Ein Jahr nach der Amokfahrt in Volkmarsen

Eine traumatisierte Kleinstadt

14:50 Minuten
Ein Absperrband flattert in Volkmarsen auf der Straße über den Spuren des Tatorts.
Die Einwohner von Volkmarsen leiden noch immer unter den Folgen des Anschlags. © picture alliance / Uwe Zucchi
Von Ludger Fittkau |
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Vor einem Jahr steuerte ein junger Mann sein Auto absichtlich in die Zuschauermenge eines Karnevalsumzugs im nordhessischen Volkmarsen. Der Ort versucht immer noch, mit der Tat umzugehen. Währenddessen schweigt der Täter.
Die Glocke der katholischen Pfarrkirche St. Marien in Volkmarsen schlägt zur vollen Stunde. Auf dem kleinen zentralen Platz zwischen Kirche und Rathaus sind unter Corona-Bedingungen nur wenige im Ort unterwegs. Die Erinnerungen an die Tat wirken immer noch frisch:
"Ich fand das ganz schrecklich. So was kann man auch nicht vermeiden vorher. Wir waren alle tief berührt."
"Wir leben ja auf dem Land hier eigentlich. Man sieht es im Fernsehen, wenn so ein Anschlag oder Unglück ist und dann – zwei Tage später – betrifft es einen selber."

Hessens ranghöchste Ermittler sind am Werk

Oberstaatsanwalt Georg Ungefuk sagt: "Darüber hinaus hat natürlich eine Vielzahl weiterer Menschen psychische Beeinträchtigungen erlitten und ist traumatisiert worden."
Seine Behörde, die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, leitete die Ermittlungen zum Attentat auf den Rosenmontagszug in Volkmarsen am 24. Februar des vergangenen Jahres. Die Staatsanwaltschaft in der Mainmetropole ist die ranghöchste Ermittlungsbehörde Hessens. Dass sie die Ermittlungen übernahm, dokumentiert die Bedeutung des Falles.

Die Anklageschrift ist umfangreich

Zum Interview bittet Ungefuk in sein Büro in Frankfurt. Der 43-Jährige leitet seit Sommer 2020 die Öffentlichkeitsarbeit der Generalstaatsanwaltschaft in der Mainmetropole, die mit den Ermittlungen zum Attentat in Volkmarsen betraut war. Inzwischen hat die Justizbehörde die Untersuchungen zum Tatverdächtigen Maurice P. abgeschlossen und Anklage erhoben:
"Mit der sehr umfangreichen Anklageschrift wird ihm insbesondere zur Last gelegt, am 24.2.2020 sein Fahrzeug ungebremst und mit einer Geschwindigkeit von circa 50 bis 60 Kilometer die Stunde bewusst in die Teilnehmer und Zuschauer des Rosenmontagsumzuges in der nordhessischen Stadt Volkmarsen gesteuert zu haben, um Menschen zu töten."

Das Auto als Waffe

Der Staatsanwalt beschreibt noch einmal detailliert, wie der mutmaßliche Täter die Menschen töten wollte, die den Rosenmontag 2020 unbeschwert in dem knapp 7.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Städtchen Volkmarsen beim dortigen Straßenkarneval genießen wollten:
"Auf einem Straßenabschnitt von etwa 42 Meter soll dann der Angeschuldigte eine Vielzahl von dicht gedrängten Teilnehmern und Zuschauern des Umzuges, unter denen sich auch teilweise viele Kinder befunden hatten, mit seinem Fahrzeug erfasst und verletzt haben und durch diese Zusammenstöße mit dem Fahrzeug des Angeschuldigten sollen nach dem Ergebnis der Ermittlungen 90 Menschen teilweise schwere körperliche Verletzungen erlitten haben. 20 Menschen mussten aufgrund ihrer Verletzungen auch stationär behandelt werden."

Corona erschwert die Betreuung Betroffener

Bis heute ist es vielen Menschen in Volkmarsen nach wie vor unbegreiflich, was hier im Straßenkarneval vor einem Jahr geschah.
"Ich habe selber einen Enkel, der bei der Feuerwehr ist, der dabei war und das gesehen hat. Nicht einfach. Es war furchtbar. Ich glaube im Moment will keiner groß reden, da ist erstmal Stillschweigen. Das hat noch keiner richtig begriffen."
"Wir haben hundert Meter weiter gestanden, das geht einem schon an die Nieren."
"Und natürlich ist es schlimm, weil wir in unserer Nachbarschaft, da ist auch ein Mädchen, was da verletzt war und immer noch zu kämpfen hat."
"Man braucht ja noch Hilfe, und diese Hilfe ist einfach nicht da. Durch unsere jetzige Situation. Ne. Aber ich denke mir, irgendwann wird ja alles ein bisschen mehr gelockert. Und dann werden die, die richtig betroffen sind, auch wieder dahin gehen, wo sie die meiste Hilfe bekommen."
"Es gibt sehr viele umfassende Hilfsangebote hauptamtlicher und ehrenamtlicher Art."
Sagt im Rathaus von Volkmarsen Harmut Linnekugel, der Bürgermeister der Stadt.
"Da wird noch viel Zeit ins Land gehen, ehe diese Wunden hoffentlich vollständig aber zumindest teilweise verheilt sein werden."

