenstraße. Die Dörfer links der Fahrbahn und rechts davon, direkt am Meer. Es sind Fales, Samoas traditionelle Strandhütten. Hotelanlagen - Familienbetriebe oder Ressorts - bekamen von der Regierung beim Verteilen der Wiederaufbauhilfe Vorrang.

Samoa hat keine Industrie und auch keine nennenswerten Exportgüter, die Haupteinnahmequelle ist der Tourismus. Während die Einheimischen vielerorts noch unter Planen schliefen, hatten Touristen schon bald wieder ein festes Dach über dem Kopf.

"Now you see traditional fale, that is the fale we are living in from many, many times ago. And also more tourist like Samoan style."

Tapu Legato ist Mitbesitzer der "Faofao Beach Fales" in Saleapaga. Die nach allen Seiten offene, schilfgedeckte Gemeinschaftshalle mit Restaurant und Bar ist schon fertig. Dahinter baut Tapu gerade zwölf moderne Ferienwohnungen. Aber auf seine traditionellen Strandhütten ist er besonders stolz.

"We are using Samoan trees, Samoan roof, Samoan blinds, everything."

"Meine zwölf Hütten sind nur aus natürlichen Materialien", strahlt Tapu. Die Balken sind Stämme von Palmen, das Dach und die Wände, die man wie Rolläden hochziehen und herunterlassen kann, aus geflochtenen Kokosblättern. Niemand verwendet mehr moderne Blechdächer – als der Tsunami kam wurden sie zu schwimmenden Rasierklingen. Einfacher ist wieder besser in Samoa.

O-Ton (Atmo: Plane sauber machen)

Hausputz in den "Taufua Beach Fales" am Strand von Lalomanu. Tai Taufua ist seit Sonnenaufgang auf den Beinen. Saubermachen, Frühstück vorbereiten, Internet-Buchungen – als Chefin der "Taufua Strandhütten" ist sie Mädchen für alles. "Jeder muss mit dem Tsunami auf seine Weise fertig werden", meint Tai. Sie hat sich in Arbeit gestürzt. 18 Strandhütten, die Versammlungshalle und sieben Häuser, Heim des Taufua-Clans seit Generationen, hat der Tsunami in Sekunden weggespült. Beinahe auch Tai.

Als sie aus dem Krankenhaus kam, trommelte sie Freunde und den Rest der Familie aus Neuseeland zusammen. Nur zwei Monate nach der Flutwelle waren die "Taufua-Strandhütten", mit Restaurant und Bar, wieder geöffnet. Tai Taufua:

"Es war eine harte Entscheidung hierher zurückzukommen und wieder von vorne anzufangen. Aber das war ich allen, die im Tsunami umgekommen sind, schuldig. Und es war Teil des Heilungsprozesses. Ich kann nicht woanders hin, ich habe mein ganzes Leben am Strand verbracht. Hier bin ich aufgewachsen."

Wenn Tai Taufua über den Tsunami spricht, dann wirkt sie älter als 35, sie senkt ihre Stimme und zupft nervös an einer grauen Haarsträhne in ihrem schwarzen Lockenkopf. Tai hat 14 Familienmitglieder nach dem Tsunami beerdigt. Ihren elf Monate alten Sohn, ihre Schwester, ihre Nichte und ihren 97-jährigen Vater.

Seitdem raucht Tai Kette. Ist eine Zigarette heruntergebrannt zündet sie sich mit der noch glühenden Kippe die nächste an. Amerikanische "Pall Mall", ohne Filter. Verkehrte Welt. Ihr Schreibtisch steht nur 20 Meter von einem der idyllischsten Strände Samoas – Tai aber setzt keinen Fuß auf Lalomanu Beach. Tai Taufua:

"Seit dem Tsunami war ich nicht mehr schwimmen. Das Meer war mein Freund, heute ist es mir nicht mehr geheuer. Ich habe keine Angst vor dem Wasser, aber ich bin noch nicht so weit, dass ich wieder ins Meer gehen kann."

Tai Taufua ist nicht alleine. Die Einwohner ganzer Ortschaften entlang der Küste haben das Land ihrer Vorväter verlassen und sind weggezogen – viele für immer. Weg vom Strand, den Berg hinauf, ins sichere Hinterland. Dahin, wo sie damals vor dem Tsunami Schutz gesucht haben, wo auch keine 50 Meter hohe Welle sie jemals erreichen wird.

Lumepa, eine rundliche Mitfünzigerin, die für Tai Taufua putzt, ist die einzige ihres Dorfes, die sich ans Meer zurückwagt. "Das ist traurig", gesteht sie. Denn mit den Bootsschuppen, den Auslegerkanus und den Fischernetzen ist an der Südküste Samoas auch eine ganze Lebensart in der Flutwelle verschwunden. Vielleicht für immer.

