Poroschenko zwischen Krieg und Krisen
Die Bilanz von Petro Poroschenkos erstem Jahr als Präsident der Ukraine ist enttäuschend: Die Wirtschaftsleistung ist eingebrochen, die Schulden stark gestiegen und der Krieg in der Ostukraine dauert an. Sein Rückhalt im Volk ist zwar noch groß, doch Beobachter üben vielfache Kritik.
Die Glocken der Kiewer Sophienkathedrale künden von der Inauguration des Präsidenten. Das Land hat ein neues Staatsoberhaupt - Petro Poroschenko.
Frau in Straßenumfrage: "Die Hoffnung in ihn war sehr groß. Und das Vertrauen. Aber die Lage im Osten macht es ihm schwer. Ohne die Situation im Osten würden die Reformen sehr viel schneller vorankommen, wäre alles viel leichter. Solange kein Frieden herrscht, denken wir nur das eine: Wann kommt er?"
So wie Juliane Gurchumelia aus Uschgorod in den ukrainischen Karpaten halten sich immer noch viele, die für Poroschenko gestimmt haben, mit Kritik zurück. Sie geben die Ukraine nicht verloren, genau wie Artjom Oscheljanjenko aus dem Tscherkasser Gebiet oder Sergej Losjen aus Poltawa. Krieg und Krise zum Trotz.
Mann in Straßenumfrage: "Ja, wir kommen langsam voran. Langsam, aber sicher. Es ist sehr schwer, denn die Ukraine ist in einer verzweifelten Lage. Aber wir verlieren nicht die Hoffnung, denn wir wissen, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen."
Mann in Straßenumfrage:
"Die Gesellschaft hat sich geändert, sie ist jetzt viel organisierter und patriotischer. Früher war es schwer, jemanden zu etwas zu bewegen, aber jetzt entwickeln wir Eigeninitiative. Nehmen sie die vielen Freiwilligen oder die Spenden-Basare. In anderthalb Jahren wird es aufwärts gehen."
In Kiew wurden am 7. Juni 2014 keineswegs die Totenglocken geläutet. Denn noch ahnte niemand, dass ein Jahr später fast 7000 Menschen während der Schlachten um die Ostukraine gefallen sind und der Krieg andauert.
Kein ukrainischer Präsident hat sein Amt unter derart schwierigen Bedingungen angetreten: Als Petro Poroschenko im Kiewer Parlament vereidigt wurde, waren bereits Opfer in den Auseinandersetzungen mit den prorussischen Separatisten zu beklagen. Poroschenko bot deshalb als Erstes einen Friedensplan an. Die prorussischen Kämpfer sollten die Waffen niederlegen, wer kein Blut an den Händen habe, werde amnestiert, russische Söldner sollten die Ostukraine durch einen Fluchtkorridor verlassen können. Eigens an die Landsleute im Osten wandte er sich auf Russisch und versprach:
Poroschenko bei der Amtseinführung: "Ich werde sehr bald zu Ihnen reisen und Frieden mitbringen und ein Projekt zur Dezentralisierung der Staatsmacht. Ich werde Ihnen garantieren, dass Ihr die russische Sprache frei verwenden könnt. Ich werde die Ukrainer nicht in richtige und falsche teilen. Ich werde die Besonderheiten der einzelnen Regionen achten. Sie haben ein Recht auf ihre Sicht auf die Geschichte, auf ihr Helden-Pantheon und ihre religiösen Traditionen."
"Das Volk legt die Latte sehr hoch"
Poroschenko forderte aber auch die besetzten Gebiete zurück, einschließlich der Krim. Er wusste dabei die Mehrheit der Ukrainer hinter sich. Doch der neue Präsident machte sich keine Vorstellungen vom Ausmaß der bevorstehenden Kämpfe. Die neugeschaffene Nationalgarde, die gerade entstehenden Freiwilligenverbände und die bis dahin noch desolate ukrainische Armee fanden sich in einem ausgewachsenen Krieg wieder. Gegen Separatisten, die von Moskau angeleitet, aufgerüstet und mit Kämpfern aus Russland unterstützt wurden. Der russische Präsident leugnet die Beteiligung des Geheimdienstes FSB und der regulären russischen Armee bis heute. Ob er Vertrauen in Wladimir Putin habe, fragte kürzlich ein britischer Fernsehjournalist Petro Poroschenko:
"Vertrauen? Nein. Aber ich habe keine Option. Allerdings glaube ich nicht, dass die Befreiung unseres Territoriums auf militärische Weise erreicht werden kann. Außerdem: Ich bin der Präsident des Friedens. Ich tue alles, um den Frieden zu erhalten. Ich würde gern klar sagen: Das ist kein Kampf gegen von Russland unterstützte Separatisten, das ist ein richtiger Krieg mit Russland."
