Die Russen zieht es zum Skifahren nach Sotschi
Russische Ski-Touristen entscheiden sich in diesem Winter vermehrt gegen die Alpen - aus politischen Gründen und wegen der Rubelkrise. Stattdessen fahren sie in den heimischen Urlaubsort Sotschi. Dort hat sich mit den Olympischen Spielen manches verändert.
Auf der Terrasse an der Bergstation oberhalb von Krasnaja Poljana sind alle Plätze besetzt. Die Sonne scheint von einem strahlend blauen Himmel. Der Schnee glitzert. Vom Dach der Skihütte tropft es ein wenig. Alexander Zjudinow und seine Frau Natalja trinken mit einer Freundin Glühwein.
"Wir waren zwei Jahre vor den Olympischen Spielen hier. Da gab es statt Schnee nur Zement und Schuttberge. Es war ein Alptraum. Damals haben wir beschlossen, die nächsten zehn Jahre nicht wieder herzufahren. Nun ist es anders gekommen. Und wir sind zufrieden. Wir wollen nächstes Jahr vielleicht sogar mit unseren Freunden herkommen."
Die drei leben in Moskau. Sie fahren schon seit 30 Jahren Ski und waren bereits an vielen Orten: In Deutschland, Österreich, Italien. Eigentlich wollten sie dieses Jahr in die französischen Alpen. Die Reise war schon gebucht.
"Aber als der Dollar so hochsprang, war uns das zu riskant. Wir haben die Reise Anfang Dezember storniert. Wir hatten Angst, dass wir uns die Nebenkosten nicht leisten können."
"Außerdem wäre es falsch, Europa jetzt so viel Geld in den Rachen zu werfen. Wir wollen lieber die heimische Wirtschaft unterstützen!"
Kunstschnee aus Schneekanonen
Natalja Zjudinowa hat sich auch auf die Olympiapiste in Krasnaja Poljana gewagt, auf der letztes Jahr die Abfahrt der Männer ausgetragen wurde.
"Wir müssen uns nicht schämen für unser Vaterland. Hier kann man gut Ski fahren. Hauptsache, es ist genug Schnee da. Hier können im Januar die Mandarinen blühen. Aber sie haben hier viele Schneekanonen, und die sind sogar im Betrieb, wenn es schneit."
Am Nachbartisch sitzt Sergej. Er kommt aus Ufa in Zentralrussland. Seinen Nachnamen möchte er nicht sagen.
"Sind Sie vom CIA?"
Sergej ist mit Frau und drei Kindern in Sotschi.
"In der Nähe von Ufa gibt es auch ein paar kleine Skigebiete. Aber Sotschi ist neu, wir waren noch nie hier, und wir wollten mal etwas Neues sehen und die Olympiapisten anschauen."
Das Preis-Leistungs-Verhältnis sei in Ordnung, sagt er. Skiurlaub sei nun mal teuer, und man könne ja hier und da sparen.
"Ich versuche, die Ausgaben zu optimieren. Wir nehmen ein Tagesticket, vormittags nutzt das ein Teil der Familie, nachmittags der andere. Das reicht, nach zwei, drei Stunden Skilaufen ist man sowieso müde. In den Restaurants gibt es enorme Preisunterschiede. Man kann auch Günstiges finden."
Während Gemeinden in den Alpen über das Ausbleiben der Russen klagen, waren die Hotels in Krasnaja Poljana während der Neujahrsferien an ein, zwei Tagen sogar ausgebucht. Auch in den Wochen danach sind noch viele Urlauber in den Bergen. Auf Roza Chutor, dem größten Resort, ist etwa jede zweite Gondel besetzt. Doch während der Tourismus in Krasnaja Poljana anläuft – so wie von den Olympiaplanern gewollt, ist es mit der sportlichen Nachnutzung der Olympiastätten noch nicht weit her. Am Hang gegenüber ist die Langlaufarena zu sehen – ungenutzt. Auch die Sprungschanzen sind abgesperrt. Der einzige große Wettkampf in diesem Jahr in Krasnaja Poljana ist die Rennrodel EM Ende Februar, Anfang März. Das sollte sich ändern, meint der Chef von Roza Chutor, Alexander Belokobylskij.
