Man darf - obwohl die Taliban in Afghanistan regieren - nicht einfach die Bevölkerung des Landes im Stich lassen. Man kann nicht mehr als 30 Millionen Menschen leiden lassen, die ohnehin schon leiden, weil sie von den Taliban regiert werden.
Ein Jahr Taliban-Machtübernahme
"Man kann die Lage der Ortskräfte, die unter den Taliban teilweise gefoltert und umgebracht wurden, nicht schönreden", sagt EU-Parlamentarier Erik Marquardt.
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Das Desaster der afghanischen Ortskräfte
22:44 Minuten
Am 15. August jährt sich die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Tausende Ortskräfte, die den Deutschen, der Bundeswehr geholfen haben, sitzen immer noch vor Ort fest und bangen um ihr Leben. Wer trägt die Verantwortung für diese Situation?
Die Evakuierungsmission der Deutschen im August und Anfang September 2021 in Kabul sei ein Desaster gewesen, sagt der asylpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Europaparlament Erik Marquardt.
Man habe es nicht geschafft, die eigenen Versprechen zu halten, stellt der 34-jährige Politiker fest, der sich schon lange für Geflüchtete aus Afghanistan engagiert und nach eigenen Angaben vor einem Jahr vor Ort hautnah miterlebt hat, was bei dem Versuch, Deutsche und ihre Ortskräfte vor den Taliban zu retten, nicht funktioniert hat: Das sei leider ziemlich viel gewesen.
Betroffen sei hier aber nicht nur Deutschland, sondern die internationale Gemeinschaft insgesamt.
"Ein Desaster, für das man sich schämen muss"
Deshalb sei es gut, dass es jetzt die Möglichkeit gebe, dieses „Desaster, für das man sich als Bundesrepublik Deutschland schämen muss“ in einem Untersuchungsausschuss des Bundestages aufzuarbeiten und dafür zu sorgen, dass solche Missionen in Zukunft besser verlaufen könnten.
Es sei schwierig, genau zu beziffern, wie viele deutsche Ortskräfte heute noch in Afghanistan festsitzen, so der Europarlamentarier. Man wisse nicht genau, wer in den letzten 20 Jahren für deutsche Ministerien und vor allem für deren Subunternehmen gearbeitet hat. Den Taliban sei es ohnehin egal, wer genau den Vertrag ausgestellt hat.
Da man nicht genau wisse, wie viele Menschen betroffen sind, sei es umso wichtiger, das Ortskräfteverfahren zu reformieren und zu schauen, wer sich bei welcher gut kommunizierten Stelle melden könne, die dann zu verifizieren habe, ob die Angaben stimmen.
Deutsches Ortskräfteverfahren mit Hindernissen
Das deutsche Ortskräfteverfahren war, laut Marquardt, mit Absicht nicht besonders funktional. Jahrelang hätten die Deutschen ihren Ortskräften erklärt, sie müssten – auch wenn sie gefährdet waren – in Afghanistan bleiben, weil sie den Antrag auf Aufnahme in Deutschland nur dort stellen könnten. So seien diese faktisch vor Ort gefangen gewesen, weil es keinen alternativen Weg aus dem Land gab.
Viele andere Nationen dagegen richteten ihr Ortskräfteverfahren so ein, dass man auch in den Nachbarländern Schutz beantragen kann, wenn man gefährdet ist. Sich erst mal kurzfristig in Sicherheit zu bringen, das mache ja auch Sinn, erklärt der grüne Asylexperte. Solche Änderungen müssten jetzt gemacht werden, fordert er.
Das bisherige Ortskräfteverfahren sei seit mehr als zehn Jahren darauf ausgerichtet gewesen, dass Menschen nicht leicht nach Deutschland kommen konnten. Man habe – solange es nicht viel Aufmerksamkeit für das Thema gab – dafür sorgen wollen, dass die Menschen möglichst in Afghanistan blieben, unabhängig davon, ob sie beispielsweise wegen einer Arbeit für die Deutschen eventuell gefährdet waren.
„Das ist ein Umgang mit der eigenen Verantwortung, der nicht geht“, kritisiert Marquardt. Deshalb müsse dieses Vorgehen jetzt reformiert werden.
Neue Bundesregierung ist in der Verantwortung
Es helfe auch nicht weiter, mit dem Finger auf die vormals regierende Große Koalition als Verantwortliche zu zeigen. Jetzt sei die aktuelle Bundesregierung verantwortlich, dafür zu sorgen, dass Menschen, die in Afghanistan für die Deutschen tätig waren und gefährdet sind, in Sicherheit gebracht werden.
Es sei richtig, dass jetzt daran gearbeitet werde, auch wenn es ihm persönlich – so Marquardt – etwas zu langsam vorangehe. So sei es gut, dass die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in Pakistan war und dass in diesem Jahr schon viele Ortskräfte evakuiert wurden.
Die aktuellen Lebensumstände für Ortskräfte in Afghanistan stellten sich im Moment sehr unterschiedlich dar. Die bekannten unter ihnen, die sich auch öffentlich exponiert hätten, seien besonders gefährdet, müssten sich verstecken und häufig ihren Aufenthaltsort wechseln. Denunziantentum derer, die den Taliban nahestehen, spiele dabei auch eine Rolle. Man müsse sich aber bei der Bewertung der Lage der Ortskräfte immer den Einzelfall anschauen.
"Es gibt ohne Zweifel Racheakte an Ortskräften"
Es gebe ohne Zweifel Racheakte der Taliban an Ortskräften, sagt Erik Marquardt, genauso wie auch an Menschen, die für Demokratie sowie für Menschen- und Frauenrechte kämpfen.
„Man kann die Lage der Ortskräfte, die so lange für uns gearbeitet haben und jetzt unter den Taliban leiden, die teilweise gefoltert und umgebracht wurden, nicht mehr schönreden“, kritisiert er. „Man kann jetzt nur noch dafür sorgen, dass so etwas in Zukunft nicht mehr passiert.“
Als Konsequenz fordert er, Einfluss auf die Taliban zu nehmen, damit diese sich zumindest an ein paar Grundregeln des Zusammenlebens im 21. Jahrhundert halten.
(ik)