Die Leiterin der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kiew findet, dass das ukrainische Staatsoberhaupt den Mund mitunter zu voll nimmt und damit unnötig riskiert, seine Glaubwürdigkeit einzubüßen.
Miriam Kosmehl: "Er hat die Tendenz, Dinge zu sagen, die schlicht blödsinnig sind und die von den Leuten auch so aufgefasst werden. Das fing damit an, als er Präsident wurde und gesagt hat, dieser Krieg sei in zwei Wochen vorbei. Da wusste jeder, das ist in keiner Weise haltbar.
Neulich hat er gesagt, die ukrainischen Streitkräfte seien die besten Europas. Das hat er mehrfach gesagt. Das empfinden die Leute, nach allem, was passiert ist und nach allem, was bekannt ist über die Zustände der ukrainischen Armee, wo Freiwillige sich ihre Ausrüstung selber zusammensammeln müssen, wo Büros Geld sammeln, damit Leute, die eingezogen werden, überhaupt eine schusssichere Weste mit dabei haben oder einen vernünftigen Helm oder vernünftige Schuhe - das empfinden die Leute als Hohn."
Die Ukraine steht vor der Staatspleite, konnte monatelang das von Russland importierte Erdgas nicht bezahlen. Die überraschend milden Temperaturen halfen, den Winter trotz kalter Heizungen zu überstehen. Die Bürger sind bereit, zu frieren, den Gürtel enger zu schnallen, solange sie sicher sein können, dass es nach dieser Durststrecke aufwärts geht. Doch eines dulden sie schon jetzt nicht mehr: die allgegenwärtige Korruption. Oleksij Chmara registriert seit vielen Jahren schon das Ausmaß von Bestechung und Bestechlichkeit in der Wirtschaft und den staatlichen Institutionen. Er leitet den ukrainischen Ableger von Transparency international. Die Ungeduld seiner Landleute kann er zwar verstehen, doch er warnt davor.
"Das Volk legte die Latte nach dem Maidan sehr hoch. Die korrupten Beamten bestrafen und entlassen, die Korruptionsmechanismen liquidieren, niemandem mehr die Möglichkeit gewähren, Geld aus dem Staatshaushalt zu stehlen – das alles sollte in einem Jahr bewerkstelligt sein. Aber das kann nur ein Diktator schaffen. Ein Diktator mit absoluter Macht, der Leute ohne Gerichtsverfahren erschießen lässt. Möglich wäre es natürlich auch in konsolidierten Machtverhältnissen."
Das kleinere Übel statt Wunschkandidat
Doch von konsolidierter Macht und Gewaltenteilung ist die Ukraine noch weit entfernt. Im Verwaltungsapparat, den Ministerien, der Polizei sitzen Beamte, die immer noch die Janukowitsch-Zeit zurückwünschen und der neuen Regierung gegenüber illoyal sind. Die Korruption ist für mögliche Partner wie der Europäischen Union der größte Abschreckungsfaktor.
Zwar wollen 52 Prozent der Ukrainer – und damit so viele wie noch nie – Mitglied der EU werden, doch die hat kürzlich auf dem Rigaer Gipfel klargestellt: Die Östliche Partnerschaft führt keineswegs geradlinig in die EU-Mitgliedschaft. Allein die nötigen Reformen für die Erlangung des visafreien Reiseverkehrs hat die Ukraine nicht umgesetzt, ganz zu schweigen von den Auflagen des EU-Assoziierungsabkommens, das Ministerpräsident Arsenij Jazeniuk unterschrieb. Das Land ist auf dem Weg zu Reformen, könnte aber viel weiter sein, gesteht der Verfassungsrechtler Ihor Koliuschko vom Zentrum für politische Reformen:
"Wir haben in dem zurückliegenden Jahr ungefähr 50, vielleicht 60 Prozent der Reformen auf den Weg gebracht, die möglich gewesen wären. Es fehlen die Reformen für die Dezentralisierung der Macht, für den Aufbau des Staatsapparates, das Wahlgesetz. Und die Reform der Justiz, also das Fundament von allem."
Anders als der regierungsunabhängige Verfassungsrechtler klingt der ukrainische Korruptionswächter von Transparency etwas zufriedener. Zumindest solange es um den Antikorruptionskampf geht.
Chmara: "Es wurde ein ganzes Paket, ein ganzer Komplex von Antikorruptionsgesetzen und Maßnahmen verabschiedet."