"Aus vielen Fischern sind Farmer geworden. Die meisten wollen nicht wieder auf’s Meer hinaus. Lieber bauen sie jetzt Papayas, Mangos oder Bananen an. Ich war früher auch oft fischen. Heute aber traue ich mich nicht mehr."

Lumepas Dorf liegt auf einem Hochplateau über der Küstenstraße. Der dichte Regenwald verdeckt den Blick aufs Meer, aber die Brandung ist in der Ferne zu hören. Das stete Geräusch der Wellen lässt vielen keine Ruhe. Tag und Nacht erinnert es sie an die Toten, die das Wasser forttrug. Immer mehr suchen deshalb Hilfe. Dort, wo sie auch am Tag des Tsunamis, Hilfe fanden.

Unterwegs ins Krankenhaus von Lalomanu, nur zwei Autominuten vom Strand, eine steile, gewundene Schotterstraße den Hügel hoch. Vorbei an blühenden Hibiskussträuchern und schlichten Holzhütten mit Schweinen im Vorgarten.

Zwei Behandlungszimmer, neun Betten, eine kleine Drogerie – die einstöckige, weißgetünchte Klinik mit rotem Blechdach ist das einzige Krankenhaus an der Südostküste Samoas. Geöffnet rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Das Wartezimmer ist nicht mehr als ein überdachter Durchgang, offen nach beiden Seiten. In der Mitte: zwei handgeschnitzte Holzbänke. Das Büro der Schwester vom Dienst ist ein mit Formularen und Aktenordnern übersäter Küchentisch.

Von der milden Seebrise ist hier oben nichts mehr zu spüren. Ein Ventilator an der Decke spielt, mehr schlecht als recht, Klimaanlage. Zwei der Rotorblätter des Lüfters fehlen, die übrigen reiben klack, klack, klack, klack an der Fassung.

Schwester Melody Lesa hat Nachtschicht. Eine zierliche Person mit scheuem Lächeln, omo-weißer Uniform und glattem, pechschwarzem Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. "Unser Ventilator", sagt sie, "ist ein wenig wie die Menschen nach dem Tsunami: Er funktioniert, aber ganz in Ordnung ist er nicht".

"Die Menschen haben sich verändert. Wir Samoaner sind ein fröhliches Volk, aber die Trauer und der Schock nach dem Tsunami haben vielen diese Lebensfreude genommen. Ihr Lebenseinstellung ist seitdem nicht mehr so unbeschwert wie früher – auch ihren Familien gegenüber."

Auf den Tsunami folgte eine Welle von Leiden, die es in Samoa bisher nicht gab: Posttraumatischer Stress und Depression - Gemütsprobleme mit Symptomen von Schlaflosigkeit bis hin zu Angstzuständen. Alle der Betroffenen haben Familienmitglieder im Tsunami verloren, meist Kinder.

Die Schwestern im Krankenhaus von Lalomanu tun alles, um ihnen zu helfen. Sie sind Seelsorger, sie trösten, hören zu. Schwester Melody ist selbst ein Opfer: Einer ihrer Söhne, ihr Schwager und ihre Schwiegermutter sind in der Flutwelle umgekommen. Ihr selbst hat es geholfen mit anderen über ihre Trauer zu sprechen. "Wir Frauen sind stark", sagt sie trotzig, "nur die Männer machen mir Sorgen."

"Viele Männer haben auch schon früher gerne einen getrunken. Jetzt aber, nach dem Tsunami, trinken sie zu viel. Manche fangen schon morgens an und hören erst tief in der Nacht wieder auf. Der Alkohol ist daran schuld, dass es immer öfter zu häuslicher Gewalt kommt. Auch das ist eine Folge des Tsunamis."

"Gott ist mit uns – wo immer wir auch hingehen." Der Kirchenchor von Lalomanu lobt den Herren. Samoaner sind tief religiöse Christen. Daran hat auch die Flutwelle nichts geändert. Im Gegenteil. Werte wie Gemeinschaft, Respekt und Glauben haben in Samoa den Tsunami unbeschadet überstanden.

"Die Wege des Herrn sind unergründlich", sinniert Ärztin Esmay Ah-Leung Seuala auf der Terrasse ihres neugebauten Hauses, hoch über Lalomanu. Der Blick ist atemberaubend. Links die zwei Kirchtürme, rechts ein Palmenhain, dahinter das türkisfarbene Meer.

Das Stück Land, unten am Strand, auf dem ihre Angehörigen für Generationen gelebt haben, kann sie von dort oben nicht sehen. Aber sie weiß auch so, dass nichts dem Zusammenhalt ihrer Familie etwas anhaben kann. Nicht einmal ein Tsunami. Esmay Ah-Leung Seuala:

"Das war das unerwartete Geschenk dieser Katastrophe: Der Tsunami hat viele Familien wieder oder noch enger zusammengebracht. Erst waren wir in Schock und wollten es erst nicht wahrhaben. Dann aber haben wir unser Schicksal akzeptiert. Wir haben zusammen getrauert und wieder aufgebaut. Das Leben geht weiter."