"Sportler, insbesondere den Nachwuchs, hier nicht trainieren zu lassen, wäre natürlich falsch. Wir arbeiten daran. Aber - bei uns wird zum Beispiel die Russische Meisterschaft im Abfahrtsski stattfinden. Und wir stehen in den Plänen des Internationalen Ski-Verbandes für die Alpinen Ski-Juniorenweltmeisterschaften 2016. Natürlich hätten wir auch gern, dass Etappen des Weltcups bei uns stattfinden. Eines Tages werden sie das."
Von Krasnaja Poljana fährt noch immer der eigens für Olympia angeschaffte Regionalzug hinunter an die Küste – allerdings verkehrt er nur noch alle paar Stunden, und die Fahrkarten sind teurer geworden. Der Strand in Adler, jenem Stadtteil am Rande Sotschis, in dem – kompakt an einem Ort – alle Stadien für Olympia gebaut wurden: Für den Eiskunstlauf, das Curling, den Eisschnellauf.
Eine kilometerlange Mauer aus Beton schützt die Bauten vor den Fluten des Schwarzen Meeres. Es sind rund zehn Grad Lufttemperatur. Anatolij war Schwimmen. Jetzt geht er in der nassen Badehose auf den Steinen auf und ab. Er ist weit und breit der einzige am Strand.
"Die Umkleidekabinen sind alle weggeräumt, ich kann mich nicht umziehen. Na ja, vielleicht noch drei Minuten, dann ist sie trocken."
Anatolij war beim Militär und ist bereits Rentner. Er blickt auf die Eisarenen, die sich wie Fremdkörper aus der Ebene erheben. An einem sind Kräne zugange, bauen die Dachkonstruktion ab. Die Stadien sind eingezäunt, nur ab und zu fahren Autos vorbei.
"Ich besuche hier einen Freund. 1981 war ich das erste Mal hier. Da haben hier noch Frösche gequakt, hier war überall Sumpf. Es ist schon enorm, was hier alles gebaut wurde. Und in diese Promenade – meine Güte, da wird auch ein Haufen Geld reingesteckt. Ich bin zehn Tage hier. Ich mag es, wenn es leer ist. Denn ich komme aus Moskau. Da gibt es wirklich mehr als genug Menschen."
Tausende Wohnungen stehen zum Verkauf
Die gestressten und zahlungskräftigen Großstädter sind die Zielgruppe des neuen Sotschi. Tausende Wohnungen und Appartements, gebaut für die Teilnehmer von Olympia, stehen im Stadtteil Adler zum Verkauf oder warten auf Mieter. Dazu kommen tausende Hotelzimmer.
Im Innenhof einer Wohnanlage fährt Tamara Tepferova ihr Töchterchen Polina spazieren. Die große Schwester spielt an einem Klettergerät. Palmen wehen im Wind, an einem Springbrunnen wächst Schilf. Während der Olympischen Spiele war hier Mannschaftspersonal untergebracht. Tamara Tepferova wohnt seit Dezember in der Anlage, zur Miete.
"Wir wollen das ganze Jahr hier verbringen. Verglichen mit Moskau ist der Preis okay. Im Verhältnis zu anderen Regionen zahlen wir doppelt so viel. In Moskau herrscht eine Umweltkatastrophe, das muss man so deutlich sagen. Ich bin in Elternzeit, bis die Kleine drei Jahre alt ist, werde ich sowieso zuhause sitzen, da bin ich lieber hier in der frischen Luft als in Moskau."
In den meisten Wohnungen sind die Gardinen zugezogen. Eine Balkontür steht offen. Von dort blickt ein Yorkshire Terrier hinunter.