Die jetzt umgesetzt werden müssen. Die Bürger haben wenig Vertrauen in die Politik, Poroschenko war für viele Wähler kein Wunschkandidat, sondern lediglich das kleinere Übel. Noch immer warten sie darauf, dass wenigstens den schlimmsten Kleptokraten der abgesetzten Regierung der Prozess gemacht wird.
Chmara: "Die Europäische Union hat Konten von Leuten des Janukowitsch-Regimes eingefroren. Für ein Jahr. Mit der Aufforderung, innerhalb eines Jahres Beweise dafür vorzulegen, dass es sich um Bestechungsgelder handelt. In diesem Jahr haben die Regierung und die Generalstaatsanwaltschaft keinerlei Informationen geliefert. Inzwischen werden die Sanktionen gegen die ukrainischen Verdächtigen wieder aufgehoben. Das ist ein großes Minus in der Bilanz von Präsident Poroschenko."
Der renommierte Verfassungsrechtler Ihor Koliuschko sieht eindeutige Defizite im Machtverständnis des Präsidenten. Poroschenko habe sich das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung nicht wirklich zueigen gemacht:
"Der Präsident denkt wie seine Vorgänger: Er will die Justiz unter seiner Kontrolle halten. Er begründet das mit den nötigen Reformen und dass man diese Richter nicht unabhängig handeln lassen kann. Das, was als Signal in der Gesellschaft ankommt ist, dass die Regierung Einfluss auf die Justiz haben möchte, vielleicht zivilisierter als die frühere, vielleicht auch versteckter. Aber so kommt die Justizreform nicht in dem Maße voran, wie es nötig wäre."
Buchstäblich in aller Munde
Auch Miriam Kosmehl von der Naumann-Stiftung in der Ukraine unterstellt Poroschenko zwar keine Blockadehaltung. Als wahren Reform-Motor könne man den knapp 50-Jährigen aber auch nicht bezeichnen:
"Er reformiert nicht mit Passion und Entschlossenheit. Ein Beispiel ist die Einsetzung des Leiters des Anti-Korruptionsbüros. Das ist die wichtigste und zentrale Korruptionsbekämpfungsbehörde, die zuständig ist für Staatsbedienstete und auch für die Kontrolle der Umsetzung des wichtigen Lustrationsgesetzes. Und da hat sich die Einsetzung des Leiters lange dadurch verzögert, dass er jemanden wollte, den die Zivilgesellschaft nicht wollte. Die Zivilgesellschaft hat sich letztendlich durchgesetzt. Aber das ist ein gutes Beispiel dafür, dass er nicht in erster Linie an die zentralen Stellen profilierte Reformer setzt, sondern Leute, die seine Vertrauenspersonen sind. Und dieses sogenannte 'Gesetz der Nähe' ist zwar in der Ukraine weit verbreitet, ist aber auch etwas, was man mit ihm in Verbindung bringt."
Poroschenko ist buchstäblich in aller Munde. Roshen, die gleichnamige Schokoladenmarke, verkauft sich in der Ukraine und auch in Russland seit Jahren bestens. Aber gleichzeitig ist die Schokoladenfabrik Poroschenkos wunder Punkt. Hatte er doch noch vor Amtsantritt versprochen, diese und andere Firmen zu verkaufen, um Interessenskonflikte als Unternehmer und Politiker zu vermeiden. Immer wieder muss er sich Nachfragen gefallen lassen, was aus seiner Ankündigung geworden ist.
Poroschenko: "Es gibt kaum jemanden, der mehr an der Erfüllung seiner Versprechen interessiert ist als ich. Wir haben eine der besten Firmen gefunden, nämlich Rothschild, die weltweit Unternehmen verkauft. Mit ihr wurde vereinbart, dass ich kein Recht mehr habe, mich in Firmenangelegenheiten einzumischen. Sobald in der Ukraine wieder Frieden herrscht, wird es wieder Investoren geben. Außerdem behindert die russische Regierung die Verkaufsbemühungen."
Tatsächlich wird die Produktionsstätte im russischen Lipezk immer wieder durchsucht, zuletzt im April, als OMON-Spezialkräften des russischen Innenministeriums anrückten. Ein Uniformierter schiebt ein Eisentor zu und schickt Besucher fort:
"Bitte gehen sie zum Haupteingang, dort gibt es Informationen."
Verdacht auf Steuerhinterziehung heißt es jeweils von russischer Seite, danach verläuft die Sache regelmäßig im Sande oder aber Roshen-Konfekt wird mit einem Importverbot belegt wie im sogenannten Bonbon-Krieg 2013. Der Verfassungsrechtler Ihor Koliuschko, der Gesetze für Reformen erarbeitet, hat in puncto Firmenverkäufe Verständnis für den Präsidenten:
"Auf der einen Seite war es richtig, anzukündigen, seine Geschäfte zu verkaufen. Aber ich verstehe auch, dass das jetzt, da niemand in unserem Land Geld investieren will, nicht so einfach ist. Und alles einfach nur billig wegzugeben, ist doch auch kein Weg."