Die Gemeinde hält zusammen

Corona erschwert auch die Hilfe, die Helmut Fünfsinn leisten kann. Der ehemalige Leiter der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main ist seit dem Frühjahr 2020 der Opferbeauftragte des Landes Hessen. Er hat sich viel um die Opfer der Attentate von Volkmarsen sowie in Hanau im Februar 2020 bemüht:
"Man kann von Volkmarsen Positives berichten insoweit, als eine wirklich große Solidarität der gesamten Gemeinde da ist. Es ist ein sehr intensives, enges Zusammenstehen, muss man sagen. Die Gemeinde, der Karnevalsverein, die beiden christlichen Gemeinden, die Freiwillige Feuerwehr versuchen, das gemeinsam aufzuarbeiten, soweit es in Coronazeiten geht. Wir sind natürlich auch ab und an vor Ort, aber wir können eher durch Runde Tische helfen bei der Frage, wie behördliche Hilfe von Leistungsträgern gewährt werden kann."

Die psychischen Folgen können lange nachwirken

Finanzielle Unterstützung für Opfer, die unter den Folgen des Anschlages leiden – das ist das eine. Psychologische Hilfe aber ist gerade im Falle Volkmarsen für eine große Zahl von Verletzten oder Zeugen der Tat im Straßenkarneval 2020 unerlässlich.
Etwa für Menschen, denen es auch viele Monate nach der Tat noch schwerfällt, in den Supermarkt zu gehen, in dessen Nähe das Auto in den Rosenmontagszug fuhr, wie eine Anwohnerin schildert. "Ich habe Angst, zum Rewe hochzugehen. Es kommt alles wieder hoch. Ich war bis jetzt noch nicht da oben. Und das wird auch noch eine Weile dauern."
Auch der hessische Opferbeauftragte Helmut Fünfsinn kennt solche Schilderungen: "Da darf man nicht sagen: Ach, es doch jetzt ein Jahr her! Das muss man respektieren, und das muss aufgearbeitet werden. Und diese Lebensbeeinträchtigung ist vielleicht dann auch mindestens so groß wie eine finanzielle Einbuße. Und das muss wirklich angegangen werden. Das wird bisweilen übersehen.
Die Personen, die so etwas noch nicht erlebt haben, gehen da zu schnell drüber hinweg. Das kann lange dauern, vielleicht sogar ein Leben lang und noch mal: Da muss die Gesellschaft bereit sein, das anzuerkennen und zu helfen und das aufzuarbeiten."

Der Täter schweigt

Eine andere schwierige Frage ist die Suche nach den Motiven des mutmaßlichen Täters. Denn Maurice P. schweigt seit der Tat – bis heute. Auch Oberstaatsanwalt Georg Ungefuk sind die Beweggründe unklar:
"Zur Motivlage kann ich ihnen soweit mitteilen, dass sich nach Abschluss der Ermittlungen keine Anhaltspunkte dafür ergeben haben, dass die Tat eine politische Motivation gehabt haben soll. Letztlich hat sich der Angeschuldigte im Ermittlungsverfahren nicht geäußert. Er hat bis heute auch keine Angaben zur Sache gemacht, sodass eine weitergehende Aufklärung, was die Motivation angeht, nicht ohne Weiteres möglich ist."

Das Schweigen erschwert die Aufarbeitung

Bei der Polizei war Maurice P. vor dem Attentat bereits wegen Beleidigung, Hausfriedensbruch und Nötigung bekannt gewesen. Zum Zeitpunkt der Gewalttat hatte er keinen Alkohol getrunken, das hatte ein Bluttest unmittelbar nach seiner Verhaftung ergeben. Auch Hartmut Linnekugel, der Bürgermeister von Volkmarsen unterstreicht, wie sehr die Einwohnerschaft die Frage nach dem Warum auch heute noch umtreibt:
"Das Ereignis 24.02. ist schon noch sehr stark präsent. Die Bürgerschaft oder die Betroffenen warten auf eine Antwort des Täters, die bisher nicht erfolgt ist. Das ist so das große Ungewisse, was die Menschen bewegt."

Neue Sicherheitsmaßnahmen

Während im etwa eine halbe Autostunde entfernten Kassel in diesem Frühjahr der Prozess beginnen wird, will sich die Bürgerschaft in Volkmarsen vom Täter nicht auf Dauer die Lebensfreude nehmen lassen. So hätte es in diesem Jahr wieder einen Rosenmontagszug gegeben, wenn die Corona-Pandemie das nicht verhindert hätte.
Denn Maurice P. soll die Liebe der Bürgerschaft zu ihrem Städtchen nicht auf Dauer zerstören, hört man in Gesprächen immer wieder.
Für die Sicherheit bei künftigen Großveranstaltungen wie Karnevalszügen oder auch Viehmärkten hat Bürgermeister Hartmut Linnekugel gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in der Region zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen vorbereitet, etwa mobile Betonklötze, die auf- und abgebaut werden können:
"Dass die Städte und Gemeinden sich nicht aus der Verantwortung ziehen, wie auch Volkmarsen, Diemelstadt, Bad Arolsen und Diemelsee mit der Gemeinde Bräune aus dem Landkreis Kassel eine Kooperation gegründet haben und gemeinsame entsprechende Sperren der Straßen anschaffen wollen. Das sind teilweise statische Systeme, teilweise manuelle Systeme, die die Umzüge praktisch in eine gewisse Richtung lenken sollen, damit ein Fremdfahrer oder Attentäter so nicht eindringen kann."
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