"Verglichen mit Kurorten in Kroatien oder Österreich wird hier natürlich wenig geboten. Speziell in diesem Viertel. Es gibt ein paar Läden, ein paar Cafés, aber insgesamt wenig. Uns reicht das aber. Wir fahren einmal in der Woche mit dem Auto in den Supermarkt. Und in Cafés und Restaurants geht man mit kleinen Kindern ja ohnehin nicht oft. Es gibt einen Fitnessclub und ein Schwimmbad, was man braucht, ist also da."
Die Stadt Sotschi arbeitet daran, die Wohnstruktur im Olympiaviertel zu verbessern. Schulen sollen entstehen, Kindergärten. Einige gibt es schon. Ein Stück weiter in der Siedlung Nekrasovka neben dem Olympiapark. Neue Einfamilienhäuser, gepflasterte Bürgersteige, Parkplätze. Ein Kindergarten. Er wurde zwei Jahre vor den Spielen eröffnet, im Rahmen von Olympia. Die Direktorin, Rita Kuksa, zeigt die Räume. Sie sind groß und lichtdurchflutet.
"Vom Musiksaal aus konnten wir jeden Tag die Olympische Flamme sehen. Wir haben ihr jeden Morgen Guten Tag gesagt. Wir sind sehr froh, dass wir in diesem Gebäude sind."
In der Siedlung Nekrasovka leben Einheimische, deren Häuser für die Olympiabauten abgerissen wurden. Auch der alte Kindergarten musste weichen.
"Die Bedingungen dort waren viel schlechter. Wir hatten keine Schlafsäle, wir haben Etagenbetten hin und her geschoben, damit die Kinder mittags schlafen konnten. Hier haben wir große Schlafsäle, einzelne Spielzimmer, den großen Musiksaal. Warmes Wasser bekommen wir über Solarzellen. Und das Gebäude ist behindertengerecht, wir haben einen Aufzug und Rampen, damit auch alle Gäste zu uns kommen können."
Die Direktorin hört gar nicht auf, Olympia zu loben. Die Spiele hätten die Menschen in Sotschi verändert. Sie seien offener, interessierter, aktiver geworden.
"Wir haben eine tolle Uferpromenade bekommen. Dort gibt es einen Fahrradweg. Mir ist aufgefallen, dass die Einheimischen begonnen haben, Sport zu treiben. Viele haben Fahrräder gekauft. Manchmal machen ganze Familien Fahrradrennen. Und sehr viele Leute gehen abends spazieren."
Insgesamt scheinen die Menschen in Sotschi ein Jahr nach den Spielen zufriedener. Lärm und Staub der Baustellen sind Vergangenheit. Aber natürlich gibt es nach wie vor Olympiagegner.
Ein paar hundert Meter weiter gießt Svetlana Beresteneva in ihrer winzigen Küche Kaffee auf. Sie wohnt in einer Art Container. Dahinter steht ein Flachbau mit ein paar sehr einfachen Ferienzimmern. Auf dem Herd fettige Pfannen, in einem Regal Einmachgläser, Zucker gibt es aus einem Marmeladenglas. Svetlana Beresteneva hat gegen die Olympischen Spiele demonstriert, gegen die Enteignungen, gegen die Eingriffe in die Natur. Vor allem hatte sie Angst, dass sie wegen Olympia ihre Feriengäste verliert. So ist es auch gekommen. Eine Zeitlang haben noch Bauarbeiter bei ihr gewohnt.
"Seit die Bauarbeiter weg sind, haben wir keine Gäste mehr. Diesen Sommer waren nur meine Freunde da, von denen wir natürlich kein Geld nehmen. Feriengäste kamen nicht. Die Leute aus Murmansk zum Beispiel, die 20 Jahre bei mir Urlaub gemacht haben, sind gerade mal zwei Tage geblieben, dann sind sie weiter gefahren nach Abchasien. Warum? Sie meinten: Was haben die hier bloß gemacht, alles Beton. Und es sind sehr viele Urlauber deshalb nach Abchasien weiter gefahren."