Poroschenko mangelt es an Verbündeten
Außerhalb der politischen Arena warten die alten Konkurrenten. Zum Beispiel Igor Kolomojskij aus Dnepropetrowsk, den er als Gouverneur gerade abgesetzt hat. Wichtigster Herausforderer aber ist und bleibt der reichste Mann der Ukraine Rinat Achmetow. Viele seiner Kohlegruben, Hüttenwerke und Stahlbetriebe liegen in dem von den Separatisten besetzten Gebiet.
Anders als die Bergwerke um Donezk herum, die schließen mussten, konnte der Betrieb in Mariupol bislang aufrechterhalten werden. Juri Ruban von Poroschenkos Präsidialadministration erklärt, warum die Produktion dort noch möglich ist, obwohl in der Nähe der Hafenstadt trotz des Minsker Friedensabkommens seit Monaten fast ununterbrochen gekämpft wird:
"Dass er überhaupt noch Geld verdient, verdankt er den Freiwilligen, die Mariupol schützen, wo zwei seiner großen metallurgischen Kombinate stehen. Wenn Mariupol an die Separatisten fällt, ist es mit Achmetow ganz vorbei."
Kolomojski, ebenfalls milliardenschwer mit einem Gemischtwarenladen aus Banken, einem Fernsehsender und Öl- und Gasförderbetrieben, gilt als Schlitzohr. Aber Kolomojskij stand seit der Flucht von Viktor Janukowitsch aus dem Präsidentenamt auf Seiten der neuen Kiewer Regierung. Er finanzierte Freiwilligenbataillone, um die Besetzung von Dnepropetrowsk durch Separatisten zu verhindern. Anders als Achmetow, der lavierte, sich nicht positionierte und nun demontiert wird
"Achmetow mag der große Verlierer sein, doch vor allem hat das Land, die Ukraine verloren",
sagt Juri Ruban, Politologe in der Poroschenko-Verwaltung.
"Er hat geglaubt, er könnte sich sowohl mit Kiew als auch den Separatisten gutstellen und sein Spiel spielen. Er hat nicht verstanden, mit wem er es bei Putin zu tun hat. Achmetow war es, der die Partei der Regionen schuf, der sie finanzierte, der bis zum Schluss Janukowitsch und dessen wahnsinnige Politik unterstützte. Und als es dieses Machtvakuum gab, hat er versucht, es für sich zu nutzen. Jetzt ist er der Verlierer, festgenagelt in Kiew, kann weder nach Donezk noch nach Lugansk fahren. Weil dort jetzt andere das Sagen haben. Und seine Funktionäre aus der Partei der Regionen sitzen auch in Kiew."
Achmetow, bislang Energie-Monopolist kann seine Tage zählen, sagt der Poroschenko-Mann. Die Energiekommission habe ihre Arbeit aufgenommen. Im Donbass pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass Achmetow die Separatisten bestochen haben soll, damit die seine Betriebe bei den Kämpfen verschonen. Noch immer soll Achmetow auch die ehemalige Janukowitsch-Partei finanzieren, die nun unter neuem Namen die Oppositionsbank im Parlament drückt.
Chmara: "Der Oppositionsblock, das ist die alte Janukowitsch-Partei der Regionen, wendet sich heute speziell an die armen Ukrainer, und macht sich deren Unzufriedenheit zunutze für ihre revanchistischen Pläne. Deswegen ist alles möglich. Die Regierung muss den Menschen sagen, was sie vorhat. Wenn Poroschenko den Menschen etwas verheimlicht, werden sie böse werden und ziehen wieder auf den Maidan im kommenden Herbst oder Winter."
Ob die politische Kraft von Präsident Poroschenko ausreicht, um das Land zusammenzuhalten, ist fraglich. Denn dem schwergewichtigen Mann aus der ukrainischen Provinz mangelt es zwar nicht an Machtwillen, aber an Verbündeten, befürchtet der Autor zahlreicher Reformgesetze, Ihor Koliuschko:
"Er war eine eigenständige Figur, ein Kompromiss. Erst im Amt hat er seine Partei gegründet. Aber der Block Petro Poroschenko versammelt zu viele unterschiedliche Leute, deswegen ist er keine stabile politische Kraft. Insofern wird er auch nicht lange an der Macht bleiben, andererseits gibt es derzeit keinen Konkurrenten. Alle, die derzeit in der Politik in Frage kämen, sind deutlich schlechter."