Die Stadt ist verschandelt - aber der Strom fällt nicht mehr aus
Nach Abchasien sind es nur wenige Kilometer. In der abtrünnigen georgischen Provinz ist der Urlaub erheblich billiger als in Sotschi, aber auch einfacher. Das lockt Urlauber mit schmalem Budget. Andere fahren statt nach Sotschi auf die Krim. Svetlana Beresteneva ist frustriert. Ihr fällt nur eine einzige positive Sache ein, die Olympia gebracht habe:
"Der Strom fällt nicht mehr aus. Gott sei Dank. Das ist aber auch das einzige. Die Stadt ist verschandelt. Und die wissen ja noch nicht mal, was sie jetzt mit den Stadien machen sollen. Dauernd fassen sie neue Pläne. Erst haben sie Milliarden reingesteckt. Jetzt bauen sie es wieder ab. Oder stecken noch mehr Milliarden rein. Was soll das bloß? Wer braucht das alles? Und dafür zahlen doch wir, für den Unterhalt. Wenn sie die Stadien nicht beheizen, vergammeln die."
Sie meint das Fischt-Stadion, in dem vor einem Jahr die Eröffnungsfeier stattfand. Zurzeit bauen Kräne die aufwendige Dachkonstruktion ab. Das kostet Millionen. Es heißt, die FIFA wolle es so, für die Fußball-Weltmeisterschaft 2018. In ein Stadion ist eine Tennis-Akademie eingezogen, in einem anderen trainiert das örtliche Eishockey-Team. Doch davon bekommt man kaum etwas mit, die Bauten sind weiträumig mit Zäunen abgesperrt. Das Olympia-Areal ist eine Geisterstadt, die sich nur von Zeit zu Zeit mit Leben füllt. Zum Beispiel zur Formel 1 im vergangenen Herbst. Da kamen zigtausende Zuschauer. Auch Einheimische.
Im vergangenen Jahr haben Politiker und Funktionäre außerdem alle möglichen nicht sportlichen Veranstaltungen nach Sotschi geholt: ein Festival für Robotertechnik, ein Folklorefest zum Beispiel. Meist wurden die Veranstaltungen aus öffentlichen Geldern finanziert. Anwohner erzählen, dass viele Eintrittskarten kostenlos ausgegeben wurden. Angesichts der drohenden Rezession in Russland fragen Skeptiker aber, wie lange es sich der Staat noch leisten kann, das Prestigeprojekt Sotschi derart zu subventionieren. Bürgermeister Anatolij Pachomov sitzt vor einem Porträt Wladimir Putins und einem Dmitrij Medwedews und verbreitet Optimismus.
"Die Belastungen sind aufgeteilt zwischen der lokalen, der regionalen und der föderalen Ebene. Wir haben Geld. Die Wirtschaft läuft vielleicht nicht so gut, wie wir es gern hätten. Aber die sozialen Maßnahmen hier und der Unterhalt der Eisarenen sind gewährleistet."
Als die Verantwortlichen die Olympischen Spiele in Sotschi planten, hieß es immer, der Ort solle einmal auch Urlauber aus Europa anziehen. Bürgermeister Pachomenko hofft noch immer darauf, zum Beispiel auf Russlanddeutsche aus Sotschis Partnerstadt Baden Baden.
"Kommen Sie. Sie sind herzlich willkommen. Wir werden die Kontakte fortsetzen. Das hat ja mit Politik nichts zu tun."
Dann zeigt er einen Stoß Zettel: Das Besuchsprogramm für eine 40-köpfige Delegation aus China, mit Regierungsvertretern, Tourismusmanagern und Journalisten.
"Die Chinesen und die Iraner haben großes Interesse an Sotschi. Die Kontakte sind da, der Prozess läuft."